Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 18/18 R

Verhandlungstermin 08.08.2019 09:30 Uhr

Terminvorschau

St. ./. Deutsche Rentenversicherung Knappschaft/Bahn/See als Trägerin der Krankenversicherung
Der Kläger war seit 10.8.2015 arbeitsunfähig krank und erhielt von der Beklagten ab 3.9.2015 Krg. Die hierfür erforderlichen AU-Bescheinigungen hatte der Hausarzt des Klägers ausgestellt. Für deren Übersendung an die Beklagte verwendete die Arztpraxis Freiumschläge, die ihm nicht von dieser, sondern von einer AOK zu diesem Zweck überlassen worden waren. Diese AU-Bescheinigungen gingen entsprechend der auf den Umschlägen aufgeführten Adresse bei der AOK ein und wurden von dort aus jeweils - über viele Jahre so gehandhabt - an die Beklagte weitergeleitet. Eine ärztliche AU-Bescheinigung vom 7.3.2016, mit der dem Kläger AU vom 7. bis 15.3.2016 attestiert worden war, ging nach Verwendung eines Freiumschlags der AOK durch den Arzt bei der Beklagten erst am 16.3.2016 ein. Diese stellte daraufhin das Ruhen des Krg-Anspruchs für die Zeit vom 7. bis 15.3.2016 fest und lehnte die Zahlung insoweit ab.

Das SG hat die Klage abgewiesen. Das LSG hat die (zugelassene) Berufung des Klägers zurückgewiesen: Die Voraussetzungen einer Nachsichtgewährung lägen in seinem Fall nicht vor. Auch wenn der Senat davon ausgehe, dass der Kläger darauf vertraut habe, sein Hausarzt werde sich um die Versendung der AU-Bescheinigungen kümmern und es in der Vergangenheit noch nicht zu Verspätungen gekommen sei, habe er sich des Arztes als eines "Erfüllungsgehilfen" bei der letztlich ihm selbst obliegenden Aufgabe bedient. Dessen Verschulden müsse sich der Kläger ebenso zurechnen lassen wie eine Verzögerung bei der postalischen Beförderung. Eine Fehlentscheidung der Beklagten, die ihn daran gehindert hätte, seinen Krg-Anspruch zu wahren, liege nicht vor, da die Beklagte dem Hausarzt nicht selbst die Freiumschläge überlassen habe und ihr die "Weiterleitungspraxis" über die AOK auch nicht bekannt gewesen sei. Aufgrund der ihm in einem Schreiben und in einem Merkblatt sowie auf AU-Bescheinigungen im Jahr 2015 gegebenen Hinweise der Beklagten habe der Kläger nicht darauf vertrauen dürfen, "das schon alles gut gehen werde", sondern hätte bei einer genaueren Nachfrage von den genaueren Umständen Kenntnis erlangt.

In diesem Fall hat der Kläger Revision eingelegt und rügt die Verletzung materiellen Rechts (§ 49 Abs 1 Nr 5 SGB V). Der behandelnde Arzt sei als zugelassener Vertragsarzt auch Leistungserbringer der Beklagten. Ausprägung des auch im Sozialrecht geltenden Grundsatzes von Treu und Glauben (§ 242 BGB) sei es ua, dass die treuwidrige Inanspruchnahme einer formal bestehenden Rechtsposition (Rechtsmissbrauch) durch die Rechtsordnung nicht geschützt sei. Die Beklagte habe hier die Handhabung ihres Vertragsarztes jedenfalls geduldet. Weder habe sie die Übermittlung durch eine andere KK beanstandet noch die vorherige Weiterleitung an diese durch den Vertragsarzt. Neben diesem Umstandsmoment sei auch das nötige Zeitmoment zu bejahen, weil die vorgenommene Handhabung über Jahre hinweg anstandslos praktiziert worden sei. Der verspäteten Übermittlung der AU-Bescheinigung liege letztlich eine nichtmedizinische Fehlentscheidung des Vertragsarztes zu Grunde, die der Beklagten zuzurechnen sei.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Dortmund - S 49 KR 1421/16, 19.10.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 5 KR 771/17, 05.07.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 35/19.

Terminbericht

In dieser Sache sind auf die Revision des Klägers hin die vorinstanzlichen Urteile geändert und die Beklagte ist unter Aufhebung ihrer ablehnenden Bescheide zur Krg-Gewährung verurteilt worden. Zwar verwendete die Arztpraxis für die Übersendung von AU-Bescheinigungen der bei der Beklagten Versicherten Freiumschläge der AOK (Aufdruck: "AOK, Beleglesung ... "). Allerdings hat das LSG festgestellt, dass die Beklagte die AU-Bescheinigungen jedenfalls auch über diesen Weg (verspätet) erhielt und dass die Verfahrensweise über viele Jahre so gehandhabt wurde. Diese Umstände reichen nicht aus, um das Vertrauen des Klägers in die Ordnungsgemäßheit dieses Vorgehens zu zerstören. Entscheidend ist, dass der Arzt auch hier dem Versicherten die für die KK bestimmte AU-Bescheinigung nicht zur Weiterleitung an die Beklagte aushändigte und dass die Beklagte dieser Praxis nicht in vertrauenszerstörender Weise zweifelsfrei widersprochen hatte. Vielmehr übernahm der Arzt auch hier planmäßig die AU-Meldung für den Versicherten. In diesem Rahmen auftretendes Fehlverhalten des Arztes bzw Fehler auf dem Übermittlungsweg sind der Beklagten deshalb ebenfalls unter Heranziehung der Rechtsgedanken zuzurechnen, die dem Rechtsinstitut der Duldungs- bzw Anscheinsvollmacht zugrunde liegen. Darüber, wie der Arzt die Übermittlung der AU-Meldung vornimmt, insbesondere, ob er dabei Freiumschläge der Beklagten oder einer anderen Krankenkasse nutzte, muss sich der Versicherte in der Regel keine Gedanken machen. Der Kläger hatte auch hier keinen Anlass, der Beklagten die AU zusätzlich selbst auf anderem Wege mitzuteilen. Bloße abstrakte Hinweise in Merkblättern und Schreiben zum Krg-Anspruch konnten hier das berechtigte Vertrauen des Versicherten in die Richtigkeit des Vorgehens nicht zerstören.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 35/19.

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