Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 26.10.2017, B 8 SO 11/16 R

Sozialhilfe für Deutsche im Ausland - Leistungsausschluss - Ausnahme - Rechtsanspruch bei Vorliegen aller Tatbestandsvoraussetzungen - Unmöglichkeit einer Rückkehr ins Inland - Pflege und Erziehung eines Kindes - Rückkehrhindernis für das minderjährige Kind bei fehlendem Rückkehrwillen der sorgeberechtigten Eltern - außergewöhnliche Notlage - fehlende Mittel zur Sicherstellung der Teilhabe an einer angemessenen Schulbildung - Unabweisbarkeit von Sozialhilfeleistungen

Leitsätze

Minderjährigen Deutschen, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, kann im Einzelfall Sozialhilfe zur Sicherstellung einer nach den dortigen Verhältnissen angemessenen Schulbildung gewährt werden.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Januar 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit ist nur noch die Gewährung von Sozialhilfe für Deutsche im Ausland nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII).

Der 2006 in H. geborene Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Nach der Scheidung seiner Eltern im Jahr 2007 zog er mit seiner Mutter, die das alleinige Sorgerecht und die bulgarische Staatsangehörigkeit besitzt, nach P. (Bulgarien). Im Januar 2010 beantragte er erfolglos Leistungen der Sozialhilfe (Bescheid vom 16.2.2010; Widerspruchsbescheid vom 9.6.2010). Die hiergegen erhobene Klage hatte keinen Erfolg (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts <SG> Hamburg vom 11.4.2013; Urteil des Landessozialgerichts <LSG> Hamburg vom 28.1.2015). Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt, der Kläger sei gemäß § 24 Abs 1 Satz 1 SGB XII von Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen, weil er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Bulgarien habe. Der Leistungsausschluss sei verfassungs- und europarechtlich nicht zu beanstanden. Die Voraussetzungen des Ausnahmetatbestands gemäß § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII seien nicht erfüllt, weil eine Rückkehr des Klägers nach Deutschland möglich sei. Der Hinderungsgrund der Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss, liege in seiner Person nicht vor. Es könne offenbleiben, ob dieser Hinderungsgrund im Falle des Klägers analog anzuwenden sei, weil es beim Kläger bzw seiner Mutter an dem nach Wortlaut und Zweck der Norm zu fordernden Willen fehle, nach Deutschland zurückzukehren. Zudem fehle die erforderliche außergewöhnliche Notlage. Denn der Kläger decke seinen Lebensunterhalt einschließlich der Unterkunft und Heizung mit Mitteln aus Unterhaltszahlungen und Kindergeld. Mehrbedarfe würden von seinen ebenfalls in Bulgarien lebenden Großeltern oder von seiner Mutter mit geliehenem Geld gedeckt.

Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII sowie seiner Grundrechte auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 Grundgesetz <GG>), auf staatliche Gewährleistung der elterlichen Pflege und Erziehung (Art 2 Abs 1 iVm Art 6 Abs 2 Satz 1 GG) und des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art 3 Abs 1 GG). Es liege ein Hinderungsgrund analog § 24 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB XII vor. Ein Rückkehrwille sei nicht zu fordern, weil ihm die Bildung und Betätigung eines solchen Willens rechtlich und tatsächlich nicht möglich sei und nicht auf den Willen einer anderen Person abgestellt werden dürfe. Eine außergewöhnliche Notlage liege vor. Als Minderjähriger sei er nicht in der Lage, seine existenziellen Bedürfnisse, zu denen auch das Recht auf eine angemessene Schulbildung gehöre, aus eigener Kraft zu befriedigen. Bei grundrechtskonformer Auslegung sei eine außergewöhnliche Notlage auch anzunehmen, wenn im Ausland die Gewährleistung des Existenzminimums oder der elterlichen Pflege und Erziehung gefährdet sei.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 28. Januar 2015 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Hamburg vom 11. April 2013 sowie den Bescheid der Beklagten vom 16. Februar 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9. Juni 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger für die Zeit ab Januar 2010 Sozialhilfe zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>).

