Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 27.08.2019, B 1 KR 8/19 R

Krankenversicherung - In-Vitro-Fertilisation - keine fingierte Genehmigung bei Leistungen ohne gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen - Erledigung der fingierten Genehmigung mit Überschreitung der gesetzlichen Altersgrenze - Verwaltungsakt

Leitsätze

1. Beantragt ein Versicherter bei seiner Krankenkasse eine Leistung, für die formale oder jedem deutliche gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt sind, gilt die Leistung trotz verfristeter Bescheidung des Antrags nicht als genehmigt.

2. Gilt eine bei der Krankenkasse beantragte Leistung mangels fristgerechter Entscheidung als genehmigt, erledigt sich die fingierte Genehmigung mit dem Zeitpunkt, in dem der Berechtigte bei Leistungsbeschaffung eine klare gesetzliche Altersgrenze überschreitet.

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. September 2018 wird zurückgewiesen.

Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Versorgung der Klägerin mit einer In-Vitro-Fertilisation (IVF) und Kostenerstattung.

Die bei der beklagten Krankenkasse (KK) versicherte, am 26.11.1976 geborene, mit einem 1976 geborenen Ehegatten verheiratete Klägerin beantragte befundgestützt die Versorgung mit einer "IVF-Behandlung/künstlichen Befruchtung" (1.5.2016) und mit Vorlage ua eines ärztlichen Behandlungsplans und Kostenvoranschlags Versorgung mit einer intracytoplasmatischen Spermieninjektion (ICSI; Dienstag, 21.6.2016). Die Beklagte informierte die Klägerin, dass sie eine Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) einhole. Da der MDK die beantragte Leistung für nicht notwendig hielt, lehnte die Beklagte den Antrag ab (Bescheid vom 25.7.2016, der Klägerin zugegangen am 28.7.2016). Auf den Widerspruch der Klägerin erklärte sich die Beklagte bereit, aufgrund der eingetretenen fingierten Genehmigung im Umfang des Kostenvoranschlags zu leisten. Sie lehnte es jedoch ab, sich an Kosten für Behandlungen ab dem 26.11.2016 zu beteiligen, da die Klägerin an diesem Tag ihr 40. Lebensjahr vollende (23.11.2016). Sie wies im Übrigen den Widerspruch der Klägerin zurück (Widerspruchsbescheid vom 12.4.2017). Das SG hat die Beklagte verurteilt, "der Klägerin drei Behandlungszyklen einer IVF-Behandlung zu gewähren und hierbei ihr die bereits entstandenen Kosten des 1. Behandlungszyklus zu erstatten" (Urteil vom 24.10.2017). Die Klägerin hat - beginnend mit September 2017 - für inzwischen zwei, im letzteren Fall nur teilweise durchgeführte Behandlungszyklen für sich und ihren Ehegatten insgesamt 4735,20 Euro aufgewendet. Das LSG hat die Klage abgewiesen: Die Klägerin habe die beantragte Leistung nach Vollendung des 40. Lebensjahres subjektiv nicht mehr für erforderlich halten dürfen (Urteil vom 5.9.2018).

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 13 Abs 3a SGB V. Das LSG habe die Bestimmtheit des Antrags vom 1.5.2016 zu Unrecht verneint. Die Genehmigungsfiktion führe dazu, dass die Leistungsvoraussetzungen nicht mehr im Einzelnen zu prüfen seien; dies gelte auch für die gesetzliche Altersgrenze von IVF-Behandlungen. Zu der Frage, ob die Klägerin die Maßnahme subjektiv für erforderlich halten durfte, habe das LSG keine Feststellungen getroffen.

Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 5. September 2018 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Augsburg vom 24. Oktober 2017 mit der Maßgabe zurückzuweisen, dass die Beklagte verurteilt wird, der Klägerin zwei weitere IVF-Behandlungszyklen zu gewähren und 2104,70 Euro zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Im Ergebnis zu Recht hat das LSG das SG-Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf künftige Versorgung mit künstlicher Befruchtung und Kostenerstattung für bereits durchgeführte Behandlungen.

1. Die von der Klägerin erhobene allgemeine Leistungsklage ist zulässig. Nach § 54 Abs 5 SGG kann die Verurteilung zu einer Leistung, auf die ein Rechtsanspruch besteht, auch dann begehrt werden, wenn ein Verwaltungsakt nicht zu ergehen hatte. Hierfür genügt es, dass ein bindender Verwaltungsakt (§ 77 SGG) vorliegt, der Leistungsträger aber gleichwohl nicht leistet (vgl BSGE 50, 82, 83 = SozR 1500 § 54 Nr 40 S 22 f; Zeihe in Zeihe/Hauck, SGG, Stand März 2019, § 54 RdNr 43b). Ist die Genehmigung einer beantragten Leistung kraft Fiktion erfolgt, steht dies der Bewilligung der beantragten Leistung durch einen Leistungsbescheid gleich. Die Genehmigungsfiktion bewirkt ohne Bekanntgabe (§§ 37, 39 Abs 1 SGB X) einen in jeder Hinsicht voll wirksamen Verwaltungsakt iS von § 31 S 1 SGB X. Durch den Eintritt der Fiktion verwandelt sich der hinreichend inhaltlich bestimmte Antrag in den Verfügungssatz des fingierten Verwaltungsakts. Er hat zur Rechtsfolge, dass das in seinem Gegenstand durch den Antrag bestimmte Verwaltungsverfahren beendet ist und dem Versicherten unmittelbar ein Anspruch auf Versorgung mit der Leistung zusteht (vgl zum Ganzen BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 8 mwN).

