Soziales Entschädigungsrecht - Häftlingshilfe - Wohnortbeschränkung von Volksdeutschen in der ehemaligen Sowjetunion - Atomwaffenversuche in der Nähe des Wohnorts - Strahlungsbelastung als Schädigungsfolge - Geburt im Gewahrsam - Anschlussgewahrsam - Beweiswirkung der Häftlingshilfebescheinigung - Ursächlichkeit - gewahrsamseigentümliche Umstände - wertende Betrachtung - Zweck der Häftlingshilfe - besondere Betroffenheit der benachteiligten deutschen Minderheit - Zeckenbiss - allgemeines Lebensrisiko - sozialgerichtliches Verfahren - zeitliche Begrenzung des Streitgegenstands in den Vorinstanzen - Erweiterung im Revisionsverfahren - neuer Tatsachenvortrag - Sachaufklärungsrüge - Anforderungen an die Revisionsbegründung
1. Eine Strahlenbelastung durch Atomwaffenversuche in der ehemaligen Sowjetunion kann einen Entschädigungsanspruch auch für solche deutschen Volkszugehörigen begründen, die der Strahlung erst im Anschlussgewahrsam nach ihrer Internierung ausgesetzt waren.
2. Nicht entschädigungspflichtig sind Umstände, die Gewahrsamsunterworfene in derselben Weise getroffen haben können wie alle anderen sowjetischen Staatsbürger oder die Bürger der Bundesrepublik.
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Juni 2018 wird zurückgewiesen.
Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Häftlingshilfegesetzes (HHG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die Eltern der Klägerin sind im Gebiet der Ukraine geborene deutsche Volkszugehörige. 1944 siedelten sie in das Gebiet des damaligen Deutschen Reichs über und erhielten die deutsche Staatsbürgerschaft. Ende 1945 wurden sie von dort in eine sog Sondersiedlung bei Irkutsk/Sibirien verschleppt. Die Eltern wurden unter Kommandanturaufsicht gestellt und mussten Zwangsarbeit verrichten. Die Klägerin wurde im Dezember 1955 in der Sondersiedlung geboren.
Nach dem Ende der Kommandanturaufsicht verzog die Familie der Klägerin im Jahr 1957 zu Verwandten nach Semipalatinsk/Kasachstan, das ca 150 Kilometer entfernt von dem Atomwaffentestgelände der Sowjetunion lag. Diese führte dort zwischen 1949 und 1989 überwiegend zu militärischen Zwecken nukleare Bombentests durch.
Mitte der 1970er Jahre verzog die Klägerin mit ihrer Familie nach Moldawien, von wo aus sie im Februar 1979 in die Bundesrepublik Deutschland ausreiste. Die Klägerin ist Inhaberin einer Bescheinigung des Landkreises H. nach § 10 Abs 4 HHG. Darin wird die Gesamtzeit zwischen der Geburt der Klägerin und ihrer Ausreise aus der Sowjetunion als politischer Gewahrsam iS von § 1 Abs 1 und 5 HHG bescheinigt. Seit 1998 bezieht sie eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.
Im November 2007 beantragte die Klägerin Beschädigtenversorgung wegen körperlicher und vor allem seelischer Erkrankungen wie Depressionen, Angst, Schlafstörungen, - zumindest teilweise psychosomatischer - Schmerzen sowie einer Schilddrüsenerkrankung. Diese Gesundheitsstörungen seien durch die in der Nähe von Semipalatinsk durchgeführten sowjetischen Atombombenversuche und durch eine Borrelien-Infektion aufgrund von Zeckenbissen während ihres dortigen Aufenthalts verursacht worden.
Der Beklagte lehnte den Antrag nach medizinischen Ermittlungen ab. Wegen fehlender Brückensymptome ließen sich die Gesundheitsstörungen nicht auf die Einflüsse des Gewahrsams der Klägerin in Semipalatinsk zurückführen (Bescheid vom 17.4.2008, Widerspruchsbescheid vom 27.10.2010).
