Verhandlung B 2 U 8/17 R
Verhandlungstermin
27.11.2018 10:00 Uhr
Terminvorschau
S. P. ./. Verwaltungs-BG
Der Kläger ist Gesellschafter-Geschäftsführer einer Unternehmerin, die ein Versicherungsmaklerbüro betreibt. Die Geschäftsräume der Unternehmerin liegen im 1. OG eines sechsstöckigen Mehrfamilienhauses, in dessen 5. OG der Kläger wohnt. Im Kellergeschoss des Gebäudes befinden sich die Serveranlage und das Archiv der Unternehmerin. Alle Stockwerke sind über ein gemeinsames Treppenhaus verbunden. Die Geschäftsräume der Unternehmerin werden im Schnitt pro Tag 10 bis 15 Mal von Kunden besucht, die die Haustreppe im Treppenhaus benutzen. Am Unfalltag führte der Kläger nach Rückkehr von einem auswärtigen Geschäftstermin gegen 0 Uhr ein größeres Softwareupdate durch. Dies machte es notwendig, dass er zwischen dem Computer, der im 1. OG in den Büroräumen steht, und dem im Kellergeschoss befindlichen Serverraum hin und her gehen musste, um den Vorgang und seinen Ablauf zu überwachen. Auf einem der Wege vom Serverraum im Kellergeschoss zum Büro im 1. OG stürzte er nachts gegen 1.30 Uhr auf der Haustreppe und zog sich dabei eine Kahnbeinfraktur links zu.
Die Beklagte lehnte es ab, Entschädigungsleistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu erbringen, weil Wohnung und Arbeitsstätte in einem Gebäude lägen und in diesen Fällen nur die jeweiligen Arbeitsräume, nicht aber die Wege innerhalb des Gebäudes unter Versicherungsschutz stünden. Das SG hat die Klage abgewiesen. Bei Unfällen in Räumen bzw auf Treppen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden könnten, sei darauf abzustellen, ob der Unfallort (wesentlich) auch Betriebszwecken diene. Bei wertender Betrachtung sei der Treppenabschnitt, auf dem sich der Sturz ereignet habe, kein Teil des Gebäudes, der rechtlich wesentlich den Zwecken des Unternehmens diene. Zwar führe das Treppenhaus auch zu den Betriebsstätten im Keller und 1. OG. Das Treppenhaus stehe aber allen Bewohnern des Hauses ebenso für rein private Tätigkeiten zur Verfügung. Allein auf die konkrete Nutzung zum Unfallzeitpunkt abzustellen, erscheine im Interesse einer möglichst einheitlichen Bewertung nicht sachgerecht. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und ergänzend ausgeführt: Der Kläger sei zwar auf einem Weg gestürzt, der in sachlichem Zusammenhang mit seiner versicherten Tätigkeit gestanden habe. Nach seiner objektivierten Handlungstendenz sei er im unmittelbaren Betriebsinteresse tätig gewesen, als er den Weg vom Serverraum im Keller zu den Büro- und Geschäftsräumen im 1. OG zurückgelegt habe, weil dies für das Software-Update geboten gewesen sei. Verunglücke der Versicherte aber in einem Gebäude, in dem sich Arbeitsstätte und Wohnung befänden, so bestehe Versicherungsschutz nach der Rechtsprechung des BSG nur dann, wenn der Unfallort (Räume, Treppen) unter Berücksichtigung der gesamten Umstände des Einzelfalls Betriebszwecken des Unternehmens wesentlich diene und nicht dem rein persönlichen Lebensbereich zuzuordnen sei.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 8 Abs 1 SGB VII. Entscheidend sei, dass er im Unfallzeitpunkt mit der Verrichtung einer beruflichen Tätigkeit beschäftigt gewesen sei und nach seiner objektivierten Handlungstendenz im unmittelbaren Betriebsinteresse gehandelt habe.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Mainz - S 10 U 240/12, 09.07.2015
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz - L 4 U 174/15, 11.01.2017
Terminbericht
Die Revision des Klägers war im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache begründet. Der Kläger hat zwar einen Unfall iS des § 8 Abs 1 S 1 SGB VII erlitten. Es fehlen jedoch ausreichende Feststellungen zum sachlichen Zusammenhang zwischen der mutmaßlich versicherten Tätigkeit des "Softwareupdates" und dem Zurücklegen des konkreten Weges, sodass eine geeignete Grundlage für die rechtliche Nachprüfung fehlt.
