Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 30.01.2019, B 14 AS 24/18 R

Arbeitslosengeld II - Unterkunft und Heizung - angemessene Unterkunftskosten - schlüssiges Konzept des Grundsicherungsträgers - Festlegung von Vergleichsräumen - gerichtliche Überprüfung

Leitsätze

Die Festlegung eines Vergleichsraums und die Erstellung eines schlüssigen Konzepts zur Ermittlung der abstrakt angemessenen Nettokaltmiete im Rahmen des grundsicherungsrechtlichen Bedarfs für die Unterkunft ist gerichtlich voll überprüfbar, darf jedoch nicht durch das Gericht ersetzt werden.

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. April 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Umstritten ist nur noch für März 2014 die Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft, insbesondere im Hinblick auf die abstrakte Angemessenheit.

Der 1964 geborene Kläger bewohnt in Hermsdorf (Gemeinde Hohe Börde, Landkreis Börde) allein eine 68,4 qm große Zweizimmerwohnung, für die im März 2014 zu zahlen waren 318 Euro Nettokaltmiete, 61 Euro Betriebskostenvorauszahlung und 33 Euro Heizkostenvorauszahlung, insgesamt 412 Euro. Schon im März 2013 hatte das beklagte Jobcenter unter Bezugnahme auf seine Unterkunftsrichtlinie den Kläger auf die danach angemessene monatliche Bruttokaltmiete von 271,50 Euro hingewiesen und ihn zur Senkung seiner Kosten aufgefordert. Für Oktober 2013 bis März 2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger zunächst vorläufig und schließlich endgültig Alg II, wobei er für März 2014 als Bedarfe für Unterkunft und Heizung 304,50 Euro anerkannte (271,50 Euro Bruttokaltmiete zuzüglich 33 Euro tatsächliche Heizkosten; Bescheid vom 18.3.2014; Widerspruchsbescheid vom 18.3.2014). Für April bis September 2014 bewilligte der Beklagte dem Kläger ebenfalls Alg II und erkannte für Unterkunft und Heizung dieselben laufenden Bedarfe an (Bescheid vom 4.3.2014; Änderungsbescheid vom 2.6.2014; Widerspruchsbescheid vom 4.6.2014).

Das SG hat den Beklagten unter Änderung der genannten Bescheide verurteilt, dem Kläger ua für März 2014 weitere 107,50 Euro zu gewähren, im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen und die Berufungen zugelassen (Urteile vom 2.5.2017). Auf die nur vom Beklagten eingelegten Berufungen hat das LSG die Verfahren miteinander verbunden sowie - nach einem angenommenen Teilanerkenntnis für Juni bis September 2014 - die Urteile des SG aufgehoben und die Klagen abgewiesen (Urteil vom 24.4.2018). Der Beklagte habe die allein noch strittigen Leistungen für die Unterkunft und Heizung in zutreffender Höhe gewährt. Allerdings sei entgegen der Auffassung des Beklagten nicht der gesamte Landkreis Börde und entgegen der Auffassung des SG auch nicht ein früherer Altkreis als Vergleichsraum anzusehen, vielmehr sei der Wohnort des Klägers, die Gemeinde Hohe Börde, ein eigener Vergleichsraum. Das vom Beklagten zur Ermittlung angemessener Aufwendungen für Nettokaltmiete und Betriebskosten gewählte Konzept sei schlüssig und trotz der unzutreffenden Vergleichsraumbildung verwertbar.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II. Zwar habe das LSG zu Recht angenommen, dass nicht der gesamte Landkreis Börde als Vergleichsraum anzusehen sei. Zu Unrecht nehme es jedoch an, dass die Gemeinde Hohe Börde einen Vergleichsraum bilde, denn sie sei kein homogener Lebensraum, sondern lasse sich in drei verschiedene Sektoren aufteilen. Das Konzept des Beklagten erfülle nicht die an ein schlüssiges Konzept zu stellenden Anforderungen.

Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 24. April 2018 aufzuheben und die Berufungen des Beklagten gegen die Urteile des Sozialgerichts Magdeburg vom 2. Mai 2017 zurückzuweisen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Er meint, die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft seien durch ein schlüssiges Konzept ermittelt worden und der gesamte Landkreis Börde sei als ein Vergleichsraum zugrunde zu legen. Ggf als notwendig angesehene Nachermittlungen zur Vergleichsraumbildung und Erstellung eines schlüssigen Konzepts seien möglich.

In einem Teilvergleich vor dem Senat haben sich die Beteiligten hinsichtlich der allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft für Oktober 2013 bis Februar 2014 und April bis September 2014 dem Ausgang des Rechtsstreits für März 2014 unterworfen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Auf der Grundlage der Feststellungen des LSG kann der Senat nicht darüber entscheiden, ob bei dem Kläger ein höherer Bedarf für die Unterkunft anzuerkennen ist.

1. Streitgegenstand des Revisionsverfahrens ist nach dem Teilvergleich vor dem Senat neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Bescheid des Beklagten vom 18.3.2014, der die vorangegangene Entscheidung durch eine höhere Bewilligung ersetzt hat (vgl BSG vom 25.4.2018 - B 14 AS 21/17 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 95 RdNr 9), in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 18.3.2014 sowie die Höhe der Leistungen für Unterkunft und Heizung nach § 22 Abs 1 SGB II für März 2014 (zur Zulässigkeit einer solchen Beschränkung: BSG vom 4.6.2014 - B 14 AS 42/13 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 78 RdNr 10).

2. Verfahrensrechtliche Hindernisse stehen einer Sachentscheidung des Senats nicht entgegen. Insbesondere sind die Berufungen zulässig, weil sie jeweils vom SG zugelassen worden sind. Der Kläger verfolgt sein Begehren zutreffend mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG), zulässigerweise gerichtet auf den Erlass eines Grundurteils (§ 130 Abs 1 Satz 1 SGG).

Ein solches Grundurteil im Höhenstreit ist auch hinsichtlich der zwischen den Beteiligten allein strittigen Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft zulässig. Voraussetzung für die Zulässigkeit eines Grundurteils im Höhenstreit in Abgrenzung zu einer unzulässigen Elementfeststellungsklage ist eine so umfassende Aufklärung zu Grund und Höhe des Anspruchs, dass mit Wahrscheinlichkeit von einer höheren Leistung ausgegangen werden kann, wenn der Begründung der Klage gefolgt wird (vgl nur BSG vom 16.4.2013 - B 14 AS 81/12 R - SozR 4-4225 § 1 Nr 2 RdNr 10 mwN; zur Abgrenzung bei Verfahren nach § 44 SGB X: BSG vom 24.5.2017 - B 14 AS 32/16 R - BSGE 123, 199 = SozR 4-4200 § 11 Nr 80, RdNr 17 ff). Diese Voraussetzung ist vorliegend erfüllt, weil der Beklagte dem Kläger Alg II bewilligt hat und der Kläger Anspruch auf höheres Alg II hat, wenn seinem Vorbringen zur Höhe des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft gefolgt wird.

3. Rechtsgrundlage eines Anspruchs des Klägers auf höhere Leistungen für die Unterkunft und Heizung für März 2014 gegen das beklagte Jobcenter sind §§ 19, 22 SGB II in der ab 1.4.2011 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.2011 (BGBl I 850; zuletzt geändert durch Gesetz vom 7.5.2013, BGBl I 1167). Denn in Rechtsstreitigkeiten über schon abgeschlossene Bewilligungszeiträume ist das damals geltende Recht anzuwenden (Geltungszeitraumprinzip, vgl BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 53/15 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 78 RdNr 14 f).