Im Klageverfahren hat das SG ua ein Gutachten des Strahlenbiologen Prof. Dr. M. vom 25.2.2013 nebst ergänzender Stellungnahme vom 18.7.2013 eingeholt. Es hat von den geltend gemachten Gesundheitsstörungen allein die Schilddrüsenerkrankung der Klägerin mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf die am Wohnort in Semipalatinsk empfangene ionisierende Strahlung zurückgeführt, wegen der guten Behandelbarkeit allerdings nicht mit einem Grad der Schädigungsfolgen (GdS) bewertet. Der Beklagte hat daraufhin mit von der Klägerin angenommenen Anerkenntnis vom 25.4.2013 eine "Schilddrüsenunterfunktion bei Hashimoto-Thyreoditis infolge vermehrter Strahlenbelastung" als Schädigungsfolge anerkannt, die jedoch keinen GdS bedinge.
Die darüber hinaus auf Feststellung weiterer Gesundheitsschäden und Zahlung einer Beschädigtenrente gerichtete Klage hat das SG abgewiesen. Zwar habe der Gewahrsam der Klägerin ihren Aufenthalt in Semipalatinsk geprägt. Auch sei davon auszugehen, dass sie dort einer erhöhten Strahlenbelastung und einer gesteigerten Zeckenbissgefahr ausgesetzt gewesen sei. Weitere Gesundheitsstörungen seien darauf aber nach dem Ergebnis der im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zurückzuführen (Urteil vom 18.2.2014).
Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Zwischen den Gesundheitsschäden der Klägerin und ihrem Gewahrsam bestehe allenfalls ein mittelbarer Zusammenhang. Die Einwirkung ionisierender Strahlung auf die Klägerin in Semipalatinsk sei nicht vom Schutzbereich des § 4 Abs 1 HHG umfasst. Die Klägerin und ihre Familie seien durch den Gewahrsam nach Ende der Kommandanturaufsicht nicht gehindert gewesen, ihren Wohnsitz in sicherer Entfernung vom Atomwaffentestgelände zu nehmen. Die mögliche Unkenntnis von der Strahlengefahr beruhe ebenfalls nicht auf dem Gewahrsam, sondern auf der gezielten Desinformation der sowjetischen Behörden. Diese habe sich nicht speziell gegen die Menschen im Gewahrsam, sondern unterschiedslos gegen die gesamte Wohnbevölkerung gerichtet. Ebenso wenig sei nachvollziehbar, warum für die Klägerin durch ihr Leben in Semipalatinsk ein erhöhtes Risiko für einen Zeckenbiss bestanden haben sollte, weder im Vergleich zu einem gedachten Leben in der Bundesrepublik Deutschland noch erhöht gegenüber der übrigen Wohnbevölkerung in Semipalatinsk. Unabhängig davon könne die Klägerin die Anerkennung weiterer Schädigungsfolgen auch deshalb nicht verlangen, weil es nicht wahrscheinlich sei, dass die weiteren von ihr geltend gemachten Gesundheitsstörungen durch ionisierende Strahlung verursacht worden seien. Das ergebe sich insbesondere aus dem vom SG eingeholten strahlenbiologischen Gutachten des Prof. Dr. M. nebst ergänzender Stellungnahme (Urteil vom 7.6.2018).
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 4 Abs 1 HHG. Ohne ihre politische Ingewahrsamnahme in Semipalatinsk wäre sie keiner erhöhten Strahlung infolge der sowjetischen Atomwaffenversuche ausgesetzt gewesen und hätte nicht die geltend gemachten Gesundheitsschäden erlitten. Der Gesetzgeber habe dies im HHG dem Grunde nach auch anerkannt, weil er für Schäden die soziale Verantwortung übernehmen und haften wolle, die Volksdeutschen während ihres politischen Gewahrsams entstanden seien. Zudem habe das LSG seine Aufklärungspflicht nach § 103 SGG verletzt, weil es das übersandte Material über Strahlenbelastungen in Semipalatinsk aus dem "Dispensarium Nr. 4" nicht ausgewertet und daher auch eine mögliche Schädigung im Mutterleib bzw als Kleinkind in Sibirien nicht geprüft habe.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Juni 2018 und des Sozialgerichts Hannover vom 18. Februar 2014 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 17. April 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27. Oktober 2010 und des Teilanerkenntnisses vom 25. April 2013 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, der Klägerin wegen ihrer Angsterkrankung, ihres depressiven und psychovegetativen Syndroms sowie ihrer Herz- und Kreislaufbeschwerden als Folge ihres Aufenthalts in Semipalatinsk/Kasachstan ab 1. November 2007 Beschädigtenrente nach den Vorschriften des Häftlingshilfegesetzes iVm dem Bundesversorgungsgesetz zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt das angefochtene LSG-Urteil. Die von der Klägerin geltend gemachten Gesundheitsstörungen könnten (über das Teilanerkenntnis hinaus) nicht kausal auf mögliche Schädigungen während des Gewahrsams in Semipalatinsk zurückgeführt werden.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Klägerin ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Wie der Beklagte und die Vorinstanzen zu Recht angenommen haben, hat die Klägerin keinen Anspruch auf Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und daher auch nicht auf Zahlung einer Beschädigtenrente nach § 4 Abs 1 HHG iVm §§ 30, 31 BVG.
