Bundessozialgericht

Verhandlung B 5 R 36/17 R

Verhandlungstermin 27.06.2019 10:30 Uhr

Terminvorschau

I.K. ./. DRV Berlin-Brandenburg
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Klägerin ein Anspruch auf höhere Witwenrente unter Berücksichtigung der von ihrem verstorbenen Ehemann (nachfolgend: Versicherter) vor dem 1.1.1991 in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten zusteht.

Der Versicherte hatte sowohl in Polen als auch in Deutschland rentenrechtliche Zeiten zurückgelegt. Er lebte zuletzt von 1984 bis 2004 in Deutschland. Die Klägerin wohnte seit 1982 durchgehend in Polen. Ab dem 1.1.1996 bezog der Versicherte Altersrente nach dem SGB VI, die nach dem Deutsch-Polnischen Sozialversicherungsabkommen von 1975 (DPSVA 1975) festgestellt wurde. Dem DPSVA 1975 lag das sogenannte Integrationsprinzip zugrunde, wonach der Versicherungsträger des Wohnortes grundsätzlich für die Berücksichtigung rentenrechtlicher Zeiten in beiden Vertragsstaaten zuständig war.

Nach dem Umzug des Versicherten nach Polen im Jahr 2004 erfolgte eine Neuberechnung des Altersrentenanspruchs. Dabei war das DPSVA 1975 nicht mehr anzuwenden. Im August 2015 verstarb der Versicherte. Die Beklagte bewilligte der Klägerin Hinterbliebenenrente unter Berücksichtigung der vom Versicherten nach dem 1.1.1991 in Deutschland zurückgelegten Beitragszeiten. Für Versicherungszeiten vor dem Stichtag sei nach Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 eine Zuständigkeit des polnischen Versicherungsträgers gegeben. Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 bestimme, dass vor dem 1.1.1991 aufgrund des Abkommens von 1975 von Personen in einem Vertragsstaat erworbene Ansprüche und Anwartschaften durch das DPSVA 1990 nicht berührt werden, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnort im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaates beibehalten. Daraus folge, dass für Anspruchsberechtigte, die ihren Wohnsitz in einem Vertragsstaat über den Stichtag 31.12.1990 hinaus beibehalten hätten, für die bis zum Stichtag zurückgelegten Zeiten weiterhin das Integrationsprinzip des DPSVA1975 gelte, und der polnische Versicherungsträger für die seit 1982 in Polen lebende Klägerin aus den (deutschen und polnischen) Zeiten des Versicherten eine Leistung erbringen müsse.

Das SG hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt, bei dem Hinterbliebenenrentenanspruch auch die in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten vor dem 1.1.1991 zu berücksichtigen. Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 gelte für die Klägerin nicht, weil sie keine Ansprüche oder Anwartschaften auf Witwenrente vor dem 1.1.1991 erworben habe. Ihr Anspruch sei erst nach dem Stichtag mit dem Tod des Versicherten im August 2015 entstanden. Jedenfalls finde das DPSVA 1975 auf Hinterbliebene keine Anwendung mehr, wenn es - wie hier - beim Versicherten selbst nicht mehr maßgeblich gewesen sei. Das LSG hat die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG zurückgewiesen.

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision die Auslegung des Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 durch das SG und das LSG. Maßgeblich sei, dass die Vertragspartner übereinstimmend von einer Anwendung der Regelung auf Hinterbliebene ausgingen.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Frankfurt (Oder) - S 29 R 520/16, 01.03.2017
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 16 R 245/17, 06.12.2017

Terminbericht

Die Revision der Beklagten hat Erfolg. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Unrecht verpflichtet, der Klägerin Witwenrente unter Berücksichtigung der vom verstorbenen Versicherten vor dem 31.12.1990 in Deutschland zurückgelegten Versicherungszeiten zu gewähren. Ein solcher Anspruch steht der Klägerin nicht zu. Ihre Klage ist daher abzuweisen.

Da die Klägerin im Ausland wohnt, richtet sich ihr Anspruch nach den gemäß § 110 Abs 3 SGB VI vorrangigen Regelungen des zwischenstaatlichen und überstaatlichen Rechts. Danach ist hier das Deutsch-Polnische Sozialversicherungsabkommen von 1975 (DPSVA 1975) anzuwenden. Nach Art-Artikel 27 Abs 2 des Deutsch-Polnischen Sozialversicherungsabkommens von 1990 (DPSVA 1990) werden die von Personen in einem Vertragsstaat erworbenen Ansprüche und Anwartschaften von diesem Abkommen nicht berührt, solange diese Personen auch nach dem 31.12.1990 ihren Wohnsitz im Hoheitsgebiet dieses Vertragsstaates beibehalten. Art 6 EG-VO 1408/71 und Art 8 EG-VO 883/2004 erlauben eine Weitergeltung dieses Art 27 DPSVA 1990 auch nach dem Beitritt Polens zur EU. Der Senat geht in Übereinstimmung mit dem 13. Senat des BSG davon aus, dass die besonderen historischen Umstände, die Deutschland und Polen veranlasst haben, hinsichtlich der rentenrechtlichen Ansprüche das Eingliederungsprinzip zu vereinbaren und dies für die durchgehend in einem Vertragsstaat lebenden Personen auch nach 1990 beizubehalten, weiterhin relevant sind. Der europarechtliche Grundsatz der Freizügigkeit wird durch die Anwendung des Art 27 Abs 2 DPSVA 1990 nicht eingeschränkt.

Für die Auslegung dieser Bestimmung haben die Vorinstanzen im Grundsatz zutreffend das Wiener Übereinkommen herangezogen. Nach Art 31 dieses Übereinkommens ist maßgeblich für die Auslegung völkerrechtliche Verträge neben Wortlaut und Zielsetzung auch jede spätere Übereinkunft zwischen des Vertragsparteien über die Auslegung oder Anwendung des Vertrages sowie jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrages, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht. Hier könnte zwar nach dem Wortlaut des Art 27 Abs 2 DPSVA 1990, der von Personen spricht, die in einem Vertragsstaat Ansprüche und Anwartschaften erworben haben, zweifelhaft sein, ob Hinterbliebene erfasst werden. Nach dem übereinstimmenden Willen der Vertragspartner erstreckte sich der Geltungsbereich des Art 27 Abs 2 DPSVA aber auch auf Hinterbliebene. Aus den von der Beklagten und dem BMAS im Verfahren vorgelegten Unterlagen ergibt sich eine entsprechende Einigung der Vertreter der jeweiligen Regierungen. Danach sollte sich die Anwendung eines der deutsch-polnischen Abkommen je nach Verlegung oder Beibehaltung des Wohnsitzes des berechtigten Familienmitgliedes richten. Der Senat hat keine Zweifel, dass die Vertragsparteien zu einer solchen Übereinkunft berechtigt waren. Wesentliche Strukturentscheidungen des Abkommens wurden nicht in Frage gestellt. Die Anknüpfung an das konkret berechtigte Familienmitglied entspricht der grundsätzlichen Geltung der SV-Abkommen auch für Familienangehörige und der Anwendung des Eingliederungsprinzips auf jede individuelle Person.

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