Verhandlung B 13 R 7/18 R
Verhandlungstermin
16.05.2019 11:30 Uhr
Terminvorschau
M. E. ../. Deutsche Rentenversicherung Berlin-Brandenburg
Im Streit steht die Gewährung einer Rente wegen voller Erwerbsminderung von Oktober 2014 bis Dezember 2019.
Der 1964 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war von 1980 bis 1996 als Maschinenführer, später kurze Zeit als Wachmann und von 2004 bis 2007 selbständig tätig sowie anschließend arbeitsunfähig bzw arbeitslos. 2010 bewilligte ihm der beklagte RV-Träger eine Rente wegen voller Erwerbsminderung (EM-Rente) von September 2009 bis zum März 2012. Die Weitergewährung der EM-Rente lehnte der RV-Träger ab.
Das SG hat die Klage hiergegen nach Einholung medizinischer Sachverständigengutachten durch Gerichtsbescheid abgewiesen. Das LSG hat in dem hiergegen vom Kläger angestrengten Berufungsverfahren medizinische Sachverständigengutachten auf psychosomatischem, orthopädischem, internistischem und psychotherapeutischem Fachgebiet sowie ein berufskundliches Gutachten eingeholt. Letzteres sieht die Verweisbarkeit des Klägers auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt als beschränkt an auf Tätigkeiten eines Pförtners an der Nebenpforte sowie eines Mitarbeiters in der Sichtkontrolle von Kleinteilen. Auf erneute schriftliche Befragung des medizinischen Sachverständigen für psychosomatische Medizin und Psychotherapie ist dieser zu dem Ergebnis gelangt, die zuletzt benannte Tätigkeit sei nicht mehr mit dem Leistungsvermögen des Klägers vereinbar. Das Gericht hat zudem berufskundliche Unterlagen aus anderen Verfahren in den Rechtsstreit eingeführt, zu Chakteristika und insbesondere Veränderungen des Arbeitsmarktes sowie zum Berufsbild des "Pförtners an der Nebenpforte" (ua zur Vernehmung eines Geschäftsführers eines Sicherheitsdienstes, des Landesgruppenvorsitzenden für das Land Berlin beim Bundesverband der Sicherheitswirtschaft, Anfragen an und Antworten von 13 bundesweit bzw überregional tätigen Unternehmen im Objektschutzdienst). Auf dieser Grundlage hat das LSG den beklagten RV-Träger verurteilt, dem Kläger eine EM-Rente von Oktober 2014 bis Dezember 2019 zu gewähren.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat es ausgeführt, nach den medizinischen Sachverständigengutachten verfüge der Kläger zwar noch über ein quantitatives Leistungsvermögen von mindestens sechs Stunden täglich für leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Gleichwohl sei der Kläger in rentenberechtigendem Umfang erwerbsgemindert, denn es liege eine Summierung von qualitativen Leistungseinschränkungen vor.
Nach der Rechtsprechung des BSG sei zunächst zu beurteilen, ob das Restleistungsvermögen dem Versicherten körperliche Verrichtungen (wie zB Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen usw) erlaube, die bei ungelernten Tätigkeiten gefordert zu werden pflegten. Verblieben insoweit Zweifel, folge die Prüfung, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliege und es müssten konkrete "Verweisungstätigkeiten" benannt werden. Letzteres sei im konkreten Fall nicht möglich.
Es, das LSG halte zudem die Abfrage der zuvor benannten Verrichtungen nicht (mehr) für ein geeignetes Mittel um eine "Summierung" zu prüfen. Deswegen sei auch dem Beweisantrag des RV-Träger, die medizinischen Sachverständigen ergänzend zu befragen, ob der Kläger die benannten Verrichtungen noch ausüben könne, nicht nachzukommen. Der Arbeitsmarkt habe sich seit der Entscheidung des Großen Senats (GS 2/95 - BSGE 80, 24 - SozR 3-2600 § 44 Nr 8) vom 19.12.1996 - auf der die Rechtsprechung des BSG fuße - erheblich verändert, wie sich aus dem in das Verfahren eingeführten Gutachten des Sachverständigen für Berufskunde und Tätigkeitsanalyse ergebe. Danach stünden immer weniger geringer qualifizierte (einfache) Arbeitsplätze für leistungseingeschränkte Versicherte zur Verfügung. Im Übrigen sei auch durch die Sachverständigengutachten bewiesen, dass der Kläger die benannten Verrichtungen nicht mehr ausüben könne.
Ausreichend sei zudem, dass eine Summierung von - nur gewöhnlichen - Leistungseinschränkungen vorliege, wie aus der Entscheidung des 13. Senats vom 19.8.1997 (13 RJ 55/96) und im Gegensatz zur Entscheidung des 5. Senats vom 9.5.2012 (B 5 R 68/11 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 18) folge. Wenn jemand so viele "gewöhnliche" Einschränkungen habe, dass alle auf dem Arbeitsmarkt vorhandenen Tätigkeiten nicht mehr verrichtet werden könnten, liege das gleiche Ergebnis vor, wie wenn jemand aufgrund einer oder mehrerer ungewöhnlicher oder spezifischer Leistungseinschränkungen keiner Arbeit mehr gerecht werden könne. Auch in diesem Fall beruhe die Unfähigkeit, durch Arbeit Erwerbseinkommen zu erzielen, nicht auf der Schwankungen unterworfenen jeweiligen Lage des Arbeitsmarktes. Ebenso wenig sei Ursache, dass für noch vollschichtig einsetzbare ältere arbeitslose Versicherte bei vernünftiger Betrachtung auf dem Arbeitsmarkt seit längerer Zeit kaum Vermittlungschancen bestünden. Grund sei vielmehr das praktisch gänzliche Fehlen entsprechender Arbeitsplätze in der Berufswelt. Wenn entsprechende Arbeitsplätze nicht vorhanden seien, könne die Zuständigkeit auch nicht in diejenige der Bundesagentur für Arbeit fallen, da eine Vermittlung dann ausgeschlossen sei.