Nach der neuen Senatsrechtsprechung (BSG vom 31.8.2017 - B 2 U 9/16 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 63 Friseurmeisterin), die dem LSG noch nicht bekannt sein konnte, durften die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalls nicht schon deshalb verneint werden, weil die öffentlich zugängliche Treppe dem Unternehmen bzw seinen Betriebszwecken nicht wesentlich diente. Zwar hatte das BSG bis zu dieser Entscheidung ua auch auf das Kriterium der "objektiven" Nutzungshäufigkeit des Unfallorts abgestellt. In diesem Zusammenhang hat das BSG aber bereits auf rechtliche Schwierigkeiten bei Unfällen hingewiesen, die sich in Räumen oder auf Treppen ereignen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden können. Dementsprechend hat der Senat nunmehr seine Rechtsprechung konkretisiert und entschieden, dass bei der Feststellung eines Arbeitsunfalls im häuslichen Bereich künftig die objektivierte Handlungstendenz des Versicherten, eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit ausüben zu wollen, den Ausschlag gibt und nicht mehr vorrangig auf die eher quantitativ zu bestimmende Häufigkeit der betrieblichen oder privaten Nutzung des konkreten Unfallorts abzustellen ist. Eine wie auch immer geartete objektive "Widmung" der jeweiligen Räumlichkeiten oder die Häufigkeit bzw das Ausmaß der "betrieblichen" Nutzung des konkreten Unfallortes ist damit nicht mehr das maßgebliche Abgrenzungskriterium. Die objektivierte Handlungstendenz bestimmt sich danach, ob der Versicherte bei der zum Unfall führenden Verrichtung eine dem Unternehmen dienende Tätigkeit (subjektiv) ausüben wollte und diese innere Tatsache durch die objektiven Umstände des Einzelfalls zur Überzeugung des Tatrichters im Vollbeweis bestätigt wird. Zum Zwecke dieser Objektivierung können ggf auch der Unfallzeitpunkt, der konkrete Ort des Unfallgeschehens und dessen objektive Zweckbestimmung als äußere Indizien Berücksichtigung finden. Hierbei sind stets die gesamten Umstände des Einzelfalles zu berücksichtigen. Gerade im häuslichen Bereich kann die Beweisführung hinsichtlich der Handlungstendenz und die entsprechende Überprüfung klägerseitiger Angaben besonders schwierig sein, weil der Kreis der "unternehmensdienlichen" Verrichtungen bei Selbstständigen sowie bei abhängig Beschäftigten, die im sog "Home-Office" tätig sind, typischerweise mit weiten Teilen des Privatlebens verwoben ist.
Die Objektivierung der Handlungstendenz als innerer (Haupt-)Tatsache setzt mithin voraus, dass alle äußeren (Hilfs-)Tatsachen (Indizien), die den Schluss auf die Haupttatsache zulassen oder in Frage stellen, festgestellt, in die Gesamtschau eingestellt und nachvollziehbar, dh der Logik und gesicherten Erfahrungssätzen entsprechend, unter- und gegeneinander widerspruchsfrei abgewogen werden. Diese Abwägung hat das LSG - auf Basis seiner Rechtsauffassung und auf Grundlage der bisherigen Senatsrechtsprechung konsequent - von vornherein nicht durchgeführt, sodass vor dem Hintergrund der jetzt maßgebenden rechtlichen Grundsätze Abwägungsfehler vorliegen (können), die die Richtigkeit der Feststellungen zur objektivierten Handlungstendenz in Zweifel ziehen. Das LSG wird den Abwägungsvorgang daher nachzuholen und dabei vertieft zu prüfen haben, ob die objektiven Umstände des Einzelfalls die Annahme rechtfertigen, der Kläger habe am Samstag, den 28.4.2012 nachts um 1.30 Uhr aus dem Kellergeschoss kommend die Haustreppe zum 1. OG bestiegen, um die Installation eines größeren Softwareupdates in seiner Firma zu überwachen und gerade nicht, um in seine private Wohnung im 5. OG zu gelangen. Dabei wird es auch zu erwägen und die Gründe anzugeben haben (§ 128 Abs 1 S 2 SGG), was aus der Nichtbenutzung des vorhandenen Aufzugs zu schließen ist und welche Bedeutung Zeitpunkt und Ort des Unfalls sowie der im erstinstanzlichen Urteil vom Kläger zunächst selbst geschilderten Sachverhaltsvariante (im Rahmen der freien richterlichen Beweiswürdigung - § 128 Abs 1 S 1 SGG -) ggf zukommt. Darüber hinaus wird das LSG ggf festzustellen haben, ob der Kläger im Unfallzeitpunkt als namensgebender Gesellschafter-Geschäftsführer der Unternehmerin - wie er selbst meint - kraft Gesetzes als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII der Versicherungspflicht unterlag oder als (Wie-)Unternehmer gemäß § 6 Abs 1 S 1 Nr 1 oder Nr 2 SGB VII freiwillig versichert gewesen ist oder ggf überhaupt nicht zum versicherten Personenkreis (vgl § 2 Abs 1 SGB IV) gehörte.