Gegenstand des Verfahrens ist der Bescheid vom 16.2.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 9.6.2010 (§ 95 SGG), mit dem es die Beklagte abgelehnt hat, dem Kläger Sozialhilfe zu gewähren. Hiergegen wendet sich der Kläger zulässigerweise mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4, § 56 SGG), gerichtet auf Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG). Wie dem Wortlaut des § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII zu entnehmen ist ("kann"), stehen Leistungen der Sozialhilfe für Deutsche im Ausland im Ermessen des Sozialhilfeträgers (vgl Hohm in Schellhorn/Hohm/Scheider, SGB XII, 19. Aufl 2015, § 24 RdNr 20; Berlit in LPK-SGB XII, 10. Aufl 2015, § 24 RdNr 1; Groth in Rolfs/Giesen/Kreikebohm/ Udsching, BeckOK Sozialrecht, § 24 SGB XII RdNr 7, Stand 1.12.2017; Decker in Oestreicher, SGB II / SGB XII, § 24 SGB XII RdNr 45, Stand Einzelkommentierung Juni 2016; Bieback in Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Aufl 2014, § 24 RdNr 27; Coseriu in juris-PK SGB XII, 2. Aufl 2014, § 24 RdNr 44; Nr 5.2.2 des Leitfadens für Leistungen an Deutsche im Ausland nach dem SGB XII der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Träger der Sozialhilfe; vgl auch BT-Drucks 12/4401 S 85). Liegen die Tatbestandsvoraussetzungen des § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII jedoch vor, müssen einem Deutschen mit gewöhnlichem Aufenthalt im Ausland dem Grunde nach Leistungen der Sozialhilfe gewährt werden; damit korrespondiert ein Anspruch (subjektiv-öffentliches Recht) des Hilfesuchenden. Denn die Tatbestandsvoraussetzungen des § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII - insbesondere die Unabweisbarkeit von Leistungen wegen einer außergewöhnlichen Notlage und die nachgewiesene Unmöglichkeit einer Rückkehr in das Bundesgebiet - sind so restriktiv formuliert, dass auf der Rechtsfolgenseite keine Erwägungen mehr denkbar sind, die gleichwohl einen Verweis auf den Leistungsausschluss nach § 24 Abs 1 Satz 1 SGB XII rechtfertigen könnten. Für eine Ermessensentscheidung hinsichtlich des "Ob" der Leistungserbringung wäre daher kein Raum (Schlette in Hauck/Noftz, SGB XII, § 24 RdNr 34, Stand 9/2016; Decker, aaO, § 24 SGB XII RdNr 45; für ein im Regelfall auf Null reduziertes Entschließungsermessen Hohm, aaO, § 24 RdNr 20; Berlit, aaO, § 24 RdNr 14; Groth, aaO, § 24 RdNr 7; Bieback, aaO, § 24 RdNr 27; Coseriu, aaO, § 24 RdNr 44). Ein Entscheidungsspielraum verbliebe dem Sozialhilfeträger lediglich hinsichtlich des "Wie" der Leistungserbringung, also der konkreten Ausgestaltung der Hilfe nach Art und Maß (§ 24 Abs 3 iVm § 17 Abs 2 Satz 1 SGB XII; vgl Schlette, aaO, RdNr 34; Coseriu, aaO, § 24 RdNr 44). Ein Rechtsanspruch iS des § 130 Abs 1 Satz 1 SGG ist auch im Fall einer Ermessensreduzierung auf Null möglich (vgl BSGE 109, 293 = SozR 4-3250 § 17 Nr 2, RdNr 18).

