Bundessozialgericht

Darf eine Krankenkasse Rückstellungen für geschätzte Verpflichtungen wegen Krankenkassenschließungen bilden?

Ausgabejahr 2019
Nummer 45
Datum 02.10.2019

Darf eine Krankenkasse Rückstellungen für ein von ihr selbst geschätztes Haftungsrisiko bei der Schließung anderer Betriebskrankenkassen bilden? Darüber beabsichtigt der 1. Senat des Bundessozialgerichts am 8. Oktober 2019 ab 12.30 Uhr mündlich zu verhandeln und zu entscheiden (Aktenzeichen B 1 A 2/19 R).

Die Klägerin, eine bundesunmittelbare Betriebskrankenkasse, buchte ab 2011 in ihren Jahresrechnungen nach dem Kontenrahmen für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und für den Gesundheitsfonds Rückstellungen für ein von ihr selbst geschätztes Haftungsrisiko bei der Schließung anderer für Betriebsfremde geöffneter Betriebskrankenkassen (zum Beispiel 2015: 69,05 Millionen Euro; 2016: 65 Millionen Euro). Zur Bestimmung der Höhe der Rückstellungen setzte sie jeweils das veröffentlichte Vermögen der einzelnen Betriebskrankenkassen, soweit es unterhalb der gesetzlichen Mindestrücklage von 25 vom Hundert einer Monatsausgabe lag, mit einer quotenmäßigen Schließungswahrscheinlichkeit ins Verhältnis. Die beklagte Bundesrepublik - vertreten durch das Bundesversicherungsamt - beanstandete diese Buchungen erfolglos, beriet und verpflichtete die Klägerin, die Rückstellungen in der Jahresrechnung für 2017 auszubuchen. Das Bayerische Landessozialgericht hat die hiergegen erhobene Klage abgewiesen: Die Rechnungslegung einer Krankenkasse erfolge grundsätzlich nach den sozialrechtlichen Vorgaben. Der hiernach verbindliche Kontenrahmen sehe vor, dass Buchungen für Haftungsumlagen nur nach entsprechenden Feststellungen des GKV-Spitzenverbandes vorzunehmen seien. Es fehle eine Rechtsgrundlage für eine kassenindividuelle Schätzverpflichtung. Die Krankenkassen dürften keine "stillen Reserven" aufbauen.

Mit ihrer Revision wendet sich die Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts. Sie rügt insbesondere, die Buchung der Schätzverpflichtungen sei aufgrund des auch im Sozialversicherungsrecht geltenden Vorsichtsprinzips gerechtfertigt, deren Ausbuchung dagegen verboten (§ 77 Absatz 1a Satz 3 Nummer 4 SGB IV).

Hinweis auf Rechtsvorschriften:

§ 77 Viertes Buch Sozialgesetzbuch
Rechnungsabschluss, Jahresrechnung und Entlastung


(1a) 1Die Jahresrechnung einer Krankenkasse einschließlich der Deutschen Rentenversicherung Knappschaft-Bahn-See, soweit sie die Krankenversicherung nach dem Fünften Buch durchführt, hat ein den tatsächlichen Verhältnissenentsprechendes Bild der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage der Krankenkasse zu vermitteln. 2Die gesetzlichen Vertreter der Krankenkasse haben bei der Unterzeichnung der Jahresrechnung nach bestem Wissen schriftlich zu versichern, dass die Jahresrechnung ein den tatsächlichen Verhältnissen entsprechendes Bild im Sinne des Satzes 1 vermittelt. 3Dabei sind bei der Bewertung der in der Jahresrechnung oder den ihr zu Grunde liegenden Büchern und Aufzeichnungen ausgewiesenen Vermögensgegenstände und Verbindlichkeiten insbesondere folgende Grundsätze zu beachten:



4. Es ist vorsichtig zu bewerten, namentlich sind alle vorhersehbaren Risiken und Verluste, die bis zum Abschlussstichtag entstanden sind, zu berücksichtigen, selbst wenn diese erst zwischen dem Abschlussstichtag und dem Tag der Aufstellung der Jahresrechnung bekannt geworden sind; Gewinne sind nur zu berücksichtigen, wenn sie am Abschlussstichtag realisiert sind.