4. Die Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden im Rahmen der Bewilligung von Alg II in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind (§ 22 Abs 1 Satz 1 SGB II). Die Prüfung der Angemessenheit des Bedarfs für die Unterkunft und der des Bedarfs für die Heizung haben grundsätzlich getrennt voneinander zu erfolgen (vgl nur BSG vom 2.7.2009 - B 14 AS 36/08 R - BSGE 104, 41 = SozR 4-4200 § 22 Nr 23, RdNr 18 mwN), unbeschadet der Wirtschaftlichkeitsprüfung bei Kostensenkungsaufforderungen (§ 22 Abs 1 Satz 4 SGB II) und der zwischenzeitlich eingeführten Gesamtangemessenheitsgrenze nach § 22 Abs 10 SGB II in der Fassung des Gesetzes vom 26.7.2016 (BGBl I 1824).

Zur Bestimmung des anzuerkennenden Bedarfs für die Unterkunft ist von den tatsächlichen Aufwendungen auszugehen (BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 8/09 R - BSGE 104, 179 = SozR 4-4200 § 22 Nr 24 <Staffelmiete>, RdNr 15 ff). Will das Jobcenter nicht die tatsächlichen Aufwendungen als Bedarf anerkennen, weil es sie für unangemessen hoch hält, muss es grundsätzlich ein Kostensenkungsverfahren durchführen und der leistungsberechtigten Person den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang der Aufwendungen mitteilen (§ 22 Abs 1 Satz 3 SGB II; so schon BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 29; letztens BSG vom 15.6.2016 - B 4 AS 36/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 90).

5. Bei dem entscheidenden gesetzlichen Tatbestandsmerkmal "Angemessenheit" handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff (stRspr: vgl BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 <München I>, RdNr 12; letztens BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, RdNr 14).

Gegen die Verwendung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs bestehen keine durchgreifenden Bedenken, zumal zur Konkretisierung des Tatbestandsmerkmals der Angemessenheit des § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II auch die Regelungen der §§ 22a bis 22c SGB II zu berücksichtigen sind (BVerfG vom 6.10.2017 - 1 BvL 2/15, 1 BvL 5/15 - RdNr 17; BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, RdNr 17 f).

Die Konkretisierung unbestimmter Rechtsbegriffe durch die Verwaltung ist grundsätzlich gerichtlich voll überprüfbar (vgl nur Sachs in Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, 9. Aufl 2018, § 40 RdNr 147 ff, § 46 RdNr 63 ff, jeweils mwN; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, K § 31 RdNr 100, Stand der Einzelkommentierung 12/2011) und die Angemessenheit nach § 22 Abs 1 Satz 1 SGB II ebenfalls. Eine Rechtsgrundlage oder dogmatische Herleitung für die von Jobcentern in diesem Zusammenhang zum Teil beanspruchte "nicht justiziable Einschätzungsprärogative" oder "gerichtlich nicht überprüfbare politische Entscheidung" sind im Lichte von Art 19 Abs 4 GG nicht ersichtlich (vgl zur vollen gerichtlichen Überprüfbarkeit die einhellige Auffassung der Literatur zu § 22 SGB II: Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 61; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 22 RdNr 71, Stand der Einzelkommentierung 10/2012; Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RdNr 33, Stand der Einzelkommentierung 10/2016; Luik in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 73, 91; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 22 RdNr 83; Wieland in Estelmann, SGB II, § 22 RdNr 71, Stand der Einzelkommentierung 10/2017).

6. Die Ermittlung des angemessenen Umfangs der Aufwendungen für die Unterkunft hat in zwei größeren Schritten zu erfolgen: Zunächst sind die abstrakt angemessenen Aufwendungen für die Unterkunft, bestehend aus Nettokaltmiete und kalten Betriebskosten (= Bruttokaltmiete), zu ermitteln; dann ist die konkrete (= subjektive) Angemessenheit dieser Aufwendungen im Vergleich mit den tatsächlichen Aufwendungen, insbesondere auch im Hinblick auf die Zumutbarkeit der notwendigen Einsparungen, einschließlich eines Umzugs, zu prüfen (stRspr BSG vom 7.11.2006 - B 7b AS 10/06 R - BSGE 97, 231 = SozR 4-4200 § 22 Nr 2, RdNr 24 f; letztens BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, RdNr 14 ff; vgl aus der Literatur auch zum Folgenden: Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 63 ff; Krauß in Hauck/Noftz, SGB II, K § 22 RdNr 70 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2012; Lauterbach in Gagel, SGB II/SGB III, § 22 SGB II RdNr 33 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2016; Luik in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 73 ff; Piepenstock in jurisPK-SGB II, 4. Aufl 2015, § 22 RdNr 83 ff; Šušnjar in Hohm, GK-SGB II, § 22 RdNr 80 ff, Stand der Einzelkommentierung 9/2017; Wieland in Estelmann, SGB II, § 22 RdNr 74 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2017).