Der angegriffene Bescheid ist formell rechtmäßig. Insbesondere ist die Beklagte für die Erbringung der streitigen Leistungen örtlich und sachlich zuständig. Für Sozialhilfe für Deutsche im Ausland ist nach § 24 Abs 4 Satz 2 SGB XII der durch Landesrecht bestimmte (§ 3 Abs 3 SGB XII) überörtliche Träger der Sozialhilfe zuständig, in dessen Bereich die antragstellende Person geboren ist. Der Kläger ist in H. geboren. Landesrechtliche Regelungen zur Bestimmung des überörtlichen Sozialhilfeträgers existieren nicht. Als Stadtstaat ist die Beklagte sowohl örtlicher als auch überörtlicher Sozialhilfeträger (Luthe in Hauck/Noftz, SGB XII, Stand März 2016, § 3 RdNr 14). In der nach § 101 SGB XII erlassenen Anordnung zur Durchführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (AO-SGB XII) vom 19.9.2006 (Amtl Anz 2006, 2329) hat die Beklagte als zuständige Behörde im Grundsatz die Bezirksämter - für die Aufgaben nach § 24 und § 133 SGB XII (Übergangsregelung für besondere Hilfen an Deutsche nach Art 116 Abs 1 GG) das Bezirksamt Wandsbek (Abschnitt I Abs 4 Nr 5 AO-SGB XII-Anordnung zur Durchführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch) - bestimmt. Sozial erfahrene Dritte waren vor Erlass des Widerspruchsbescheids nicht zu beteiligen (§ 116 Abs 2 SGB XII iVm Gesetz zu § 116 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 1.9.2005 - HambGVBl S 385).

Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat die materielle Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids nicht abschließend beurteilen. Nach § 24 Abs 1 Satz 1 SGB XII (in der bereits zum 1.1.2004 in Kraft getretenen Fassung des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das Sozialgesetzbuch vom 27.12.2003, BGBl I 3022) erhalten Deutsche, die ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland haben, keine Leistungen. Hiervon kann nach § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII im Einzelfall nur abgewichen werden, soweit dies wegen einer außergewöhnlichen Notlage unabweisbar ist und zugleich nachgewiesen wird, dass eine Rückkehr in das Inland aus folgenden Gründen nicht möglich ist: (1.) Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss, (2.) längerfristige stationäre Betreuung in einer Einrichtung oder Schwere der Pflegebedürftigkeit oder (3.) hoheitliche Gewalt.

Nach den bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) besitzt der Kläger die deutsche Staatsangehörigkeit und ist damit Deutscher im Sinne des Art 116 Abs 1 GG. Er hält sich gewöhnlich im Ausland auf, da er bei seiner allein sorgeberechtigten Mutter in P. (Bulgarien) lebt und dort den Mittelpunkt seiner Lebensbeziehungen hat (zur Bestimmung des gewöhnlichen Aufenthalts iS des § 24 Abs 1 Satz 1 SGB XII nach § 30 Abs 3 Satz 2 Sozialgesetzbuch - Allgemeiner Teil - <SGB I> vgl BSG Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 5/16 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Er ist deshalb gemäß § 24 Abs 1 Satz 1 SGB XII von Leistungen der Sozialhilfe ausgeschlossen.

Ob ein in § 24 Abs 1 Satz 2 SGB XII genannter Ausnahmefall vorliegt, in welchem im Einzelfall Leistungen erbracht werden können, kann der Senat mangels ausreichender Feststellungen des LSG nicht abschließend entscheiden. Ein solcher Ausnahmefall setzt - wie dargelegt - eine außergewöhnliche Notlage, die daraus folgende Unabweisbarkeit von Sozialhilfeleistungen und die Unmöglichkeit einer Rückkehr nach Deutschland aus einem der in § 24 Abs 1 Satz 2 Nr 1 bis 3 SGB XII abschließend aufgezählten objektiven Hinderungsgründe voraus.

Als Hinderungsgrund kommt hier ausschließlich § 24 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB XII (Pflege und Erziehung eines Kindes, das aus rechtlichen Gründen im Ausland bleiben muss) in Betracht. Dessen Voraussetzungen liegen hier vor. Der Tatbestand des § 24 Abs 1 Satz 2 Nr 1 SGB XII ist nach der Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 5/16 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen) dahin auszulegen, dass einem im Ausland mit den Eltern oder dem sorgeberechtigten Elternteil lebenden deutschen Kind bei Vorliegen einer außergewöhnlichen Notlage Sozialhilfe zu gewähren ist, wenn es wegen des gewöhnlichen Aufenthalts seiner sorgeberechtigten Eltern und damit wegen seiner eigenen Pflege und Erziehung im Ausland (rechtlich) an einer Rückkehr gehindert ist (ebenso Coseriu, aaO, § 24 RdNr 35; Berlit, aaO, § 24 RdNr 9; Bieback, aaO, § 24 RdNr 22; aA Baur in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, § 24 RdNr 22, Stand 09/2015). Die Bestimmung eines auswärtigen Aufenthalts des Minderjährigen durch die Eltern oder den allein personensorgeberechtigten Elternteil macht die Rückkehr des Minderjährigen ins Inland rechtlich unmöglich, ohne dass entscheidend wäre, ob für die Eltern die Möglichkeit besteht, ins Inland zurückzukehren. Das Verhalten bzw der fehlende Rückkehrwille der Eltern kann den Kindern, soweit es um die Beseitigung einer existenziellen Notlage geht, auch nicht zugerechnet werden, schon weil die Eltern- und Kinderinteressen nicht gleichgerichtet sein müssen (BSG, aaO; vgl bereits BVerwGE 105, 44, 48).