1. Streitgegenstand ist ein Anspruch der Klägerin auf Feststellung weiterer Gesundheitsschäden durch ihren Aufenthalt im Gebiet von Semipalatinsk und Gewährung einer Beschädigtenrente, den der Beklagte mit Bescheid vom 17.4.2008 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 27.10.2010 (§ 95 SGG) sowie des Teilanerkenntnisses vom 25.4.2013 und die Vorinstanzen verneint haben. Mit ihrem Revisionsantrag hat die Klägerin klargestellt, dass der Streitgegenstand allein auf die Zeit ihres Aufenthalts in Semipalatinsk beschränkt ist.
2. Der geltend gemachte Entschädigungsanspruch besteht nicht. Die Klägerin gehört zwar nach § 1 Abs 1 und Abs 5 HHG zum Personenkreis, der Anspruch auf Entschädigungsleistungen nach dem HHG iVm dem BVG haben kann (dazu unter a). Über die vom Beklagten bereits als Schädigungsfolge anerkannte Schilddrüsenerkrankung hinaus hat die Klägerin jedoch keine weitere gesundheitliche Schädigung iS von § 4 Abs 1 HHG infolge des Gewahrsams erlitten (dazu unter b).
a) Die Klägerin gehört zum geschützten Personenkreis nach § 1 HHG idF des Gesetzes vom 2.6.1993 (BGBl I 838). Dies ergibt sich für jedermann und damit auch für die Beteiligten gemäß § 10 Abs 4 HHG mit Beweiswirkung aus der Bescheinigung des Landkreises H. vom 24.6.1981 (zur Bindungswirkung der HHG-Bescheinigung s allg BSG Urteil vom 2.3.1983 - 9a RVh 1/82 - juris RdNr 10; BVerwG Urteil vom 26.7.1978 - VIII C 72.77 - Buchholz 412.6 § 10 HHG Nr 12 S 5). Danach befand sich die Klägerin vom Zeitpunkt ihrer Geburt im Dezember 1955 in der Sondersiedlung in Irkutsk/Sibirien in Gewahrsam iS von § 1 Abs 1 Nr 1 HHG, weil sie dort iS von Abs 5 Satz 1 der Vorschrift zusammen mit ihren Eltern auf eng begrenztem Raum unter dauernder Bewachung festgehalten wurde. Anschließend lebte die Klägerin bis zu ihrer Ausreise am 13.2.1979 in Semipalatinsk im sog Anschlussgewahrsam gemäß § 1 Abs 5 Satz 2 HHG; denn bis dahin war sie an der Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland gehindert.
Entgegen der Ansicht des LSG sind die genannten Vorschriften zur Begründung dieser Rechtsfolge nicht analog anzuwenden. Zwar ist die Klägerin nicht in Gewahrsam genommen oder gegen ihren Willen in ausländisches Staatsgebiet verbracht, sondern dort geboren worden. Sie ist aber nicht in Freiheit, sondern in den Gewahrsam hineingeboren worden, der in der Person ihrer Eltern bestand. Von ihnen war sie rechtlich und wirtschaftlich vollkommen abhängig und teilte deshalb auch deren rechtliches Schicksal. Das gilt nicht nur für die - versorgungsrechtlich geschützte - besondere Gefahrenlage des Gewahrsams, sondern genauso für den folgenden Anschlussgewahrsam (vgl BVerwG Urteil vom 3.9.1980 - 8 C 8/78 - BVerwGE 60, 343, 353 f; BVerwG Urteil vom 28.10.1983 - 8 C 38/82 - Buchholz 412.6 § 1 HHG Nr 26 S 3; vgl zur Internierung Senatsurteil vom 27.9.2018 - B 9 V 2/17 R - zur Veröffentlichung in BSGE und SozR 4-3100 § 1 Nr 4 vorgesehen, RdNr 21).