7. Die Ermittlung der abstrakt angemessenen Aufwendungen hat unter Anwendung der Produkttheorie ("Wohnungsgröße in Quadratmeter multipliziert mit dem Quadratmeterpreis") in einem mehrstufigen Verfahren zu erfolgen, das der Senat ausgehend von der bisherigen Rechtsprechung unter Einbeziehung der Rechtsentwicklung wie folgt zusammenfasst und konkretisiert (stRspr BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 18/09 R - BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30 <Wilhelmshaven>; BSG vom 20.12.2011 - B 4 AS 19/11 R - BSGE 110, 52 = SozR 4-4200 § 22 Nr 51 <Duisburg>; BSG vom 12.6.2013 - B 14 AS 60/12 R - BSGE 114, 1 = SozR 4-4200 § 22 Nr 69 <überhöhte Heizkosten>, RdNr 18; BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, RdNr 14 f): (1) Bestimmung der (abstrakt) angemessenen Wohnungsgröße für die leistungsberechtigte(n) Person(en), (2) Bestimmung des angemessenen Wohnungsstandards, (3) Ermittlung der aufzuwendenden Nettokaltmiete für eine nach Größe und Wohnungsstandard angemessene Wohnung in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept, (4) Einbeziehung der angemessenen kalten Betriebskosten.

8. Der Ermittlung der angemessenen Nettokaltmiete in dem maßgeblichen örtlichen Vergleichsraum nach einem schlüssigen Konzept ist ausgehend von der zuvor angeführten Rechtsprechung zugrunde zu legen:

a) Der Vergleichsraum ist der Raum, für den ein grundsätzlich einheitlicher abstrakter Angemessenheitswert zu ermitteln ist (BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 <München I>, RdNr 21), innerhalb dessen einer leistungsberechtigten Person ein Umzug zur Kostensenkung grundsätzlich zumutbar ist (vgl BSG vom 17.12.2009 - B 4 AS 27/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 27 <Essen> RdNr 32 ff) und ein nicht erforderlicher Umzug nach § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II zu einer Deckelung der Aufwendungen auf die bisherigen führt (vgl in Abgrenzung hierzu BSG vom 1.6.2010 - B 4 AS 60/09 R - BSGE 106, 147 = SozR 4-4200 § 22 Nr 35 <Umzug in anderen Vergleichsraum>, RdNr 18 ff; letztens BSG vom 17.2.2016 - B 4 AS 12/15 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 88 RdNr 13 ff). Der Vergleichsraum ist ein ausgehend vom Wohnort der leistungsberechtigten Person bestimmter ausreichend großer Raum der Wohnbebauung, der aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit einen insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich bildet (vgl zB BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 <München I>, RdNr 20 ff).

Nach der auch für schlüssige Konzepte im Rahmen des § 22 Abs 1 SGB II entsprechend anzuwendenden gesetzgeberischen Vorgabe in § 22b Abs 1 Satz 4 SGB II bildet das Zuständigkeitsgebiet eines Jobcenters zunächst einen Vergleichsraum, der indes aufgrund der örtlichen Gegebenheiten in mehrere Vergleichsräume zu unterteilen sein kann, für die jeweils eigene Angemessenheitswerte bestimmt werden können. Als solche örtlichen Gegebenheiten kommen weniger unterschiedliche Landschaften, sondern eher räumliche Orientierungen, wie Tagespendelbereiche für Berufstätige oder die Nähe zu Ballungsräumen, sowie aus der Datenerhebung ersichtliche, deutliche Unterschiede im Mietpreisniveau in Betracht.

