Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 26.11.2020, B 14 AS 56/19 R

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 8. November 2018 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung
und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Im Streit steht Alg II vom 30.10.2009 bis zum 31.1.2010 sowie vom 1.3. bis zum 30.11.2010 der Höhe nach wegen der Regelleistung.

Die Anträge des Klägers auf Alg II lehnte das beklagte Jobcenter ab (Bescheid vom 4.12.2009 auf den Antrag vom 30.10.2009; Ablehnungsbescheid im sog Zugunstenverfahren vom 23.4.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.11.2010) oder bewilligte dem Kläger Alg II als Partner in einer Bedarfsgemeinschaft (für Januar 2010 zuletzt Abhilfebescheid vom 29.6.2010; für März 2010 bis August 2010 Bescheid vom 25.2.2010 in der Fassung des Änderungsbescheids vom 12.4.2010 für April 2010 und in der Fassung des Änderungsbescheids vom 29.6.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29.6.2010; ab Oktober 2010 Bescheid vom 26.11.2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24.5.2011).

Das SG hat die für jeden Zeitabschnitt gesondert eingeleiteten Klageverfahren miteinander verbunden und den Beklagten für den Ablehnungszeitraum verpflichtet, dem Kläger Leistungen in gesetzlicher Höhe unter Berücksichtigung einer Bedarfsgemeinschaft mit der Zeugin zu bewilligen. Im Übrigen hat das SG die Klagen abgewiesen (Urteil vom 25.6.2015).

Im Berufungsverfahren hat der Berichterstatter darauf hingewiesen: "… dass die Berufung unzulässig sein dürfte … Die Beschwer des Klägers liegt allenfalls darin, dass ihm nicht die Regelleistung für Alleinstehende zugesprochen wurde. Diese Beschwer erreicht 750,00 € nicht, so dass die Berufung unzulässig ist. Es ist daher beabsichtigt die Berufung als unzulässig zu verwerfen …". Das LSG hat am 8.11.2018 durch Beschluss entschieden. Ein höherer Anspruch könne sich nur aus der höheren Regelleistung ergeben; der Differenzbetrag unterschreite im Streitzeitraum die Wertgrenze aus § 144 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGG deutlich. Obwohl wegen mehrerer Bewilligungszeiträume gestritten werde, handele es sich nicht um laufende Leistungen für mehr als ein Jahr.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision macht der Kläger eine Verletzung von § 144 Abs 1 Satz 2 SGG geltend. Bei einer Verbindung seien mehrere Streitzeiträume zusammenzurechnen.

Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Beschluss des Landessozialgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 8. November 2018 aufzuheben und das Urteil des Sozialgerichts Neubrandenburg vom 25. Juni 2015 zu ändern und den Beklagten unter Aufhebung des Bescheids vom 23. April 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2010 zu verpflichten, den Bescheid vom 4. Dezember 2009 aufzuheben sowie den Änderungsbescheid vom 29. Juni 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2010, den Änderungsbescheid vom 12. April 2010 für April 2010 und den Änderungsbescheid vom 29. Juni 2010 für März und Mai bis August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 29. Juni 2010 und den Bescheid vom 26. November 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. Mai 2011 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, ihm vom 30. Oktober 2009 bis zum 31. Dezember 2009, für Januar 2010 sowie von März bis November 2010 weiteres Alg II zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Revision ist im Sinne der Aufhebung des Beschlusses des LSG und Zurückverweisung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG), weil das LSG bei der Entscheidungsfindung nicht vorschriftsmäßig besetzt war, was zur Zurückverweisung zwingt.

Der Anspruch der Beteiligten auf den gesetzlichen Richter gemäß Art 101 Abs 1 Satz 2 GG sichert die vorschriftsmäßige Besetzung des Gerichts, auch in der Variante der Nichtmitwirkung eines zuständigen Richters (vgl BVerfG vom 14.6.1994 - 1 BvR 1022/88 - BVerfGE 91, 93, 117 = SozR 3-5870 § 10 Nr 5 S 39 mwN). Der Verstoß gegen das Verfahrensgrundrecht auf den gesetzlichen Richter ist im Revisionsverfahren bei einer strukturellen Fehlbesetzung auch ohne rechtzeitige (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG) Rüge von Amts wegen zu berücksichtigen (vgl BSG vom 23.8.2007 - B 4 RS 2/06 R - SozR 4-1500 § 155 Nr 1 RdNr 24; BSG vom 8.11.2007 - B 9/9a SB 3/06 R - BSGE 99, 189 = SozR 4-1500 § 155 Nr 2, RdNr 13 f; BSG vom 17.8.2011 - B 6 KA 32/10 R - BSGE 109, 34 = SozR 4-2500 § 89 Nr 5, RdNr 12 mwN; BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 33/15 R - RdNr 16; Berchtold in Berchtold, SGG, 6. Aufl 2020, § 164 SGG RdNr 30).