b) Über die vom Beklagten bereits anerkannte Schilddrüsenerkrankung hinaus hat die Klägerin jedoch keine weitere gesundheitliche Schädigung infolge des Gewahrsams iS von § 4 Abs 1 HHG (idF des Gesetzes vom 20.6.2011, BGBl I 1114) erlitten, für deren gesundheitliche und wirtschaftliche Folgen sie Entschädigung verlangen könnte. Die geltend gemachten (weiteren) Strahlenschäden sind nicht durch die Umstände des Anschlussgewahrsams in Semipalatinsk verursacht worden. Zwar ist der Anschlussgewahrsam als wesentlich für die Einwirkung ionisierender Strahlungen auf die Klägerin während ihres Aufenthalts in Semipalatinsk anzusehen (dazu unter aa und bb). Hingegen lassen sich die von der Klägerin angeführten Zeckenbisse nicht auf ihren Anschlussgewahrsam zurückführen (dazu unter cc). Es lässt sich - wie das LSG zu Recht entschieden hat - nicht nachweisen, dass die ionisierende Strahlungseinwirkung - über die bereits als Schädigungsfolge anerkannte Schilddrüsenerkrankung hinaus - mit Wahrscheinlichkeit iS von § 4 Abs 5 Satz 1 HHG weitere Gesundheitsstörungen verursacht hat (dazu unter dd). Zulässige und begründete Verfahrensrügen hiergegen hat die Klägerin nicht erhoben (dazu unter ee).
aa) Voraussetzung für einen Versorgungsanspruch der Klägerin nach § 4 Abs 1 HHG ist das Vorliegen einer gesundheitlichen Schädigung, die durch einen schädigenden Vorgang infolge des Gewahrsams herbeigeführt worden ist. Ein solcher schädigender Vorgang bzw schädigendes Ereignis infolge des Gewahrsams muss eine Gesundheitsschädigung (iS eines Primär- oder Erstschadens) verursacht haben. Sie muss wiederum die geltend gemachten gesundheitlichen Schädigungsfolgen - also die verbliebenen Gesundheitsstörungen - wesentlich bedingt haben, deren Feststellung als Versorgungsleiden die Klägerin durch die Versorgungsverwaltung begehrt. Dabei müssen sich die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang infolge des Gewahrsams, Schädigung und Schädigungsfolgen) im Vollbeweis mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen lassen, während für den ursächlichen Zusammenhang zwischen ihnen eine hinreichende Wahrscheinlichkeit ausreicht (vgl Senatsurteil vom 27.9.2018 - B 9 V 2/17 R - aaO, RdNr 33 mwN).
Eine Gesundheitsschädigung kann nur dann einen Entschädigungsanspruch nach § 4 Abs 1 HHG begründen, wenn sie durch Umstände des Gewahrsams iS der auch in der Kriegsopferversorgung geltenden Theorie der wesentlichen Bedingung verursacht worden ist (vgl Senatsurteil vom 8.5.1981 - 9 RV 24/80 - juris RdNr 22; zur Kriegsgefangenschaft vgl BSG Urteil vom 22.6.1972 - 10 RV 234/71 - juris RdNr 17 mwN). Nicht alle Umstände des Gewahrsams kommen als geeignete Ursachen im Rechtssinne infrage, sondern - wie das LSG zu Recht angenommen hat - nur solche, die als gewahrsamseigentümlich in den Schutzbereich des § 4 Abs 1 HHG fallen. Dies sind nur diejenigen Umstände, die dem Gewahrsam seiner Art nach als spezifische Gefahren eigentümlich zuzurechnen sind und vor deren Folgen das Gesetz die Gewahrsamsunterworfenen deshalb schützen soll. Insbesondere ein rein zeitlicher Zusammenhang, also eine Schädigung während des Gewahrsams, genügt für sich genommen nicht. Allein das Andauern einer Freiheitsbeschränkung reicht daher noch nicht aus, zumal nicht bei dem vom Gesetz weit gefassten Anschlussgewahrsam iS von § 1 Abs 5 Satz 2 HHG, der während des gesamten erzwungenen Aufenthalts im fremden Staatsgebiet fortbesteht. Als gewahrsamseigentümliche spezifische Gefahren sind deshalb nicht unterschiedslos alle Lebensumstände während des erzwungenen Auslandsaufenthalts zu berücksichtigen, sondern nur solche, die für den Betroffenen persönlich durch den Gewahrsam geprägt gewesen sind, weil sie sich aus seiner besonderen Eigenart ergeben und daher eng mit ihm zusammenhängen. Einwirkungen, die jeden anderen Staatsbürger im Gewahrsamsgebiet als Teil des allgemeinen Lebensrisikos in derselben Weise treffen können, genügen dagegen regelmäßig nicht. Ausnahmsweise können aber auch landeseigentümliche Umstände als gewahrsamstypisch im anspruchsbegründenden Sinn zu werten sein, wenn die Betroffenen Opfer einer Besonderheit geworden sind, die für sie in Deutschland so nicht bestanden hätte (vgl BSG Urteil vom 2.3.1983 - 9a RVh 1/82 - juris RdNr 12 und 15 mwN).