b) Das schlüssige Konzept soll die Gewähr dafür bieten, dass die aktuellen Verhältnisse des Mietwohnungsmarkts im Vergleichsraum dem Angemessenheitswert zugrunde liegen und dieser realitätsgerecht ermittelt wird. Schlüssig ist ein Konzept, wenn es neben rechtlichen zudem bestimmte methodische Voraussetzungen erfüllt und nachvollziehbar ist. Dies erfordert trotz Methodenvielfalt insbesondere eine Definition der untersuchten Wohnungen nach Größe und Standard, Angaben über die Art und Weise der Datenerhebung, Angaben über den Zeitraum, auf den sich die Datenerhebung bezieht, Repräsentativität und Validität der Datenerhebung, Einhaltung anerkannter mathematisch-statistischer Grundsätze bei der Datenauswertung, Vermeidung von "Brennpunkten" durch soziale Segregation sowie eine Begründung, in der die Ermittlung der Angemessenheitswerte aus den Daten dargelegt wird (grundlegend BSG vom 22.9.2009 - B 4 AS 18/09 R - BSGE 104, 192 = SozR 4-4200 § 22 Nr 30 <Wilhelmshaven>, RdNr 18 f; BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 9/14 R - BSGE 117, 250 = SozR 4-4200 § 22 Nr 81 <Dresden>, Leitsatz: zur Entwicklungsoffenheit dieser Grundsätze; zuletzt BSG vom 12.12.2017 - B 4 AS 33/16 R - BSGE 125, 29 = SozR 4-4200 § 22 Nr 93 <Fortschreibung schlüssiges Konzept>, RdNr 17 f; vgl zudem § 22a Abs 3, § 22b Abs 1, 2, § 22c Abs 1 SGB II).

c) Es kann verschiedene Methoden geben, um ein schlüssiges Konzept in diesem Sinne zu erstellen und den damit unmittelbar zusammenhängenden Vergleichsraum oder ggf mehrere Vergleichsräume zu bilden, weil weder aus § 22 SGB II noch aus §§ 22a bis 22c SGB II die Anwendung eines bestimmten Verfahrens rechtlich zwingend ableitbar ist (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 9/14 R - BSGE 117, 250 = SozR 4-4200 § 22 Nr 81 <Dresden>, RdNr 19 ff; siehe ferner BT-Drucks 17/3404 S 101 zu § 22b: "Vielfalt an Konzepten"; Šušnjar in Hohm, GK-SGB II, § 22 RdNr 142, Stand der Einzelkommentierung 9/2017; vgl zu den verschiedenen Verfahren: Forschungsbericht 478, Ermittlung der existenzsichernden Bedarfe für die Kosten der Unterkunft und Heizung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch <SGB II> und in der Sozialhilfe nach dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch <SGB XII>, erstellt von v. Malottki ua, hrsg vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales, 2017, S 207 ff; zu den Interdependenzen zwischen Vergleichsraum und schlüssigem Konzept schon BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 44/12 R - RdNr 18).

9. Es ist gerichtlich voll überprüfbar - wie ausgeführt (siehe 5.) -, ob die Ermittlung der abstrakt angemessenen Nettokaltmiete, insbesondere die Festlegung des Vergleichsraums und die Erstellung eines schlüssigen Konzepts im Rahmen der Methodenvielfalt zutreffend erfolgt ist. Die volle gerichtliche Überprüfung des Angemessenheitswerts und des Verfahrens zu seiner Ermittlung schließt nicht aus, dass bei dieser Kontrolle der Verwaltung deren in der Methodenvielfalt zum Ausdruck kommenden Eigenverantwortung Rechnung getragen und die gerichtliche Kontrolle als eine nachvollziehende Kontrolle ausgestaltet wird (BVerfG vom 31.5.2011 - 1 BvR 857/07 - BVerfGE 129, 1, juris-RdNr 70; vgl zu den Grenzen gerichtlicher Kontrolle zudem: BVerfG vom 23.10.2018 - 1 BvR 2523/13, 1 BvR 595/14; vgl ferner Luik in Eicher/Luik, SGB II, 4. Aufl 2017, § 22 RdNr 91, 104: "Verfahrenskontrolle").

