Bundessozialgericht

Bundessozialgericht Urteil vom 23.02.2023, B 8 SO 2/22 R

Sozialhilfe - Hilfe zum Lebensunterhalt - notwendiger Lebensunterhalt in Einrichtungen - weiterer notwendiger Lebensunterhalt - Zuerkennung des Merkzeichens G

Leitsätze

Bei Zuerkennung des Merkzeichens "G" besteht ein Anspruch auf Erhöhung des weiteren notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen, soweit die Bedarfe wegen der eingeschränkten Gehfähigkeit nicht von der Pflegeeinrichtung gedeckt werden.

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird der Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 23. Februar 2021 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten steht die Zahlung höherer Leistungen des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) wegen der Zuerkennung des Merkzeichens "G" im Streit. 

Die 1955 geborene Klägerin lebt seit dem Jahr 2011 in einer stationären Pflegeeinrichtung. Sie ist schwerbehindert; die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen "G" sind festgestellt (Bescheid des Versorgungsamts vom 29.3.2012). Nachdem der Beklagte zunächst Leistungen versagt hatte (Bescheid vom 26.6.2014), hob er die Versagung nach einem Widerspruch der Klägerin auf, übernahm (zunächst befristet bis zum 30.6.2015, sodann befristet bis zum 30.9.2015) die nicht gedeckten Heimkosten im Pflegeheim, zahlte die Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung und gewährte einen Barbetrag in Höhe von 105,57 Euro bzw ab 1.1.2015 in Höhe von 107,73 Euro monatlich (Abhilfebescheid vom 6.10.2014; Bescheide vom 15.6.2015 und vom 17.6.2015; Widerspruchsbescheide vom 12.10.2015). Schließlich übernahm er die ungedeckten Heimkosten für die Zeit ab dem 1.10.2015 unbefristet und bewilligte ab diesem Zeitpunkt einen Barbetrag in Höhe von 107,73 Euro (Bescheid vom 9.9.2015; Widerspruchsbescheid vom 14.12.2015).  

Die gegen den Bescheid vom 8.10.2014 sowie die Bescheide vom 15.6.2015, vom 17.6.2015 und vom 9.9.2015 in der Gestalt der Widerspruchsbescheide vom 12.10.2015 und vom 14.12.2015 erhobenen (drei) Klagen, mit denen die Klägerin die Auszahlung eines Mehrbedarfs nach § 30 Abs 1 Nr 2 SGB XII begehrt hat, hat das Sozialgericht (SG) Hamburg zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden und abgewiesen (Urteil vom 7.10.2019). Die hiergegen gerichteten Berufungen der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) Hamburg zurückgewiesen (Beschluss vom 23.2.2021). Zur Begründung hat es ausgeführt, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Zahlung des Mehrbedarfs wegen Zuerkennung des Merkzeichens "G". Der Mehrbedarf werde als notwendiger Lebensunterhalt von § 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII erfasst und an den Einrichtungsträger gezahlt, der ihn als Sachleistung an den Leistungsberechtigten erbringe. So gehörten nach dem Rahmenvertrag über die vollstationäre Pflege zum Leistungsumfang auch Hilfen zur Mobilität. Durch das Pflegeheim nicht erbrachte Leistungen könnten als weiterer notwendiger Lebensunterhalt nach § 27b Abs 2 SGB XII gezahlt werden; solche Leistungen seien von der Klägerin vorliegend aber nicht geltend gemacht worden. Aus der fehlenden Auszahlung des Mehrbedarfs folge auch kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 Grundgesetz (GG), weil die Gruppe der in Einrichtungen lebenden Hilfebedürftigen mit nicht stationär untergebrachten Leistungsberechtigten nicht vergleichbar sei. 

Mit ihrer Revision, die sie nach Abschluss eines Teilvergleichs im Übrigen auf Leistungen wegen eines Mehrbedarfs "G" für Oktober 2015 beschränkt hat, macht die Klägerin geltend, ein Zuschlag in Höhe des Mehrbedarfs bei Zuerkennung des Merkzeichens "G" sei an sie auszuzahlen, weil die von ihr selbst aufzubringenden Aufwendungen wegen der eingeschränkten Bewegungsfähigkeit sich auch nach Umzug in die Einrichtung nicht geändert hätten. 

Die Klägerin beantragt,
den Beschluss des Landessozialgerichts Hamburg vom 23. Februar 2021 und das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. Oktober 2019 aufzuheben sowie den Bescheid des Beklagten vom 9. September 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14. Dezember 2015 zu ändern und den Beklagten zu verurteilen, ihr für Oktober 2015 weitere 54,40 Euro zu zahlen. 

Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen. 

Er hält die angefochtenen Entscheidungen für zutreffend.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision ist im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz <SGG>). Es fehlen für eine abschließende Entscheidung ausreichende tatsächliche Feststellungen (§ 163 SGG), um beurteilen zu können, ob die Klägerin Anspruch auf Zahlung höherer Leistungen hat. 

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist noch der Bescheid vom 9.9.2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 14.12.2015 (§ 95 SGG). Mit diesem Bescheid hat der Beklagte nach Ablauf des zuvor festgelegten Befristungszeitraums ab dem 1.10.2015 Eingliederungshilfe als stationäre Leistung ohne zeitliche Einschränkung bewilligt und daneben Leistungen des weiteren notwendigen Lebensunterhalts gewährt. Nach Abschluss eines Teilvergleichs im Übrigen macht die Klägerin im Revisionsverfahren nur noch höhere Leistungen für den Monat Oktober 2015 geltend, sodass sowohl über die Bescheide, die entsprechende Regelungen für die vorangegangenen Monate getroffen haben, als auch über ggf für Folgezeiträume ergangene Bescheide nicht zu entscheiden war. 

Streitgegenstand der gegen diesen Bescheid gerichteten kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (vgl § 54 Abs 1 und 4 iVm § 56 SGG) sind höhere Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Dritten Kapitel des SGB XII, die der Sache nach in stationären Einrichtungen nur auf Grundlage von § 19 Abs 1 iVm § 27b SGB XII (idF des Gesetzes zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Änderung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetzbuch vom 24.3.2011, BGBl I 453) als weiterer notwendiger Lebensunterhalt gewährt werden können (im Einzelnen später). Über die im Bescheid vom 9.9.2015 zugleich verfügte Bewilligung von Eingliederungshilfe (Übernahme und Zahlung der Kosten für die Unterbringung in der stationären Einrichtung) ist dagegen nicht zu befinden; die von der Klägerin (bezogen auf die Zeit ab dem 1.10.2015) von Beginn an vorgenommene Beschränkung des Streitgegenstands war zulässig (vgl Bundessozialgericht <BSG> vom 23.8.2013 - B 8 SO 17/12 R - BSGE 114, 147 = SozR 4-3500 § 92a Nr 1, RdNr 12 mwN). Eine weitergehende Einschränkung des Streitgegenstands ergibt sich aber entgegen der Auffassung des LSG nicht. Mit ihrem Vortrag hat die Klägerin den Anspruch zwar der Höhe nach auf den sich aus § 30 Abs 1 SGB XII (in der Fassung des Gesetzes vom 24.3.2011) für Oktober 2015 ergebenden Betrag begrenzt (54,40 Euro), nicht aber eine Einschränkung in Bezug auf eine bestimmte Rechtsgrundlage vorgenommen. Ihr Vorbringen, (auch) bei der Erbringung von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts in einer stationären Einrichtung ergebe sich ein gesonderter Anspruch auf eine Geldzahlung daraus, dass bei ihr das Merkzeichen "G" festgestellt sei, ist unter Berücksichtigung des Meistbegünstigungsprinzips ohne Bindung an den Wortlaut so auszulegen, dass das Begehren möglichst weitgehend zum Tragen kommt (vgl nur BSG vom 10.11.2011 - B 8 SO 18/10 R - SozR 4-3500 § 44 Nr 2 RdNr 13 mwN). Damit sind die von der Klägerin begehrten höheren Geldleistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts wegen der Zuerkennung des Merkzeichens "G" unter allen denkbaren rechtlichen Gesichtspunkten - in einer stationären Einrichtung vor allem auf Grundlage von § 27b Abs 2 SGB XII - zu prüfen. 

Ob der Klägerin für Oktober 2015 höhere Leistungen des weiteren notwendigen Lebensunterhalts zustehen, kann nicht beurteilt werden, weil das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung keine weiteren Feststellungen zu den Voraussetzungen eines Anspruchs der Klägerin auf diese Leistung getroffen hat. 

