Verfolgungsbedingte Entschädigung für "Ghetto"arbeit auch bei Verbleib im eigenen Haus?
Ausgabejahr 2020
Nummer 8
Datum 11.05.2020
Hat ein als Jude in der Zeit des Nationalsozialismus Verfolgter Anspruch auf eine Altersrente von der Deutschen Rentenversicherung unter Berücksichtigung von "Ghetto-Beitragszeiten", wenn er der "Ghettobeschäftigung" im sogenannten Generalgouvernement nicht von einem Ghetto im historischen Sinne, sondern von seinem angestammten Wohnhaus aus nachgegangen ist? Hierüber wird der 13. Senat des Bundessozialgerichts nach mündlicher Verhandlung am Mittwoch, dem 20. Mai 2020 um 13.00 Uhr zu entscheiden haben (Aktenzeichen B 13 R 9/19 R - der ursprünglich für den 24. März 2020 vorgesehene Verhandlungstermin war aufgehoben worden).
Der 1929 geborene Kläger ist als Jude Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) geworden. 1939 lebte er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern im polnischen Sarnów (circa 100 Einwohner - darunter 3 jüdische Familien mit insgesamt 21 Personen) damals im Distrikt Krakau. Nach der Besetzung durch die deutschen Truppen 1939 wurde die dortige jüdische Bevölkerung gezwungen, zur Kenntlichmachung Armbinden mit dem Davidstern zu tragen. Die jüdischen Familien verblieben (zunächst) in den von ihnen bisher bewohnten Häusern. Allerdings waren die jüdischen Bewohner in ihrer Bewegungsfreiheit auf die Wohnungen beziehungsweise Häuser beschränkt und durften diese nicht verlassen, außer für den Weg zur Arbeit oder für unerlässliche Besorgungen. In der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 putzte der Kläger Wohnungen, führte Reinigungsarbeiten auf dem Gelände des deutschen Militärs durch und wusch Militär-LKW, wofür er eine Extraportion Essen erhielt. Im März 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung der nächst größeren Stadt (Mielec) und der umliegenden Ortschaften - einschließlich Sarnów - erschossen, zur Vernichtung deportiert oder in Zwangsarbeitslager verbracht.
Mit seinem Antrag auf Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von "Ghetto-Beitragszeiten" war der Kläger bei dem beklagten Rentenversicherungsträger ebenso wie beim Sozialgericht mit der Begründung erfolglos, er habe in der Zeit, in der er die Reinigungsarbeiten verrichtete nicht in einem Ghetto gelebt. Das Landessozialgericht hingegen hat den Rentenversicherungsträger zur Gewährung einer Regelaltersrente verurteilt. Es hat angenommen, für die Reinigungsarbeiten gälten "Ghetto-Beitragszeiten" nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen im Ghetto (ZRBG) als gezahlt. Denn auch wenn die jüdische Bevölkerung in Sarnów in ihren angestammten Wohnhäusern zu verbleiben hatte, sei gleichwohl von einem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto im Sinne des Gesetzes zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen im Ghetto auszugehen. Die ausgeübte Beschäftigung sei unter weitgehender Einschränkung der Freizügigkeit ausgeübt worden.
Hiergegen wendet sich der Rentenversicherungsträger mit seiner Revision und macht unter anderem geltend, der Aufenthalt in einem Ghetto verlange die Konzentration der jüdischen Bevölkerung in einem bestimmten abgrenzbaren Wohnbezirk. Dies sei beim Kläger nicht der Fall gewesen. Ein Verzicht auf das Kriterium der Konzentration würde zur Uferlosigkeit des Begriffs des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto führen.
Hinweis auf Rechtsvorschriften
Auszug aus Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen im Ghetto (ZRBG) -
Auszug aus § 1 ZRBG - Anwendungsbereich
…
(1) 1Dieses Gesetz gilt für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn
1. die Beschäftigung
a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist,
b) gegen Entgelt ausgeübt wurde
und
2. das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag…
Auszug aus § 2 ZRBG - Fiktion der Beitragszahlung
(1) 1Für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto gelten Beiträge als gezahlt,
und zwar
1. für die Berechnung der Rente als Beiträge nach den Reichsversicherungsgesetzen für eine Beschäftigung außerhalb des Bundesgebiets
sowie
2. für die Erbringung von Leistungen ins Ausland als Beiträge für eine Beschäftigung im Bundesgebiet (Ghetto-Beitragszeiten).