a) Zur Umsetzung der gerichtlichen Kontrolle ist es auf eine entsprechende Klage hin zunächst Aufgabe des Gerichts, die Rechtmäßigkeit des vom beklagten Jobcenter ermittelten abstrakten Angemessenheitswerts sowohl im Hinblick auf die Festlegung des Vergleichsraums als auch die Erstellung eines schlüssigen Konzepts zu überprüfen.

Ist die Ermittlung dieses abstrakten Angemessenheitswerts rechtlich zu beanstanden, ist dem Jobcenter Gelegenheit zu geben, diese Beanstandungen durch Stellungnahmen, ggf nach weiteren eigenen Ermittlungen, auszuräumen (vgl BSG vom 18.11.2014 - B 4 AS 9/14 R - BSGE 117, 250 = SozR 4-4200 § 22 Nr 81 <Dresden>, RdNr 19 ff zu einer erfolgreichen Nachbesserung; BSG vom 16.6.2015 - B 4 AS 44/14 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 85 <Raumschaft Umland Freiburg> RdNr 18 f).

b) Gelingt es dem Jobcenter nicht, die Beanstandungen des Gerichts auszuräumen, ist das Gericht zur Herstellung der Spruchreife der Sache (vgl zu dieser Pflicht des Gerichts § 131 Abs 2, 3 SGG sowie dessen Abs 5 mit der Zurückverweisung an die Verwaltung nur unter bestimmten Voraussetzungen; BSG vom 28.6.2001 - B 3 P 9/00 R - BSGE 88, 215 = SozR 3-3300 § 9 Nr 1, juris-RdNr 42) nicht befugt, seinerseits eine eigene Vergleichsraumfestlegung vorzunehmen (dazu 10.) oder ein schlüssiges Konzept - ggf mit Hilfe von Sachverständigen - zu erstellen. Beide Entscheidungen korrespondieren miteinander, denn die Bildung des Vergleichsraums kann nicht von der Erstellung des Konzepts getrennt werden, einschließlich der anzuwendenden Methode, und sind dem Jobcenter vorbehalten (vgl zu den Auswirkungen dieser Entscheidungen auf den örtlichen Wohnungsmarkt nur § 22a Abs 3 Satz 2 SGB II).

Vielmehr kann das Gericht zur Herstellung der Spruchreife, wenn ein qualifizierter Mietspiegel vorhanden ist, auf diesen zurückgreifen; andernfalls sind mangels eines in rechtlich zulässiger Weise bestimmten Angemessenheitswerts die tatsächlichen Aufwendungen für die Unterkunft dem Bedarf für die Unterkunft zugrunde zu legen, begrenzt durch die Werte nach dem WoGG plus Zuschlag von 10 % (BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 65/08 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 26 <Zweibrücken> RdNr 20 f; BSG vom 16.6.2015 - B 4 AS 44/14 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 85 <Raumschaft Umland Freiburg> RdNr 30). Dadurch soll den Gegebenheiten des örtlichen Wohnungsmarkts zumindest ansatzweise gemäß gesetzgeberischer Entscheidungen - wenn auch für einen anderen Personenkreis - durch eine "Angemessenheitsobergrenze" Rechnung getragen werden, die die Finanzierung extrem hoher und per se unangemessener Mieten verhindert (BSG vom 17.12.2009 - B 4 AS 50/09 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 29 <Flensburg> RdNr 27; Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 92 ff).