Ob sich der geltend gemachte Anspruch zutreffend gegen den beklagten Landrat richtet, kann der Senat nicht abschließend prüfen. Der Kreis ist Träger der Sozialhilfe und der Landrat ist für die Leistungen nach dem SGB XII zwar sachlich zuständig, die der Kreis als Selbstverwaltungsaufgabe durchführt (§ 97 Abs 1 SGB XII iVm § 1 Abs 1 Satz 1 und 2, § 2 Abs 1 Gesetz zur Ausführung des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch <AG-SGB XII- SH>). Der zuständige Landesgesetzgeber in Schleswig-Holstein hat in § 62 Landesjustizgesetz (<LJG> vom 17.4.2018, GVOBl 231) insoweit eine anderweitige Regelung iS des § 70 Nr 3 SGG getroffen, weshalb der Landrat zuständiges Organ des Kreises (§ 7 Kreisordnung <KrO> vom 28.2.2003, GVOBl 94) ist. Ob der Landrat aber auf Grundlage von § 98 Abs 2 SGB XII auch örtlich zuständig für die begehrte Leistung in stationären Einrichtungen ist, weil die Klägerin im Zeitpunkt der Aufnahme in die Einrichtung ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Zuständigkeitsbereich des Beklagten hatte, mag das LSG noch überprüfen. 

Einzig in Betracht kommende Anspruchsgrundlage für eine höhere Geldleistung wegen der Bedarfe, die sich aus der Zuerkennung des Merkzeichens "G" ergeben, ist § 19 Abs 1, § 27b Abs 1, Abs 2 Satz 1 SGB XII (jeweils in der ab 1.1.2011 geltenden Fassung des Gesetzes vom 24.3.2011). Die Klägerin lebt in einer stationären Einrichtung (vgl § 13 Abs 2 SGB XII). Soweit sie einkommens- und vermögenslos ist - was bislang im Einzelnen ungeprüft geblieben ist -, bestehen Ansprüche auf notwendigen Lebensunterhalt in Einrichtungen, der den darin erbrachten sowie in stationären Einrichtungen zusätzlich den weiteren notwendigen Lebensunterhalt umfasst (§ 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII). Wegen der fehlenden Verweisung in § 42 SGB XII werden diese Bedarfe auch ggf dem Grunde nach Grundsicherungsberechtigten als Leistungen der Hilfe zum Lebensunterhalt, nicht als solche der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach §§ 41 ff SGB XII gewährt (vgl zuletzt BSG vom 8.12.2022 - B 8 SO 11/20 R - RdNr 14, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen mwN; Kirchhoff in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 42 RdNr 15, Stand Februar 2022). Zutreffend ist das LSG deshalb davon ausgegangen, dass § 42 Nr 2 iVm § 30 SGB XII unmittelbar als Anspruchsgrundlage ausscheidet. 

Die Bedarfe wegen der Zuerkennung des Merkzeichens "G" sind entgegen der Auffassung des Beklagten nicht abschließend dem in der Einrichtung erbrachten, sog inkludierten Lebensunterhalt (§ 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII) zuzuordnen. Zwar fallen auch behinderungsbedingte Bedarfe bei Zuerkennung des Merkzeichens "G" im Grundsatz in den Deckungsbereich der Einrichtung. Deckt das Angebot der Einrichtung diese individuellen Bedarfe tatsächlich vollumfänglich ab, scheidet eine Erhöhung des weiteren notwendigen Lebensunterhalts aus. Soweit dies nicht der Fall ist, sind die Bedarfe dagegen als dem (sonstigen) weiteren notwendigen Lebensunterhalt zuzuordnende Bedarfe als Geldleistung gesondert zu berücksichtigen, die sich der Höhe nach im Ausgangspunkt nach der in § 30 Abs 1 SGB XII bestimmten Pauschale richtet. 

Die Regelung des § 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII unterscheidet zwischen dem Lebensunterhalt, der nach anderen Vorschriften als dem Dritten Kapitel des SGB XII tatsächlich erbracht wird und tatsächlich existenzsichernd wirkt (inkludierter Lebensunterhalt), und dem weiteren notwendigen Lebensunterhalt, der bei stationärer Unterbringung ergänzend geleistet werden muss, um insgesamt die Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums sicherzustellen. Der Bedarf an notwendigem Lebensunterhalt als in die stationäre Leistung eingeschlossener Bedarf gemäß § 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII entspricht als "Rechenposten" insgesamt dem Umfang der Leistungen der Grundsicherung nach § 42 Nr 1, 2 und 4 SGB XII (idF des Gesetzes zur Änderung des SGB XII vom 20.12.2012, BGBl I 2783; vgl BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 21; BSG vom 20.4.2016 - B 8 SO 25/14 R - BSGE 121, 129 = SozR 4-3500 § 92 Nr 2, RdNr 15). Alle Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII, die dem Leistungsberechtigten außerhalb von Einrichtungen zustehen, fließen damit als zusätzliche Bedarfe nach dem Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels iS des § 42 Nr 2 SGB XII in den "Rechenposten" ein. 