Die Feststellungen des LSG genügen aber nicht, um beurteilen zu können, ob vorliegend die Gewährung von Sozialhilfe wegen einer außergewöhnlichen Notlage unabweisbar ist. Der - gerichtlich in vollem Umfang überprüfbare - unbestimmte Rechtsbegriff der außergewöhnlichen Notlage setzt in der Person desjenigen, der für sich Leistungen der Sozialhilfe beansprucht, besondere Lebensumstände voraus, welche die konkrete und unmittelbare Gefahr einer nicht unerheblichen Beeinträchtigung existentieller Rechtsgüter begründen (zum Merkmal des "besonderen Notfalls" nach § 119 Abs 1 Bundessozialhilfegesetz <BSHG> vgl Bundesverwaltungsgericht <BVerwG> Urteil vom 5.6.1997 - 5 C 3/97 - juris RdNr 13; BVerwG Urteil vom 5.6.1997 - 5 C 17/96 - juris RdNr 9; BVerwGE 105, 44, 46). Dazu zählen das Leben (Art 2 Abs 2 Satz 1 Alt 1 GG), die körperliche Unversehrtheit (Art 2 Abs 2 Satz 1 Alt 2 GG), das menschenwürdige Existenzminimum (Art 1 Abs 1 iVm Art 20 Abs 1 GG) oder ein anderes grundrechtlich geschütztes Rechtsgut mit vergleichbar existentieller Bedeutung (vgl LSG Baden-Württemberg Urteil vom 9.6.2016 - L 7 SO 4619/15 - juris RdNr 34; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 11.8.2014 - L 20 SO 481/11 - juris RdNr 66; LSG Baden-Württemberg Urteil vom 25.2.2010 - L 7 SO 5106/07 - juris RdNr 26; Bayerisches LSG Beschluss vom 8.9.2009 - L 18 SO 119/09 B ER - juris RdNr 15; LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 21.12.2005 - L 7 SO 4166/05 ER-B - juris RdNr 5; Hohm, aaO, § 24 RdNr 9; Decker, aaO, § 24 RdNr 22; Coseriu, aaO, § 24 RdNr 24 ff; Schlette, aaO, § 24 RdNr 25; Berlit, aaO, § 24 RdNr 6; Baur, NVwZ 2004, 1322). Eine solche (grundrechtskonforme) Auslegung des unbestimmten Rechtsbegriffs der "außergewöhnlichen Notlage" ist geboten, weil die genannten Grundrechte die deutsche Staatsgewalt nicht nur gegenüber Menschen auf deutschem Staatsgebiet binden (vgl BVerfGE 100, 313, 362 f; zu Schutzpflichten gegenüber Deutschen im Ausland vgl BVerfGE 6, 290, 299; 40, 141, 177 ff; BVerfGK 14, 192, 200).