Mit der - vom LSG zugelassenen Revision - rügt der RV-Träger die Verletzung des § 43 Abs 2 Nr 1 und § 43 Abs 3 SGB VI sowie einen Verfahrensfehler. Das LSG habe nicht festgestellt, welchen Beruf der Kläger (mit welchem gesundheitlichen Anforderungsprofil) zuletzt ausgeübt habe. Diese Prüfung sei nach der Rechtsprechung des BSG jedoch erforderlich. Das Berufungsgericht weiche außerdem bewusst von der "Summierungsrechtsprechung" des BSG (B 13 R 78/09 R - BSGE 109, 189 - SozR 4-2600 § 43 Nr 16; B 5 R 68/11 R, SozR 4-2600 § 43 Nr 18) ab, wonach zunächst zu prüfen sei, ob das Restleistungsvermögen typische Verrichtungen ungelernter Tätigkeiten erlaube. Die Auffassung, dass sich der Arbeitsmarkt für Hilfstätigkeiten gewandelt habe, werde nur mit allgemeinen Ausführungen begründet. Das LSG sei ferner dem in der mündlichen Verhandlung wiederholten Beweisantrag auf ergänzende Befragung der medizinischen Sachverständigen zur Ausübbarkeit der genannten Verrichtungen ohne hinreichende Begründung nicht nachgekommen. Diese Frage sei auch durch die Sachverständigen nicht bereits geklärt gewesen. Das LSG weiche zudem von der Rechtsprechung des BSG zur Summierung von Leistungseinschränkungen insoweit ab, als es auch die Summierung "gewöhnlicher" Leistungseinschränkungen als Grund für das Erfordernis der Benennung einer konkreten Verweisungstätigkeit für ausreichend halte.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Berlin - S 7 R 2395/12, 15.09.2014
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 8 R 883/14, 12.07.2018
Terminbericht
Der Senat hat die mündliche Verhandlung vertagt, um den Beteiligten Gelegenheit zur Wahrnehmung ihres rechtlichen Gehörs durch eine erneute schriftliche Stellungnahme zu geben. Den Beteiligten sind in der mündlichen Verhandlung weitere arbeitsmarktpolitische und sozial- sowie wirtschaftswissenschaftliche Abhandlungen zu dem Vorhandensein von Arbeitsplätzen für "Einfacharbeit" auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt übergeben worden.
Der Senat beabsichtigt, Erkenntnisse aus diesen Unterlagen seiner Entscheidung zu Grunde zu legen. Er folgert aus ihnen, dass in ihrem Leistungsvermögen qualitativ beeinträchtigte Versicherte, die nur noch körperlich leichte Arbeiten mindestens 6 Stunden täglich verrichten können, zur Zeit weiterhin grundsätzlich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisbar sind, ohne dass es einer konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedarf. Es sind danach keine Erkenntnisse vorhanden, dass Arbeitsplätze auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt, die körperlich leichte Verrichtungen zum Gegenstand haben, wie etwa Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen - ohne dass dieser Katalog abschließend ist -, aufgrund aktueller Entwicklungen, wie zB der Digitalisierung, weggefallen sind. Mithin ist insoweit nicht generell von einer Verschlossenheit des Arbeitsmarktes auszugehen.
Der Senat hält nach derzeitigem Verfahrensstand an den vom Bundessozialgericht entwickelten Maßstäben zur Beurteilung der rentenberechtigenden Erwerbsminderung von quantitativ nicht eingeschränkten Versicherten, wie sie in den Entscheidungen des Großen Senats vom 19.12.1996 (GS 2/95 - BSGE 80, 24 - SozR 3-2600 § 44 Nr 8), des 13. Senats vom 19.8.1997 und 19.10.2011 (B 13 RJ 55/96 und B 13 R 78/09 R, BSGE 109, 189 - SozR 4-2600 § 43 Nr 16) sowie des 5. Senats vom 9.5.2012 (B 5 R 68/11 R - SozR 4-2600 § 43 Nr 18) dargelegt worden sind, fest. Danach ist zunächst zu prüfen, ob das Restleistungsvermögen der/dem Versicherten körperliche Verrichtungen wie oben benannt erlaubt. Verbleiben insoweit ernste Zweifel, folgt die weitere Bewertung des Tatsachengerichts, ob eine "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" vorliegt. Bejahendenfalls muss eine konkrete für die/den Versicherte/n geeignete Verweisungstätigkeit benannt werden. Ist dies nicht möglich, so besteht - soweit alle weiteren Voraussetzungen gegeben sind - ein Anspruch auf eine Rente wegen voller Erwerbsminderung.