Diese Zuordnung zum "Rechenposten" findet jedenfalls wegen des Mehrbedarfs bei Zuerkennung des Merkzeichens "G" in der Struktur der in dem Pflegeheim erbrachten Leistungen im Grundsatz auch eine Entsprechung (anders wohl Eicher in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl 2020, Anhang zu § 19 SGB XII RdNr 7.1; Behrend in jurisPK-SGB XII, 2. Aufl 2014, § 27b SGB XII RdNr 39). § 27b Abs 1 Satz 1 SGB XII liegt die Wertung zugrunde, dass der notwendige Lebensunterhalt in einer stationären Einrichtung, in der die Gesamtverantwortung des Einzelnen für seine tägliche Lebensführung aufgehoben ist, von der Einrichtung zum größten Teil nach anderen Vorschriften als dem Dritten Kapitel des SGB XII tatsächlich erbracht wird (BSG vom 14.12.2017 - B 8 SO 16/16 R - SozR 4-3500 § 27b Nr 1 RdNr 25). Das gilt auch für behinderungsbedingte Bedarfe wegen eines eingeschränkten Gehvermögens, wie ihn der Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 SGB XII, der zusätzlich an das Alter bzw die (bislang von den Beteiligten bei der Klägerin unterstellte, aber vom LSG nicht überprüfte) vollständige Erwerbsminderung geknüpft ist, umschreibt (dazu BSG vom 29.9.2009 - B 8 SO 5/08 R - BSGE 104, 200 = SozR 4-3500 § 30 Nr 1, RdNr 16 ff). Die Einrichtungen sind nach den Vertragsgestaltungen, wie auch hier dem vom LSG in Bezug genommenen Rahmenvertrag, verpflichtet, entsprechende Bedürfnisse der Bewohner zu erfassen. Die in einer geeigneten stationären Einrichtung erbrachten Leistungen werden deshalb regelmäßig solche zusätzlichen Bedürfnisse, etwa zusätzliche Bedarfe bei der Mobilität, bei notwendigen Hilfeleistungen wegen verminderter Beweglichkeit, bei der Instandhaltung von Kleidung und Schuhen und deren Reinigung, auch tatsächlich, zumindest zum Teil abdecken. Es sind dabei auch weitergehende Angebote denkbar, die nicht dem Ausgleich der eingeschränkten Gehfähigkeit innerhalb des Pflegeheims, sondern außerhalb dienen, etwa Hilfen beim Verlassen und Wiederaufsuchen der Einrichtung oder bei der Erledigung persönlicher Angelegenheiten in- und außerhalb der Einrichtung. Aus der Struktur des § 27b SGB XII, die ihre Entsprechung in den vertraglichen Regelungen zwischen den Einrichtungen und den Trägern der Sozialhilfe findet, lässt sich damit schließen, dass ein Anspruch auf eine pauschale Geldleistung dann nicht besteht, wenn das Angebot der Einrichtung diese individuellen Bedarfe tatsächlich vollumfänglich abdeckt. 

Vom inkludierten Lebensunterhalt sind im Einzelfall aber nur solche Bedarfe für den Lebensunterhalt abgedeckt, die die Einrichtung tatsächlich erbringt. Entscheidend ist also, dass das Angebot nicht nur abstrakt solche Bedarfe zu decken geeignet ist, sondern die individuellen Bedarfe des Einzelnen ausgehend von seinen Wünschen auch tatsächlich deckt. Dies gilt unabhängig davon, ob die Einrichtung zur Erbringung solcher Leistungen verpflichtet ist. Von der Verantwortung für die Existenzsicherung kann sich der Träger der Sozialhilfe nicht dadurch freizeichnen, dass der Leistungsberechtigte darauf verwiesen wird, eine entsprechende Betreuung von der Einrichtung einzufordern oder sich gar mit der Einrichtung zivilrechtlich auseinanderzusetzen (vgl bereits BSG vom 23.8.2013 - B 8 SO 17/12 R - BSGE 114, 147 = SozR 4-3500 § 92a Nr 1, RdNr 40-41)