bb) Nach diesem Maßstäben erfolgte die Einwirkung ionisierender Strahlungen durch die sowjetischen Atomwaffentests auf die Klägerin während ihres Aufenthalts in Semipalatinsk infolge ihres dortigen Anschlussgewahrsams. Bei wertender Betrachtung stellt dieser Gewahrsam eine im Rechtssinne wesentliche Bedingung für diese Strahlenbelastung dar, weil ein spezifischer Ursachenzusammenhang zu seiner besonderen freiheitsbeschränkenden Eigenart anzunehmen ist. Nach der Rechtsprechung des BVerwG (Urteil vom 3.9.1980 - 8 C 8/78 - BVerwGE 60, 343, 352; Urteil vom 26.7.1978 - VIII C 72.77 - Buchholz 412.6 § 10 HHG Nr 12 S 14) setzt ein Anschlussgewahrsam einen Rückkehrwillen der Betroffenen voraus. Denn ohne ihn können sie nicht iS von § 1 Abs 5 Satz 2 HHG an der Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland gehindert gewesen sein. Während ihres Anschlussgewahrsams in Semipalatinsk befanden sich die Klägerin und ihre Familie trotz einer Lockerung ihrer Aufenthaltsbeschränkungen weiterhin in einer schicksalhaften besonderen Zwangslage. Sie konnten sich der dortigen atomwaffentestbedingten ionisierenden Strahlung nicht durch die angestrebte Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland entziehen. Die Strahlungseinwirkung aufgrund der sowjetischen Atomwaffentests war dem Anschlussgewahrsam somit nach Zeit, Raum, Ort und Art unmittelbar zuzurechnen und für die Betroffenen damit persönlich zwingend verbunden (vgl zur Internierung Senatsurteil vom 27.9.2018 - B 9 V 2/17 R - aaO, RdNr 36 mwN).
Entgegen der Ansicht des LSG kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die in Gewahrsam genommenen Russlanddeutschen ihren Wohnsitz möglicherweise innerhalb des ihnen im Rahmen des Anschlussgewahrsams erlaubten Gebiets in der Sowjetunion, aber in sicherer Entfernung von dem Atomwaffentestgelände hätten nehmen können. Ob ihnen ein solcher Umzug wegen des in der Sowjetunion allgemein geltenden Systems der Propiska (Wohnsitzgenehmigung) tatsächlich und rechtlich überhaupt ohne weiteres möglich gewesen wäre (s hierzu Senatsurteil vom heutigen Tage - B 9 V 4/18 R - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen), kann daher dahingestellt bleiben. Denn zum einen bestand für die Betroffenen hierfür kein Anlass, weil sie damals noch keine (sichere) Kenntnis von der gesundheitsschädlichen Wirkung der durch die Atomwaffentests erzeugten ionisierenden Strahlung hatten, und zum anderen war ihr eigentliches Ziel nicht die Verlagerung oder Verfestigung ihres Wohnsitzes an einem Ort innerhalb des für den Anschlussgewahrsam erlaubten Gebiets der Sowjetunion, sondern allein die Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland.