Eine außergewöhnliche Notlage liegt danach auch vor, wenn einem im Aufenthaltsland schulpflichtigen Deutschen die Mittel fehlen, die zur Sicherstellung seiner Teilhabe an einer nach den dortigen Verhältnissen angemessenen Schulbildung unbedingt erforderlich sind (aA Bieback, aaO, § 24 RdNr 19). Denn der verfassungsrechtlich garantierte Leistungsanspruch auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums erstreckt sich auf die unbedingt erforderlichen Mittel zur Sicherung der physischen Existenz und eines Mindestmaßes an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben (vgl BVerfGE 125, 175, 223; 132, 134 RdNr 64; BVerfGE 137, 34 RdNr 75). Bei schulpflichtigen Kindern wird dieses Mindestmaß vor allem durch Teilhabe an einer angemessenen Schulbildung gewährleistet (vgl BVerwGE 105, 44, 49), sodass notwendige Aufwendungen zur Erfüllung schulischer Pflichten zum existentiellen Bedarf gehören (BVerfGE 125, 175, 246). Schulpflichtigen Kindern droht auch im Ausland der Ausschluss von Lebenschancen, wenn sie ohne die Entrichtung von Schulgeld oder den Erwerb notwendiger Schulmaterialien, wie Schulbücher, Schulhefte oder Taschenrechner, die Schule nicht erfolgreich besuchen können (vgl BVerfGE 125, 175, 246). Welche Schulbildung angemessen ist, richtet sich gemäß § 24 Abs 3 SGB XII nach den besonderen Verhältnissen im Aufenthaltsland. Der in der Revisionsbegründung zum Gegenstand gemachte Besuch der Nationalschule für Musik in P. stellt deshalb nur dann eine vom soziokulturellen Existenzminimum umfasste angemessene Schulbildung dar, wenn es sich bei dieser Schule um eine öffentliche Schule handelt, durch deren Besuch der Kläger seine Schulpflicht in Bulgarien erfüllt und keine kostenfreie öffentliche Schule als zumutbare Alternative zur Verfügung steht. Die vom LSG ggf nachzuholenden, mit der Schulbildung bzw der Erfüllung der Schulpflicht verbundenen Ermittlungen betreffen zwar generelle Tatsachen, zu deren Feststellung das Revisionsgericht grundsätzlich selbst befugt ist. Dies ist jedoch untunlich (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), weil - falls die noch zu führenden Ermittlungen eine außergewöhnliche Notlage bestätigen - auch hinsichtlich der Unabweisbarkeit (dazu gleich) von Sozialhilfeleistungen weitere tatsächliche Feststellungen notwendig sind.

Das Kriterium der Unabweisbarkeit stellt als eigenständige Tatbestandsvoraussetzung (aA Bieback, aaO, § 24 RdNr 20) eine unauflösbare Beziehung zwischen einer außergewöhnlichen Notlage und der begehrten Leistung her (Hohm, aaO, § 24 RdNr 11). Die Gewährung von Leistungen der Sozialhilfe im Ausland ist unabweisbar, wenn die Leistung nach Art und Umfang das einzige geeignete Mittel ist, um die unmittelbare und konkrete Gefahr für ein grundrechtlich geschütztes Rechtsgut mit existentieller Bedeutung abzuwenden (vgl LSG Berlin-Brandenburg Beschluss vom 10.9.2008 - L 15 B 172/08 SO ER - juris RdNr 7; Decker, aaO, § 24 RdNr 23); denn der Bedarf, der eine Leistungsverpflichtung auslöst, muss nicht nur durch eine außergewöhnliche Notlage entstanden sein, sondern es muss auch im Zeitpunkt der Beantragung der Leistung eine Situation bestehen, die insbesondere den Verweis auf Dritte (vgl § 24 Abs 2 SGB XII) zur Deckung der Kosten ausgeschlossen erscheinen lässt. Ebenfalls nicht unabweisbar sind Leistungen der Sozialhilfe, soweit der Deutsche im Ausland über bereite Mittel in Form von Einkommen und Vermögen verfügt, durch deren Einsatz er sich nach Maßgabe der besonderen Verhältnisse des Aufenthaltslandes (§ 24 Abs 3 SGB XII) selbst helfen kann, oder tatsächliche Hilfe von Dritten erhält. Beruht die außergewöhnliche Notlage allein auf einem einmaligen Bedarf, entfällt die Unabweisbarkeit von Leistungen der Sozialhilfe, wenn es dem Deutschen im Ausland zumutbar ist, diesen lediglich einmaligen Bedarf innerhalb einer kurzen Zeitspanne unter Berücksichtigung tatsächlicher Einsparmöglichkeiten zu decken (BSG Urteil vom 21.9.2017 - B 8 SO 5/16 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen). Denn der Gesetzgeber darf den Einzelnen grundsätzlich darauf verweisen, dass punktuelle Unterdeckungen intern ausgeglichen werden (vgl BVerfGE 137, 34 RdNr 117).