4Ausführungsbestimmungen über die Grundsätze nach Satz 3 können daneben in die Rechtsverordnung nach § 78 Satz 1 aufgenommen werden, soweit dies erforderlich ist, um eine nach einheitlichen Kriterien und Strukturen gestaltete Jahresrechnung zu schaffen und um eine einheitliche Bewertung der von den Krankenkassen aufgestellten Unterlagen zu ihrer Finanzlage zu erhalten. 5Die Jahresrechnung ist von einem Wirtschaftsprüfer oder einem vereidigten Buchprüfer zu prüfen und zu testieren. 6Ein Wirtschaftsprüfer oder ein vereidigter Buchprüfer ist von der Prüfung ausgeschlossen, wenn er in den letzten fünf aufeinanderfolgenden Jahren ohne Unterbrechung die Prüfung durchgeführt hat.



§ 171e Fünftes Buch Sozialgesetzbuch
Deckungskapital für Altersversorgungsverpflichtungen

(1) 1Krankenkassen haben für Versorgungszusagen, die eine direkte Einstandspflicht nach § 1 Abs. 1 Satz 3 des Betriebsrentengesetzes auslösen sowie für ihre Beihilfeverpflichtungen durch mindestens jährliche Zuführungen vom 1. Januar 2010 an bis spätestens zum 31. Dezember 2049 ein wertgleiches Deckungskapital zu bilden, mit dem der voraussichtliche Barwert dieser Verpflichtungen an diesem Tag vollständig ausfinanziert wird. 2Auf der Passivseite der Vermögensrechnung sind Rückstellungen in Höhe des vorhandenen Deckungskapitals zu bilden.



§ 12 Verordnung über den Zahlungsverkehr, die Buchführung und die Rechnungslegung in der Sozialversicherung (SVRV)
Rückstellungen

(1) 1Für eine Verpflichtung aus einer Altersvorsorgezusage für Bedienstete ist eine Rückstellung zu bilden. 2Soweit sich aus anderen Rechtsvorschriften nichts Abweichendes ergibt, bestimmt sich der Höchstwert der Rückstellungen nach dem für den jeweiligen Versicherungszweig geltenden versicherungsmathematisch ermittelten aktuellen Wert der späteren Zahlungen. 3Dieser Wert ist bei wesentlichen Änderungen der Berechnungsgrundlagen, in der Regel alle fünf Jahre, zu aktualisieren. 4Die Altersrückstellungen und das Deckungskapital dürfen nur zweckentsprechend aufgelöst werden. 5Für die Krankenkassen mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Krankenkasse gelten die Sätze 1 und 4 entsprechend für Verpflichtungen aus Vereinbarungen über die Altersteilzeitarbeit sowie für Verpflichtungen nach § 7b des Vierten Buches Sozialgesetzbuch. 6Soweit von den Trägern der gesetzlichen Rentenversicherung und der gesetzlichen Unfallversicherung Rückstellungen für Verpflichtungen aus Vereinbarungen über die Altersteilzeitarbeit sowie für Verpflichtungen nach § 7b des Vierten Buches Sozialgesetzbuch gebildet werden, gelten die Sätze 1 und 4 entsprechend.

(1a) Soweit für Verpflichtungen einer Krankenkasse, für die nach § 171d Abs. 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch der Spitzenverband Bund der Krankenkassen haftet, eine Zuführung zu den Rückstellungen erforderlich ist, darf dieser Betrag wie das nach § 171e des Fünften Buches Sozialgesetzbuch zu bildende Deckungskapital bis spätestens zum 31. Dezember 2049 angesammelt werden und muss der Gesamtbetrag des Rückstellungsbedarfs so lange im Anhang zur Jahresrechnung nach § 29a der Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung ausgewiesen werden.

(2) Von den Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen und deren Bundesvereinigungen können Rückstellungen, die zur periodengerechten Zuordnung von Aufwendungen erforderlich sind, gebildet werden.

§ 29a Verordnung über das Haushaltswesen in der Sozialversicherung (VHV)
Anhang zur Jahresrechnung der Krankenversicherung

(1) Die Krankenversicherungsträger und ihre Verbände haben als Teil der Jahresrechnung einen Anhang zu erstellen.