10. Zu einer eigenen Festlegung des Vergleichsraums ist das Gericht nicht befugt. Insbesondere ist es, wenn das zuständige Jobcenter von einem Vergleichsraum für den gesamten Landkreis ausgeht, nicht zulässig, dass das Gericht wie vorliegend (LSG Sachsen-Anhalt vom 24.4.2018 - L 5 AS 408/17 - <Hohe Börde> juris-RdNr 60, 65 ff; vgl in den Parallelverfahren: zu BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 10/18 R - <Umzug> das Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 11.5.2017 - L 5 AS 547/16 - juris-RdNr 41 ff; BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 11/18 R - <Rückschreibung schlüssiges Konzept> das Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 13.9.2017 - L 5 AS 1038/13 - juris-RdNr 38 ff; BSG vom 30.1.2019 - B 14 AS 12/18 R - <Blankenburg> das Urteil des LSG Sachsen-Anhalt vom 31.1.2018 - L 5 AS 201/17 - juris-RdNr 53 ff) diesen Vergleichsraum unterteilt und ggf jede einzelne Kommune im Landkreis als eigenen Vergleichsraum ansieht.

Soweit in der Rechtsprechung des BSG für Großstädte insbesondere zur Vermeidung einer sozialen Segregation das gesamte Stadtgebiet als ein Vergleichsraum angesehen wurde (vgl BSG vom 19.2.2009 - B 4 AS 30/08 R - BSGE 102, 263 = SozR 4-4200 § 22 Nr 19 <München I>, RdNr 21 f; BSG vom 19.10.2010 - B 14 AS 50/10 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 42 <Berlin> RdNr 24), ist dies auf Flächenlandkreise nicht ohne Weiteres übertragbar (zurückhaltend insofern schon BSG vom 11.12.2012 - B 4 AS 44/12 R - <Lüchow-Dannenberg> RdNr 17). Gleiches gilt für die Rechtsprechung zu kleineren, aber kreisfreien Städten mit ca 35 000 Einwohnern (BSG vom 20.8.2009 - B 14 AS 65/08 R - SozR 4-4200 § 22 Nr 26 <Zweibrücken> RdNr 15; vgl zur Vergleichsraumbildung in Landkreisen Wieland in Estelmann, SGB II, § 22 RdNr 85 ff, Stand der Einzelkommentierung 10/2017).

Die Unterteilung eines Landkreises, wie sie das LSG vorgenommen hat, verkehrt die angeführten Entscheidungen zu (Groß-)Städten in ihr Gegenteil, weil aus eher großen eher kleinteilige Vergleichsräume werden, und erfordert eine eingehende Würdigung verschiedener Faktoren, die dem Jobcenter aufgrund der Methodenvielfalt vorbehalten ist und im Übrigen vom LSG in den soeben angeführten Urteilen nicht durchgehend für jeden Vergleichsraum gleichermaßen vorgenommen wurde (vgl zB LSG Sachsen-Anhalt vom 24.4.2018 - L 5 AS 408/17 - juris-RdNr 103, 115).

11. Ein Konzept, das zu mehreren Wohnungsmarkttypen mit unterschiedlichen Angemessenheitswerten innerhalb eines Vergleichsraums aufgrund einer "Clusteranalyse" führt, erfüllt nicht die aufgezeigten Voraussetzungen für ein schlüssiges Konzept. Denn für eine solche weitere Aufteilung der Städte und Gemeinden eines Vergleichsraums gibt es keine rechtliche Begründung, insbesondere können durch die Bildung von Wohnungsmarkttypen die Voraussetzungen für die Bildung und die Rechtsfolgen eines Vergleichsraums nicht geändert werden (ebenso: Berlit in LPK-SGB II, 6. Aufl 2017, § 22 RdNr 76).

Dass die zu einem Wohnungsmarkttyp zusammengefassten Städte und Gemeinden einen Vergleichsraum gemäß den aufgezeigten Voraussetzungen bilden, wird vom Beklagten nicht vorgetragen. Dies scheidet auch aus, weil die zu verschiedenen Wohnungsmarkttypen zusammengefassten Städte und Gemeinden auf den gesamten Vergleichsraum wie eine Art "Flickenteppich" verteilt sein können und der einzelne Wohnungsmarkttyp nicht beansprucht, einen aufgrund räumlicher Nähe, Infrastruktur und insbesondere verkehrstechnischer Verbundenheit insgesamt betrachtet homogenen Lebens- und Wohnbereich darzustellen (zu dieser Anforderung an einen Vergleichsraum siehe 8. a).

