Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 27/17 R

Verhandlungstermin 07.05.2019 11:00 Uhr

Terminvorschau

M. G. ./. BG Verkehr
Die 1994 geborene Klägerin ist Halbwaise. Ihr Vater verstarb infolge eines Arbeitsunfalls. Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte der Klägerin nach Abschluss einer ersten Berufsausbildung Halbwaisenrente für eine nachfolgende Schulausbildung gewähren muss. Am 1.8.2010 nahm sie eine Berufsausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten auf. Hierfür bewilligte ihr die Beklagte Halbwaisenrente auch über das 18. Lebensjahr hinaus, spätestens bis zum 31.7.2013. Am 19.6.2013 schloss sie die Berufsausbildung erfolgreich ab; die Beklagte entzog daraufhin die Halbwaisenrente zum 30.6.2013. Von August 2013 bis Juni 2014 besuchte die Klägerin erfolgreich die Fachoberschule und beantragte, ihr weiterhin ab dem 1.7.2013 Halbwaisenrente zu bewilligen. Dies lehnte die Beklagte ab, weil sich die Klägerin selbst unterhalten könne und Eltern für Zweitausbildungen nicht (mehr) unterhaltspflichtig seien. Das SG hat diese Bescheide aufgehoben und die Beklagte verurteilt, der Klägerin ab dem 1.7.2013 weiterhin Halbwaisenrente in gesetzlicher Höhe zu gewähren, weil der Abschluss einer Berufsausbildung weder nach dem Wortlaut des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2a SGB VII noch nach dem Willen des Gesetzgebers den sozialrechtlich eigenständigen Waisenrentenanspruch ausschließe. Die Berufung der Beklagten hat das LSG zurückgewiesen. Die Klägerin habe als Hinterbliebene des Versicherten (§ 63 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB VII) ab dem 1.7.2013 befristet bis zum 30.6.2014 Anspruch auf Halbwaisenrente, weil sie sich vor Vollendung des 27. Lebensjahres vom 19.8.2013 bis zum 17.6.2014 als Fachoberschülerin in Schulausbildung (§ 67 Abs 3 S 1 Nr 2a SGB VII) mit einem tatsächlichen zeitlichen Aufwand von wöchentlich mehr als 20 Stunden befunden habe. § 67 Abs 3 S 1 Nr 2a SGB VII setze keinen (fiktiven) zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch (§§ 1601 ff BGB) gegen den verstorbenen Versicherten voraus, der grundsätzlich entfalle, wenn die Waise eine Berufsausbildung abgeschlossen habe. Zudem habe das BSG (Hinweis auf Urteil vom 27.1.1976 - 8 RU 2/75 - SozR 2200 § 583 Nr 1) bereits zu § 595 Abs 2 RVO entschieden, dass eine Begrenzung auf das erste Ausbildungsverhältnis nicht in Betracht komme. Die Vorschriften über die Waisenrente (§§ 67 ff SGB VII) nähmen nicht auf familienrechtliche Unterhaltsregelungen Bezug, während der Anspruch auf Witwen- und Witwerrenten an frühere Ehegatten einen zivilrechtlichen Unterhaltsanspruch ausdrücklich voraussetze (§ 66 Abs 1 SGB VII). Deshalb sei bei der Waisenrente nicht auf das bürgerlich-rechtliche Unterhaltsrecht zurückzugreifen. Soweit das LSG Berlin-Brandenburg (Urteil vom 11.3.2010 - L 3 U 208/08 - juris) unter Berufung auf die Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 18.6.2003 - B 4 RA 37/02 R - SozR 4-2600 § 48 Nr 2 "Promotionsstudent") zur Waisenrente in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 48 SGB VI) anders entschieden habe, sei dem nicht zu folgen. Die Klägerin habe auch vom 1.7. bis zum 18.8.2013 Anspruch auf Halbwaisenrente, weil sie sich in einer Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (Berufs- und Schulausbildung) von weniger als vier Kalendermonaten befunden habe.