Die daneben im Wege der objektiven Klagehäufung (§ 56 SGG) erhobene isolierte Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung, mit der die Beklagte eine neue Sachentscheidung traf, ist zulässig (BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 37 RdNr 11; vgl ähnlich auch BSGE 75, 262, 265 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2 S 15).

2. Die Klage ist jedoch nicht begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf künftige Versorgung mit der beantragten künstlichen Befruchtung und auf Kostenerstattung der bereits durchgeführten Behandlungen. Ein mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage zu verfolgender Naturalleistungsanspruch aus § 27a Abs 3 S 1 SGB V und ein Anspruch auf sachleistungsersetzende Kostenerstattung aus § 13 Abs 3 S 1 Fall 2 SGB V kommt nicht in Betracht, wie die Beteiligten nicht verkennen. Denn der Anspruch besteht nicht ua für weibliche Versicherte, die das 40. Lebensjahr vollendet haben (zur Verfassungsmäßigkeit der Altersgrenze vgl BSG SozR 4-2500 § 27a Nr 7). So liegt es bei der Klägerin. Sie vollendete am 26.11.2016 ihr 40. Lebensjahr. Die Klägerin hat aber auch keinen Anspruch aufgrund fingierter Genehmigung nach § 13 Abs 3a S 7 SGB V.

Der erkennende Senat kann nicht abschließend darüber entscheiden, ob überhaupt eine Genehmigungsfiktion der Versorgung mit der beantragten künstlichen Befruchtung eintrat (dazu a). Falls es zu einer fingierten Genehmigung kam, kann die Klägerin ihr Leistungsbegehren ab Vollendung des 40. Lebensjahres nicht mehr auf eine fingierte Genehmigung ihres Antrags stützen (dazu b).

a) Wenn eine Genehmigungsfiktion der Versorgung mit der beantragten künstlichen Befruchtung eintrat, erfolgte dies erst aufgrund des Antrags vom 21.6.2016.

aa) Die am 1.5.2016 beantragte Leistung galt nicht als genehmigt nach § 13 Abs 3a SGB V (idF durch Art 2 Nr 1 Gesetz zur Verbesserung der Rechte von Patientinnen und Patienten <PatRVerbG> vom 20.2.2013, BGBl I 277, mWv 26.2.2013). Die Norm erfasst zwar die von der Klägerin im Mai 2016 beantragte Leistung zeitlich (vgl dazu BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 15 mwN; BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 9) und auch als eine ihrer Art nach der Genehmigungsfiktion zugängliche Leistungsart der Krankenbehandlung. Die Klägerin war als Versicherte leistungsberechtigt. Ob der Antrag auf IVF/künstliche Befruchtung hinreichend bestimmt war, bedarf keiner Vertiefung. Jedenfalls lag die am 1.5.2016 beantragte Leistung zu diesem Zeitpunkt offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV).

Um als genehmigt zu gelten, muss der Antrag des Berechtigten eine Leistung betreffen, die er für erforderlich halten darf und die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegt. Die Gesetzesregelung ordnet diese Einschränkungen für die Genehmigungsfiktion zwar nicht ausdrücklich an, aber sinngemäß nach dem Regelungszusammenhang und -zweck. Die Begrenzung auf erforderliche Leistungen bewirkt eine Beschränkung auf subjektiv für den Berechtigten erforderliche Leistungen, die nicht offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV liegen. Einerseits soll die Regelung es dem Berechtigten erleichtern, sich die ihm zustehende Leistung zeitnah zu beschaffen. Andererseits soll sie ihn nicht zu Rechtsmissbrauch einladen, indem sie Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwindet, die jedem Versicherten klar sein müssen (vgl BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 26; BSGE 123, 293 = SozR 4-2500 § 13 Nr 36, RdNr 21 mwN).

Rechtsmissbräuchlich ist es ua, Leistungen zu beanspruchen, die objektiv offensichtlich die Leistungsgrenzen des GKV-Leistungskatalogs überwinden, die jedem Versicherten klar sein müssen (vgl BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 26). Hierfür genügt es, dass das Gesetz formale oder jedem deutliche Anspruchsvoraussetzungen wie etwa Altersgrenzen regelt, die bei Antragstellung nicht erfüllt sind oder später entfallen. Solche gesetzlichen Voraussetzungen müssen jedem Versicherten geläufig sein. Die Klägerin erfüllte schon formale gesetzliche Anspruchsvoraussetzungen nicht.