Die im Vordergrund eines Wohnungsmarkttypen-Konzepts stehenden unterschiedlichen Angemessenheitswerte je nach Wohnungsmarkttyp innerhalb des Vergleichsraums, zB für eine alleinstehende Person wie vorliegend, stehen im Widerspruch zu den dargestellten Anforderungen und Rechtsfolgen eines Vergleichsraums (siehe 8. a). Bei unterschiedlichen Angemessenheitswerten für die Nettokaltmiete je nach Wohnungsmarkttyp könnte, weil bei einer Kostensenkungsaufforderung ein Umzug innerhalb des Vergleichsraums zulässig ist, eine solche zu einem Umzug von einem Wohnungsmarkttyp mit niedrigeren Angemessenheitswerten in einen solchen mit höheren und damit letztlich zu einer Erhöhung der Aufwendungen führen. Die in § 22 Abs 1 Satz 2 SGB II angeordnete Deckelung der Aufwendungen nach einem nicht erforderlichen Umzug innerhalb eines Vergleichsraums auf die bisherigen würde eine soziale Segregation bewirken, wenn sie auf den Umzug von einem "preiswerten" in einen "teuren" Wohnungsmarkttyp Anwendung fände, und sie würde ins Leere laufen, wenn aus einem "teuren" Wohnungsmarkttyp in einen "preiswerten" umgezogen wird. Dies zeigt, dass der Vergleichsraum die mit dessen Festlegung (auch) verfolgten Steuerungswirkungen auf dem örtlichen Wohnungsmarkt verliert, wenn in ihm kein einheitlicher abstrakter Angemessenheitswert bestimmt ist.

Im Übrigen mangelt es für die einzelnen Wohnungsmarkttypen an einer sie rechtfertigenden sachlichen Herleitung. Vielmehr werden verschiedene Kriterien verwandt, um die jeweiligen Wohnungsmarkttypen zu rechtfertigen, wie ein Vergleich der Feststellungen des LSG zu solchen Konzepten zeigt (vgl LSG Sachsen-Anhalt vom 31.1.2018 - L 5 AS 201/17 - <Blankenburg> RdNr 94; LSG Sachsen-Anhalt vom 24.4.2018 - L 5 AS 408/17 - <Hohe Börde> RdNr 151 ff).

12. Nach den aufgezeigten Maßstäben ist das Urteil des LSG aufzuheben und mangels entsprechender Feststellungen die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Das LSG war nicht befugt, die Vergleichsraumbildung des beklagten Jobcenters durch eine eigene Vergleichsraumbildung zu ersetzen. Zudem durfte das LSG seiner Entscheidung nicht die vom Beklagten ermittelten abstrakten Angemessenheitswerte zugrunde legen. Gegen die Rechtmäßigkeit der Vergleichsraumbildung des Beklagten und die von ihm festgesetzten Angemessenheitswerte spricht die Unterteilung des von ihm angenommenen Vergleichsraums in Wohnungsmarkttypen mit unterschiedlichen Angemessenheitswerten für die Bruttokaltmiete. Im wiedereröffneten Berufungsverfahren hat das LSG dem Beklagten Gelegenheit zu geben, Nachermittlungen zur Vergleichsraumbildung und Erstellung eines schlüssigen Konzepts sowie der sich daraus ergebenden Angemessenheitswerte vorzulegen, was nach Angabe des Beklagten aufgrund der vorliegenden Daten möglich sei.

Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird das LSG ebenfalls zu entscheiden haben.

Hinweis zur Verwendung von Cookies

Wir verwenden ausschließlich Sitzungs-Cookies, die für die einwandfreie Funktion unserer Webseite erforderlich sind. Mit der Nutzung unserer Dienste erklären Sie sich damit einverstanden, dass wir diese Cookies einsetzen. Unsere Informationen zum Datenschutz erhalten Sie über den Link Datenschutz.

OK