Soweit der Leistungsberechtigte Bedarfe wegen seiner eingeschränkten Gehfähigkeit hat, die außerhalb des institutionellen Angebots liegen, insbesondere bezüglich des soziokulturellen Bereichs, oder die er wegen eines fehlenden Angebots der Einrichtung selbst decken muss, sind hierfür Leistungen des weiteren notwendigen Lebensunterhalts zu gewähren. Der Leistungsberechtigte ist wegen der Deckung solcher Bedarfe dagegen nicht auf den angemessenen Barbetrag zur persönlichen Verfügung zu verweisen (vgl zu Bedarfen der Mobilität bereits BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 37). Der Barbetrag dient (lediglich) der Erfüllung persönlicher Bedürfnisse unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts, die außerhalb von Einrichtungen vom Regelsatz abgegolten sind. Er dient zudem (nur) der Erfüllung persönlicher Bedürfnisse neben den in der Einrichtung selbst erbrachten Leistungen und ist als "kleines Spiegelbild" derjenigen Bedarfsteile, die bezogen auf den Regelbedarf überhaupt in den Deckungsbereich der stationären Einrichtung fallen, kein Auffangbecken für alle weiteren Bedarfe des Lebensunterhalts (vgl BSG vom 23.8.2013 - B 8 SO 17/12 R - BSGE 114, 147 = SozR 4-3500 § 92a Nr 1, RdNr 36; zum Ganzen auch BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 25 ff; Bieback, jurisPR-SozR 25/2021 Anm 5). Um seine Kontur nicht zu verlieren, ist der Barbetrag vom weiteren notwendigen Lebensunterhalt für solche Bedarfe zu trennen, die im Zweiten Abschnitt des Dritten Kapitels beschrieben werden (vgl auch Rasch/Stennert, NDV 2013, 236)

Nachdem die Klägerin dargelegt hat, dass insbesondere ihre Mobilitätsbedarfe von der Einrichtung nur unzureichend gedeckt werden, wird das LSG von Amts wegen zu überprüfen haben, ob und inwieweit tatsächlich eine Deckungslücke verbleibt. Erst wenn im Einzelnen die konkret von der Einrichtung angebotenen Leistungen, die gerade die Bedarfe des Mehrbedarfs bei Zuerkennung des Merkzeichens "G" abdecken sollen (Unterstützungsleistungen, Mobilitätshilfen etc), ermittelt sind, lässt sich entscheiden, ob unter Berücksichtigung des Wunsch- und Wahlrechts der Klägerin mit diesem Angebot der Mehrbedarf vollständig abgedeckt ist (vgl zur Höhe des Barbetrags BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 16/19 R - BSGE 132, 41 = SozR 4-3500 § 27b Nr 2, RdNr 26). Die Beweislast dafür, dass die Bedarfe in der Einrichtung abschließend gedeckt werden, trägt der Beklagte; denn er beruft sich darauf, dass die Unterbringung in der Einrichtung die bedarfsgerechte Versorgung abschließend sicherstellt. Verbleibt eine Deckungslücke, sind die hierfür notwendigerweise zusätzlich angefallenen Kosten der Klägerin als weitere notwendige Leistungen für den Lebensunterhalt wegen eines Systemversagens zu übernehmen. 

Die Höhe des ggf zu zahlenden weiteren notwendigen Lebensunterhalts für unmittelbar oder mittelbar mit Einschränkungen des Gehvermögens verbundenen Bedarfslagen orientiert sich im Ausgangspunkt an der Vorgabe in § 30 Abs 1 SGB XII. Im ambulanten Bereich sind die Bedarfe im Grundsatz durch eine solche pauschale Leistung beschrieben; im Einzelfall ist ein höherer Zuschlag möglich. Bei fehlenden Angeboten der Einrichtung ist der finanzielle Aufwand des Leistungsberechtigten im Ausgangspunkt gleich; nicht anders als beim Leben in der eigenen Wohnung gilt insoweit, dass der Gesetzgeber die Höhe der Bedarfe in einer pauschalierenden und typisierenden Regelung erfasst. Allerdings sind beim Leistungsberechtigten, der in einer stationären Einrichtung lebt, Leistungen, die bereits von der Einrichtung erbracht werden, mindernd zu berücksichtigen. Dies gilt unabhängig davon, wie außerhalb einer Einrichtung der Mehrbedarf nach § 30 Abs 1 SGB XII von den Leistungen nach dem Fünften bis Neunten Kapitel (bzw ab dem 1.1.2020 der Eingliederungshilfe nach dem Sozialgesetzbuch Neuntes Buch - Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen - <SGB IX>) abzugrenzen ist und folgt aus der spezifischen Struktur des notwendigen Lebensunterhalts in Einrichtungen. 

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.

Krauß                                        Scholz                                       Bieresborn

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