Die Leistungen der Krankenbehandlung umfassen nach § 27a Abs 1 SGB V auch medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft, wenn 1. diese Maßnahmen nach ärztlicher Feststellung erforderlich sind, 2. nach ärztlicher Feststellung hinreichende Aussicht besteht, dass durch die Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt wird; eine hinreichende Aussicht besteht nicht mehr, wenn die Maßnahme drei Mal ohne Erfolg durchgeführt worden ist, 3. die Personen, die diese Maßnahmen in Anspruch nehmen wollen, miteinander verheiratet sind, 4. ausschließlich Ei- und Samenzellen der Ehegatten verwendet werden und 5. sich die Ehegatten vor Durchführung der Maßnahmen von einem Arzt, der die Behandlung nicht selbst durchführt, über eine solche Behandlung unter Berücksichtigung ihrer medizinischen und psychosozialen Gesichtspunkte haben unterrichten lassen und der Arzt sie an einen der Ärzte oder eine der Einrichtungen überwiesen hat, denen eine Genehmigung nach § 121a SGB V erteilt worden ist.

Beim Antrag vom 1.5.2016 bestand schon formal hinsichtlich der Klägerin und ihres Ehegatten weder eine ärztliche Feststellung, dass medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich seien noch dass hinreichende Aussicht bestehe, dass durch solche Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt werde.

bb) Der erkennende Senat kann nicht abschließend entscheiden, ob die am 21.6.2016 beantragte Leistung als genehmigt galt. Die Beklagte hielt zwar die gebotene Fünf-Wochen-Frist für eine Verbescheidung nicht ein. Dem Antrag war ein Plan für eine ICSI-Behandlung nach Muster 70a/E und ein Kostenvoranschlag hierzu von IVF Zentren Prof. Z beigefügt. Auch wenn hierin die ärztliche Feststellung liegen sollte, dass medizinische Maßnahmen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich seien und hinreichende Aussicht bestehe, dass durch solche Maßnahmen eine Schwangerschaft herbeigeführt werde, fehlt es an Feststellungen des LSG dazu, dass sich die Ehegatten vor Durchführung der Maßnahmen von einem Arzt, der die Behandlung nicht selbst durchführt, über eine solche Behandlung unter Berücksichtigung ihrer medizinischen und psychosozialen Gesichtspunkte haben unterrichten lassen und der Arzt sie an einen der Ärzte oder eine der Einrichtungen überwiesen hat, denen eine Genehmigung nach § 121a SGB V erteilt worden ist, wie es die Klägerin im Klageverfahren behauptet hat.

b) Die Klägerin kann ihr Leistungsbegehren ab Vollendung des 40. Lebensjahres jedenfalls nicht mehr auf eine fingierte Genehmigung der beantragten Leistung stützen, wenn es zu einer fingierten Genehmigung kam. Denn die am 21.6.2016 beantragte Leistung lag ab diesem Zeitpunkt nach der klaren gesetzlichen Altersgrenze offensichtlich außerhalb des Leistungskatalogs der GKV, was jedem Versicherten klar sein muss. Will sich der Berechtigte die genehmigte Leistung zu Lasten seiner KK beschaffen, muss sie auch noch im Zeitpunkt der Beschaffung erforderlich, die Beschaffung nicht rechtsmissbräuchlich sein. Hat sich etwa die fingierte Genehmigung bei der Beschaffung erledigt, hat dies zur Folge, dass die Leistung nicht mehr (subjektiv) erforderlich ist (vgl BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 30).

Sind Bestand oder Rechtswirkungen einer Genehmigung für den Adressaten erkennbar von vornherein an den Fortbestand einer bestimmten Situation gebunden, so wird sie gegenstandslos, wenn die betreffende Situation nicht mehr besteht (stRspr, vgl zB BSG Urteil vom 26.2.2019 - B 1 KR 18/18 R - Juris RdNr 41, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 31; BSG SozR 4-5540 Anl 9.1 Nr 5 RdNr 18 mwN; BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 13 f; insoweit unzutreffend das vorinstanzliche LSG-Urteil). So kann etwa - für den Versicherten erkennbar - eine "Erledigung auf andere Weise" einer fingierten Genehmigung einer beantragten Krankenbehandlung eintreten, wenn die ursprünglich behandlungsbedürftige Krankheit nach ärztlicher, dem Betroffenen bekannter Einschätzung vollständig geheilt ist: Es verbleibt durch diese Änderung der Sachlage für die getroffene Regelung kein Anwendungsbereich mehr. Sie kann nach ihrem Inhalt und Zweck keine Geltung für den Fall derart veränderter Umstände beanspruchen (vgl BSGE 121, 40 = SozR 4-2500 § 13 Nr 33, RdNr 31). Dies muss sich für den Betroffenen unzweifelhaft erschließen (vgl entsprechend BSGE 84, 195 = SozR 3-8585 § 1 Nr 1; BSG SozR 3-1300 § 39 Nr 7 S 13 f). So liegt es ab Vollendung des 40. Lebensjahres der Klägerin hier.

3. Auch die Anfechtungsklage gegen die Ablehnungsentscheidung ist unbegründet. Die Beklagte lehnte es rechtmäßig ab, sich an Kosten für Behandlungen ab 26.11.2016 zu beteiligen, wie oben dargelegt.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

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