Für den Senat bindend festgestellt hat das Berufungsgericht zwar, dass die Wahl des Wohnorts Semipalatinsk durch die Eltern der Klägerin darauf beruhte, dass Verwandte dort wohnten. Dahingestellt bleiben kann, ob damit - wie das LSG offenbar angenommen hat - eine freie Entscheidung hinsichtlich eines Wohnortwechsels im "erlaubten Gebiet" innerhalb der Sowjetunion deutlich wird. Unabhängig von dem auch für deutsche Volkszugehörige in der Sowjetunion geltenden System der Propiska könnten hier bereits deshalb Zweifel bestehen, weil das Dekret des Präsidiums des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 13.12.1955 "Über die Aufhebung der Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und der Mitglieder ihrer Familien, die sich in Sondersiedlungen befinden" (abgedruckt bei Eisfeld/Herdt, Deportation, Sondersiedlung, Arbeitsarmee. Deutsche in der Sowjetunion 1941 bis 1956, 1996, 454 f) zwar die durch die Sondersiedlungen bedingten (Freiheits-)Einschränkungen beseitigte, nicht aber die Beschlagnahme des Vermögens der Russlanddeutschen bei ihrer Deportation. Darüber hinaus durften sie nicht mehr in ihre Herkunftsgebiete zurückkehren (vgl hierzu auch Dalos, Geschichte der Russlanddeutschen, 2014, S 221 f). Vor diesem wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Hintergrund blieb den weitgehend mittellosen deportierten Deutschen und deutschen Volkszugehörigen nach Aufhebung der Kommandanturaufsicht möglicherweise kaum eine andere Wahl, als - soweit vorhanden - zu Verwandten in den ihnen "erlaubten (Gewahrsams-)Gebieten" zu ziehen und dort bis zur (erhofften) Aufhebung der Rückkehrverhinderung nach Deutschland zu verbleiben. Im Übrigen hat das LSG auch nicht festgestellt, welchen (strahlungs-)sicheren und erlaubten Wohnort die Klägerin und ihre Familie außerhalb des Gebiets von Semipalatinsk konkret hätten wählen können.
Die gesundheitlichen Gefahren durch atomwaffentestbedingte Strahlung kann für Anspruchsberechtigte nach dem HHG auch nicht allein deshalb als Teil ihres entschädigungslos hinzunehmenden allgemeinen Lebensrisikos gewertet werden, weil die Sowjetunion auch andere Bevölkerungsgruppen solchen Gefahren ausgesetzt hat. Dem System der Sowjetunion und seiner gerade auch gegenüber deutschen Volkszugehörigen nach freiheitlich-demokratischer Auffassung als willkürlich zu wertenden Politik (vgl zu diesem Maßstab BVerwG Urteil vom 28.10.1983 - 8 C 38/82 - Buchholz 412.6 § 1 HHG Nr 26 S 2 mwN) war die Klägerin während ihres Zwangsaufenthalts in der Sowjetunion als Angehörige dieser gezielt benachteiligten deutschen Minderheit in besonderem Maße ausgeliefert. Die Klägerin konnte sich dieser staatlichen Willkür insbesondere nicht durch die gewünschte Rückkehr nach Deutschland entziehen. Gerade dies machte die spezifische freiheitsbeschränkende Eigenart ihres Anschlussgewahrsams iS eines Sonderschicksals der Volksdeutschen aus (vgl BVerwG Urteil vom 3.9.1980 - 8 C 8.78 - BVerwGE 60, 343, 347). Daher traf die Strahlenbelastung sie bei der durch das HHG und seiner Zweckbestimmung (vgl hierzu Begründung der Bundesregierung vom 11.6.1955 zum Gesetzentwurf des HHG, BT-Drucks 2/1450 S 5; BSG Urteil vom 22.2.1961 - 9 RV 946/58 - BSGE 14, 50, 53 = SozR Nr 1 zu § 1 HHG) gebotenen wertenden Betrachtung auch nicht in derselben Weise wie alle anderen nichtdeutschen Bevölkerungsgruppen, die sich in Semipalatinsk aufhielten.