Mit der Revision rügt die Beklagte die Verletzung des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2a SGB VII. Die Einheit der Rechtsordnung gebiete, das zivile Unterhaltsrecht als Orientierungs- bzw Auslegungshilfe ergänzend heranzuziehen. Nach der Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 18.6.1975 1 BvL 4/74 - BVerfGE 40, 121 = SozR 2400 § 44 Nr 1) und des BSG sollen die Waisenrenten nach ihrem Sinn und Zweck lediglich den Bedarf decken, der durch den Ausfall der elterlichen Unterhaltsleistungen typischerweise entstehe. Wie § 1610 BGB zeige, ende der Unterhaltsbedarf eines Kindes, sobald es nach Abschluss einer Ausbildung in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Marburg - S 3 U 68/14, 18.07.2016
Hessisches Landessozialgericht - L 9 U 168/16, 12.06.2017

Terminbericht

Die Revision der Beklagten war unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 S 1 SGG). Die geltend gemachte Verletzung des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2a SGB VII liegt nicht vor. Das LSG hat zu Recht die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen. Die Klägerin hat jedenfalls vom 1.7.2013 bis zum 30.6.2014 einen Anspruch auf Halbwaisenrente. Gemäß § 63 Abs 1 S 1 Nr 3 SGB VII haben Hinterbliebene Anspruch auf Hinterbliebenenrenten, wenn der Tod des Versicherten infolge eines Versicherungsfalls eingetreten ist. Kinder von verstorbenen Versicherten erhalten Hinterbliebenenrente in Form der Halbwaisenrente, wenn sie noch einen Elternteil haben (§ 67 Abs 1 Nr 1 SGB VII). Halbwaisenrente wird nach § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII bis zur Vollendung des 27. Lebensjahres gezahlt, wenn die Waise sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Die 1994 geborene Klägerin, deren Mutter noch lebt, ist Tochter und Hinterbliebene eines Versicherten, der infolge eines Arbeitsunfalls verstorben ist. Vor Vollendung ihres 27. Lebensjahres besuchte sie bis zum 17.6.2014 die Fachoberschule und befand sich damit "in Schulausbildung". Dem Anspruch steht nicht entgegen, dass die Klägerin bereits eine Berufsausbildung zur Rechtsanwalts- und Notarfachangestellten erfolgreich abgeschlossen hatte, als sie die Fachoberschule besuchte. Der Halbwaisenrentenanspruch ist nicht auf eine sog "Erstausbildung" begrenzt. Dies ergibt die Auslegung nach dem Wortlaut, dem systematischen Zusammenhang, der Entstehungsgeschichte sowie dem Sinn und Zweck der Norm. Eine Begrenzung des Waisenrentenanspruchs auf die Erstausbildung enthält der Wortlaut des § 67 Abs 3 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VII nicht. Unter systematischen Gesichtspunkten ist entscheidend, dass § 67 SGB VII die Voraussetzungen des Waisenrentenanspruchs eigenständig ausgestaltet und regelt, ohne auf die bürgerlich-rechtlichen Vorschriften über den Schadensersatz wegen Unterhaltsentziehung durch Tötung des Unterhaltspflichtigen (§ 844 Abs 2 BGB) oder auf das Unterhaltsrecht (§§ 1601 ff BGB) explizit oder stillschweigend zu verweisen. Dies enthebt den Unfallversicherungsträger von der im Einzelfall aufwändigen Prüfung, ob der unterhaltspflichtige Getötete überhaupt leistungsfähig war (§ 1603 BGB) und Ansprüche gegen ihn durchsetzbar gewesen wären, wie sich bei hypothetischem Weiterleben der Unterhaltsanspruch des Berechtigten prognostisch entwickelt hätte (§ 844 Abs 2 S 1 Halbs 1 BGB) oder ob die Unterhaltspflicht ggf gesteigert war (§ 1603 Abs 2 S 2, § 1609 BGB). Nichts anderes ergibt sich aus dem Beschluss des BVerfG vom 18.6.1975 (1 BvL 4/74 - BVerfGE 40, 121 = SozR 2400 § 44 Nr 1), auf dessen vermeintliche "Vorgaben" sich die Beklagte beruft. Darin hat das BVerfG lediglich entschieden, dass es mit dem Grundgesetz vereinbar ist, dass Waisen, die sich infolge körperlicher oder geistiger Gebrechen nicht selbst unterhalten können, Waisenrente aus der Angestelltenversicherung nur bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres erhalten (§ 44 S 2 AVG). Diese Entscheidung hat für die hier vorliegende Fallkonstellation ersichtlich keine Relevanz. Der Senat weicht auch nicht von einer anderen Entscheidung des BSG ab. Soweit die Revision sich auf ein Urteil des 4. Senats zu § 48 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a SGB VI beruft (vom 18.6.2003 - B 4 RA 37/02 R - SozR 4 - 2600 § 48 Nr 2), war für diese Entscheidung tragend der Rechtssatz, dass ein Promotionsstudium keine Ausbildung im Sinne des Gesetzes ist.

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