Jeder Senat beim LSG wird im Grundsatz in der Besetzung mit einem Vorsitzenden, zwei weiteren Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern tätig (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG). Bei Beschlüssen außerhalb der mündlichen Verhandlung wirken die ehrenamtlichen Richter nicht mit (§ 33 Abs 1 Satz 2 SGG); diese Möglichkeit ist durch § 158 Satz 2 SGG zwar eröffnet, zu ihr muss aber angehört werden. Eine fehlende Anhörung führt zur unvorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts nur mit den Berufsrichtern (BSG vom 24.4.2008 - B 9 SB 78/07 B - SozR 4-1500 § 158 Nr 3 RdNr 9 f; zur unterbliebenen Anhörung nach § 153 Abs 4 SGG: BSG vom 2.11.2015 - B 13 R 203/15 B - RdNr 15; BSG vom 19.10.2016 - B 14 AS 155/16 B - RdNr 4; BSG vom 29.8.2019 - B 14 AS 219/18 B - RdNr 4; Meßling in Hennig, SGG, § 158 RdNr 17, 22, Stand Oktober 2017), wohingegen diese Wirkung bei nur nicht ordnungsgemäß durchgeführten Anhörungen nicht in jedem Fall eintritt (vgl zur irreführenden und unvollständigen Anhörung: BSG vom 9.4.2014 - B 14 AS 373/13 B - RdNr 4 ff; zusammenfassend zu § 158 SGG Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 158 RdNr 8; zum fehlenden ausdrücklichen Hinweis auf eine Stellungnahmemöglichkeit bei § 153 Abs 4 SGG: BSG vom 18.7.2019 - B 13 R 259/17 B - RdNr 13 f).

Entscheidend ist, ob das Ziel der Anhörung durch den konkreten Anhörungsfehler verfehlt wird. Im Rahmen des § 158 Satz 2 SGG ist das wesentliche Ziel nicht die Information (§ 62 SGG) der Beteiligten zu einer - ggf nur vorläufigen - Rechtsauffassung des Berichterstatters (§ 155 Abs 1, § 106 Abs 1 SGG) über die (Un-)Statthaftigkeit der Berufung. Diese Information kann auch im die mündliche Verhandlung vorbereitenden Verfahren erfolgen, um dem Beteiligten die Möglichkeit zu geben, sich auf einen für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkt vorzubereiten. Der Schwerpunkt der Anhörungspflicht zur Entscheidung des Senats durch Beschluss liegt in der vom Grundfall der Entscheidung in einem durch fünf Personen gebildeten Spruchkörper vorgenommenen Änderung des gesetzlichen Richters. Daher muss jedenfalls die Absicht mitgeteilt werden, nicht durch Urteil, sondern durch Beschluss zu entscheiden.

Diesen Anforderungen genügt die Anhörung nicht. Sie stellt auf die Unstatthaftigkeit der Berufung ab und lässt offen, ob deren Verwerfung durch Urteil oder durch Beschluss beabsichtigt ist.

Eine mit der Revision angegriffene Entscheidung ist stets als auf einer Verletzung des Rechts beruhend anzusehen, wenn das erkennende Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO). Darauf, ob das LSG bei dem Streit allein um die Höhe der Regelleistung die Berufung als unzulässig hätte verwerfen können (§ 170 Abs 1 Satz 2 SGG), kommt es nicht an (vgl Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 13. Aufl 2020, § 170 RdNr 5a; Behrend in Hennig, SGG, § 170 RdNr 28, Stand September 2012; Röhl in jurisPK-SGG, § 170 RdNr 25, Stand 1.8.2017).

Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens beim BSG zu entscheiden haben.

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