cc) Die von der Klägerin angeführten Zeckenbisse lassen sich dagegen nicht auf ihren Anschlussgewahrsam in Semipalatinsk zurückführen. Das LSG konnte bereits nicht feststellen, ob die Klägerin schon während ihres dortigen Anschlussgewahrsams oder erst danach in der Bundesrepublik Deutschland Kontakt zu Zecken gehabt hat. Zudem scheidet insoweit ein spezifischer Ursachenzusammenhang zwischen dem Anschlussgewahrsam in Semipalatinsk und den (gedachten) Zeckenbissen aus. Dass das Risiko von Zeckenbissen als Teil des allgemeinen Lebensrisikos in der Sowjetunion gerade aufgrund des Anschlussgewahrsams deutsche Volkszugehörige anders und in höherem Ausmaß getroffen haben sollte als andere Bevölkerungsgruppen in der Sowjetunion oder die Bevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland, wird von der Klägerin nicht geltend gemacht und ist für den Senat auch sonst nicht ersichtlich.
dd) Obwohl der Anschlussgewahrsam damit als wesentlich für die Einwirkung ionisierender Strahlungen auf die Klägerin während ihres Aufenthalts in Semipalatinsk anzusehen ist, lässt sich nicht nachweisen, dass diese Strahlung - über die bereits als Schädigungsfolge anerkannte Schilddrüsenerkrankung hinaus - mit Wahrscheinlichkeit iS von § 4 Abs 5 Satz 1 HHG weitere Gesundheitsstörungen verursacht hat. Das ergibt sich aus den Feststellungen des LSG, die es auf das Gesamtergebnis des Verfahrens und insbesondere auf die bereits in der ersten Instanz eingeholten Sachverständigengutachten auf psychiatrischem und strahlenbiologischem Gebiet gestützt hat. Diese Feststellungen des LSG binden den Senat nach § 163 SGG auch hinsichtlich der von der Vorinstanz mit sachverständiger Hilfe vorgenommenen Kausalitätsprüfung (vgl BSG Urteil vom 23.4.2015 - B 2 U 10/14 R - BSGE 118, 255 = SozR 4-5671 Anl 1 Nr 2108 Nr 6, RdNr 20 mwN).
ee) Verfahrensrügen, mit welchen die Klägerin die nach § 163 SGG bestehende Bindung an die tatrichterlichen Feststellungen des LSG - insbesondere zur (fehlenden) Kausalität nach § 4 Abs 5 Satz 1 HHG - hätte beseitigen können, hat sie nicht erhoben.
(1) Das gilt zunächst für die zumindest sinngemäß erhobene Rüge der Klägerin einer Überschreitung der Grenzen der freien Beweiswürdigung durch das LSG. Das Tatsachengericht entscheidet gemäß § 128 Abs 1 Satz 1 SGG nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung; es ist in seiner Beweiswürdigung frei und lediglich an die Regeln der Logik und der Erfahrung gebunden. Das dem Gericht insofern eingeräumte Ermessen kann das Revisionsgericht nur begrenzt überprüfen. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung sind erst überschritten, wenn das Tatsachengericht gegen allgemeine Erfahrungssätze oder Denkgesetze verstößt, aber auch, wenn es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt (Senatsurteil vom 18.11.2015 - B 9 V 1/14 R - BSGE 120, 89 = SozR 4-3800 § 1 Nr 22, RdNr 23 mwN).
Solche Mängel, die auch bei einer aus anderen Gründen zugelassenen Revision nur auf Rüge zu überprüfen sind (vgl BSG Urteil vom 27.10.2009 - B 2 U 16/08 R - juris RdNr 16), macht die Klägerin mit ihrer Revision weder ausdrücklich noch konkludent geltend. Sie geht auch nicht näher ein auf die Frage eines Kausalzusammenhangs zwischen der Strahlenbelastung der Klägerin und weiterer Erkrankungen als derjenigen der Schilddrüse, die das LSG verneint hat.
(2) Soweit die Klägerin mit ihrer Revision ausdrücklich rügt, das LSG habe es unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz (§ 103 SGG) unterlassen, trotz des bereits von Amts wegen eingeholten strahlenbiologischen Gutachtens weiter zu ihrer Strahlenbelastung und deren gesundheitlichen Folgen zu ermitteln, hat sie es versäumt, iS von § 164 Abs 2 Satz 3 SGG die Tatsachen zu bezeichnen, die den Mangel ergeben sollen.