Nach den den Senat bindenden (§ 163 SGG) und mit durchgreifenden Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des LSG ist der Lebensunterhalt des Klägers einschließlich der Unterkunft und Heizung aus Mitteln gedeckt, die ihm aus Zahlungen von Kindesunterhalt und Kindergeld zufließen. Hinreichende Feststellungen zur Deckung von Bedarfen, die nicht dem physischen, sondern dem soziokulturellen Existenzminimum zuzuordnen sind, fehlen hingegen. Dies gilt insbesondere für ggf mit der Schulbildung zusammenhängende Bedarfe wie Schulgeld, Ausstattung mit persönlichem Schulbedarf, Bedarfe für die Schülerbeförderung etc. Die Begründung des LSG, "dass substantieller ungedeckter Bedarf … nicht dargelegt oder ersichtlich" ist, weil "insoweit offenbar die Großeltern einspringen bzw die Mutter des Klägers den Bedarf deckt, wenn auch mit geliehenem Geld", lässt keine ausreichenden Tatsachenfeststellungen erkennen, die dem Senat die Prüfung der Unabweisbarkeit von Sozialhilfeleistungen ermöglichen.

Der Unabweisbarkeit von Sozialhilfeleistungen steht nicht entgegen, dass die Mutter des Klägers die nach Antragstellung im Januar 2010 angefallenen Kosten zur Deckung existenzieller Bedarfe ggf erst durch die Aufnahme von Darlehen begleichen konnte. Nach der Rechtsprechung des Senats setzen Sozialhilfeleistungen zwar vom Grundgedanken her einen aktuellen Bedarf voraus; dies gilt allerdings aus Gründen des effektiven Rechtsschutzes (Art 19 Abs 4 GG) nicht bei einer Ablehnung der Hilfegewährung und zwischenzeitlicher Bedarfsdeckung im Wege der Selbsthilfe oder Hilfe Dritter, wenn der Hilfesuchende innerhalb der gesetzlichen Fristen einen Rechtsbehelf eingelegt hat und im Rechtsbehelfsverfahren die Hilfegewährung erst erstreiten muss (BSGE 112, 67 = SozR 4-3500 § 92 Nr 1, RdNr 25; BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 26 mwN).

Das LSG wird daher im Rahmen seiner weiteren Ermittlungen insbesondere aufzuklären haben, ob und in welcher Höhe weitere Bedarfe des Klägers zur Sicherung seines soziokulturellen Existenzminimums bestanden und ob sie mittels Einkommen oder Vermögen des Klägers bzw anderer bereiter Mittel (freiwillige Zuwendungen der Großeltern, von der Mutter vor Antragstellung aufgenommene Darlehen) oder aber im Vorgriff auf die zu erwartende Sozialhilfe durch die Großeltern bzw durch die Mutter mit nach Antragstellung geliehenem Geld gedeckt wurden. Ermittlungen darüber, ob der Kläger im Falle des Klageerfolgs seiner Mutter oder seinen Großeltern deren Auslagen erstatten muss oder zumindest wird, sind entbehrlich. Denn Vereinbarungen über eine Rückerstattung im Vorgriff auf die zu erwartende Sozialhilfe aufgebrachter Kosten sind bei realitätsnaher Sichtweise bei einer Verwandtschaft ersten Grades unüblich und können vorliegend auch nicht zur Voraussetzung gemacht werden (BSGE 112, 67 = SozR 4-3500 § 92 Nr 1, RdNr 25; BSGE 110, 301 = SozR 4-3500 § 54 Nr 8, RdNr 27).

Ist die Gewährung von Sozialhilfeleistungen auch wegen einer außergewöhnlichen Notlage unabweisbar, wird das LSG schließlich auch zu prüfen haben, ob der Leistungsausschluss nach § 24 Abs 2 Alt 3 SGB XII greift. Dabei wird die Prognose, ob und in welcher Höhe Leistungen von dem hierzu verpflichteten Aufenthaltsland oder von anderen zu erwarten sind, als hypothetische Tatsache festzustellen sein (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 128 RdNr 9 f mwN).

Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

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