(2) 1In den Anhang sind diejenigen Angaben aufzunehmen, die zur Erläuterung der Jahresrechnung erforderlich sind, um eine realistische Beurteilung der Vermögens-, Finanz- und Ertragslage zu ermöglichen. 2Der Anhang ist neben allgemeinen Angaben zum Krankenversicherungsträger oder Verband nach folgenden Abschnitten untergliedert:



2. Erläuterungen zur Jahresrechnung

a) die Begründetheit von Forderungen, soweit sie nicht bereits auf Grund der Kontenbezeichnung naheliegt, sowie von Forderungen jeweils getrennt nach Laufzeiten bis zu einem Jahr und von mehr als einem Jahr und eventuelle Ausfallrisiken mit Beschreibung vorgenommener Wertberichtigungen;

b) die Darstellung der Werte und die Entwicklung des Anlagevermögens in einem Anlagengitter sowie die angewandten Abschreibungssätze;

c) aufgenommene Darlehen;

d) der Gesamtbetrag der Verbindlichkeiten, getrennt nach Laufzeiten bis zu einem Jahr und von mehr als einem Jahr;

e) der Anteil von Verbindlichkeiten bis zu einem Jahr Laufzeit an den Gesamtverbindlichkeiten; gegebenenfalls der stufenweise Aufbau des Anteils von Verbindlichkeiten bis zu einem Jahr Laufzeit für die Geschäftsjahre 2011 bis 2014;

f) die Rückstellungen für Altersversorgungsverpflichtungen, das angewandte versicherungsmathematische Berechnungsverfahren sowie die grundlegenden Annahmen der Berechnung und der abweichende Barwert der Altersversorgungsverpflichtungen, sofern der in der Vermögensrechnung ausgewiesene Betrag am Stichtag für die Jahresrechnung vom Barwert der Altersversorgungsverpflichtungen abweicht;

g) der Aufbau der Rückstellungen auf Grund von Altersteilzeit- und Wertguthabenvereinbarungen sowie die Maßnahmen für die durchgeführte Insolvenzsicherung beziehungsweise die schrittweise durchgeführte Insolvenzsicherung der Wertguthaben aus Altersteilzeitvereinbarungen;

h) Erläuterungen zu solchen Positionen, die aus Gründen der Klarheit und Übersichtlichkeit in der Vermögensrechnung zusammengefasst worden sind;

i) sonstige Haftungsverhältnisse, deren Gründe sowie eine Beurteilung des Risikos der Inanspruchnahme;

j) außerordentliche Erträge und Aufwendungen;



(3) Die nähere technische Ausgestaltung des Anhangs wird im Kontenrahmen nach § 25 Absatz 2 Nummer 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung geregelt.

§ 38 Allgemeine Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung (SRVwV)
Aufstellung der Jahresrechnung

(1) In der Jahresrechnung (§ 18 Abs. 2 der Sozialversicherungs-Rechnungsverordnung) ist in der Gliederung des geltenden Kontenrahmens über die Ausgaben/Aufwendungen, Einnahmen/Erträge und über das Vermögen Rechnung zu legen.

Anlage 1 zu § 25 Abs 2 Nr 1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift über das Rechnungswesen in der Sozialversicherung (SRVwV)
Kontenrahmen für die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und für den Gesundheitsfonds



1298 Verpflichtungen aus finanziellen Hilfen, Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle

Zu 1298

Hier bucht die Krankenkasse auch Verpflichtungen aus Umlagen für Haftungsfälle für geschlossene Krankenkassen, die der Spitzenverband Bund der Krankenkassen
durch Umlagebescheid im Rahmen der Haftungsverbünde angefordert hat.

1299 Übrige Verpflichtungen

Zu 1299

Z.B. fällige, aber noch nicht bezahlte Vermögensaufwendungen.



160 Rückstellungen

Zu 160 Über die in § 171e SGB V, § 172c SGB VII, § 12 SVRV
und § 7 SVLFGG genannten Rückstellungen
hinaus besteht keine weitere Verpflichtung Rückstellungen
zu bilden.

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