Notwendig hierfür wäre eine Darlegung gewesen, die das Revisionsgericht in die Lage versetzt, sich allein anhand der Revisionsbegründung ein Urteil darüber zu bilden, ob die angegriffene Entscheidung auf einem Verfahrensmangel beruhen kann (Senatsurteil vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - BSGE 102, 149 = SozR 4-1100 Art 85 Nr 1 <dort nicht veröffentlicht> = juris RdNr 69; BSG Urteil vom 7.4.1987 - 11b RAr 56/86 - SozR 1500 § 164 Nr 31 S 49 f). Der Revisionskläger muss dafür nicht nur im Einzelnen die zu ermittelnden Tatsachen bezeichnen, sondern darüber hinaus darlegen, wann und in welcher Form er diese Tatsachen in der Berufungsinstanz so vorgebracht hat, dass sich das LSG aufgrund des Berufungsvorbringens zu einer weiteren Tatsachenermittlung hätte gedrängt fühlen müssen. Zu den erforderlichen Darlegungen der Rüge gehört es auch, konkrete Beweismittel zu benennen, deren Erhebung sich dem LSG hätte aufdrängen müssen. Es ist ferner darzulegen, zu welchem Ergebnis nach Auffassung des Revisionsklägers die für erforderlich gehaltenen Ermittlungen geführt hätten (Senatsurteil vom 11.12.2008 - B 9 VS 1/08 R - aaO mwN).
Diese Anforderungen erfüllt die Revisionsbegründung nicht. Die Klägerin begründet ihre Sachaufklärungsrüge damit, das LSG hätte ermitteln müssen, ob sie bereits im Mutterleib oder als Säugling in Irkutsk/Sibirien durch radioaktive Strahlung infolge der Atomwaffentests in Semipalatinsk gesundheitlich dauerhaft geschädigt worden sei. Sie legt indes schon nicht dar, wann und wie sie die zugrunde liegenden Tatsachen im Berufungsverfahren in geeigneter Weise vorgebracht hat. Dort hat sie vielmehr als schädigende Ursache weiterer insbesondere strahlenbedingter Erkrankungen nur die Einwirkungen in Semipalatinsk geltend gemacht. Das LSG hat - wie auch bereits das SG - seine Ermittlungen folgerichtig auf diesen Tatsachenkomplex beschränkt. Der Revisionsantrag hat diese zeitliche Begrenzung des Streitgegenstands bestätigt. Streitgegenstand bleibt danach allein das Entschädigungsbegehren aufgrund dieses bestimmten und zeitlich begrenzten Sachverhalts (vgl hierzu BSG Urteil vom 6.4.2011 - B 4 AS 119/10 R - BSGE 108, 86 = SozR 4-1500 § 54 Nr 21, RdNr 28 mwN), und zwar ausschließlich des Aufenthalts in Semipalatinsk und die gesundheitsschädliche Strahlungseinwirkung durch die sowjetischen Atomwaffentests auf dem in der Nähe gelegenen Testgelände.
Angesichts dessen fehlt es an der Darlegung, warum es sich bei dem Revisionsvorbringen zu einer möglichen Schädigung der Klägerin bereits im Mutterleib bzw als Kleinkind durch eine atomwaffentestbedingte Strahlungseinwirkung bereits in dem sehr weit vom Testgelände in Semipalatinsk gelegenen sibirischen Irkutsk in den Jahren 1955 und 1956 nicht um einen neuen Tatsachenvortrag handelt. Denn neues tatsächliches Vorbringen ist in der Revisionsinstanz grundsätzlich unbeachtlich, wie sich ebenfalls aus der von § 163 SGG angeordneten Bindung des Revisionsgerichts an die tatrichterlichen Feststellungen ergibt (vgl BSG Urteil vom 25.4.2002 - B 11 AL 89/01 R = BSGE 89, 250, 252 = SozR 3-4100 § 119 Nr 24 S 123; Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl 2017, § 163 RdNr 5). Ebenso wenig benannt hat die Klägerin ein hinreichend konkretes Beweismittel oder das voraussichtliche Ergebnis der von ihr diesbezüglich für nötig gehaltenen weiteren Ermittlungen.
3. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.