Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 7/18 R

Verhandlungstermin 20.08.2019 12:00 Uhr

Terminvorschau

H. M. ./. BG der Bauwirtschaft
Die Beteiligten streiten darum, ob die Gewährung von Verletztengeld den gleichzeitigen Bezug einer Verletztenrente ab dem 12.7.2012 ausschließt.

Der 1946 geborene Kläger bezieht seit Vollendung des 60. Lebensjahres eine Altersrente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung. Nach dem Renteneintritt war er zusätzlich mit einem Nettoverdienst von 315 Euro als Bausanierer geringfügig beschäftigt. Ab dem 12.7.2012 war er arbeitsunfähig erkrankt. Die Beklagte bewilligte dem Kläger Verletztengeld ab dem 12.7.2012 bis zum Ablauf der 78 Woche gemäß § 45 SGB VII. Die Höhe des Verletztengeldes wurde auf Grundlage des Bruttoentgelts aus der geringfügigen Beschäftigung errechnet. Mit einem weiteren Bescheid anerkannte die Beklagte bei dem Kläger eine Berufskrankheit (BK) nach Nr 4104 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (Lungenkrebs oder Kehlkopfkrebs in Verbindung mit Asbeststaublungenerkrankung <Asbestose>). Als Tag des Versicherungsfalls wurde der 12.7.2012 festgesetzt. Wegen des Bezugs des Verletztengeldes beginne der Bezug der Verletztenrente gemäß § 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII ab dem 9.1.2014, dem Tag nach der Beendigung des Bezugs des Verletztengelds. Das SG hat die Klage abgewiesen. Auch eine geringfügige Beschäftigung eines Rentenbeziehers werde vom Schutzzweck des § 45 SGB VII erfasst. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte unter Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt, dem Kläger Verletztenrente nach einer MdE von 100 vH auch für die Zeit vom 13.7.2012 bis zum 8.1.2014 zu gewähren. Nach § 72 Abs 1 SGB VII würden Renten an Versicherte von dem Tag an gezahlt, der dem Tag folge, an dem der Anspruch auf Verletztengeld ende (Nr 1). Es könne dahinstehen, ob einem Anspruch auf Verletztengeld entgegenstehe, dass der Versicherte zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls bereits Altersrente bezogen und somit für die Dauer seiner Arbeitsunfähigkeit wegen einer geringfügigen Beschäftigung Anspruch auf zwei Leistungen mit Lohnersatzfunktion gehabt habe, denn jedenfalls die Voraussetzungen des § 46 Abs 3 S 2 Nr 2 SGB VII zur Beendigung des Verletztengeldanspruchs griffen im vorliegenden Fall ein. Das Verletztengeld könne seine Entgeltersatzfunktion ab dem Zeitpunkt, ab dem der Versicherte Altersrente beziehe und seinen Lebensunterhalt aus dieser Rente bestreite, nicht mehr erfüllen. Diese Situation trete zumindest dann ein, wenn der Kläger nach Bezug einer Altersrente eine geringfügige Beschäftigung ausübe und sich diese nicht mehr rentenerhöhend auswirke, wie dies bei einem Minijob wie hier vor dem 1.1.2017 der Fall gewesen sei. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass das Ende des Verletztengeldes nach § 46 Abs 3 S 2 Nr 2 SGB VII voraussetze, dass mit dem Wiedereintritt der Arbeitsfähigkeit nicht zu rechnen sei. Dies habe die Beklagte festgestellt, indem sie dem Kläger Verletztengeld nach § 45 Abs 1 iVm § 46 Abs 3 S 2 Nr 3 SGB VII gewährt habe. Hieran ändere auch nichts, dass nach § 50 Abs 1 S 1 SGB V das Verletztengeld mit "Beginn" der dort genannten Leistungen ende. Der Gesetzgeber habe damit nicht zum Ausdruck bringen wollen, dass der Leistungsfall in der gesetzlichen Unfallversicherung vor der Gewährung einer Leistung iS des § 50 Abs 1 S 1 SGB V liegen müsse. Vielmehr habe der Gesetzgeber unterstreichen wollen, dass es keiner Gewährung von Verletztengeld bedürfe, wenn die Funktion des Verletztengeldes als Lohnersatzfunktion nicht mehr erreicht werden könne. Dies sei unabhängig von der zeitlichen Reihenfolge der Leistungsfälle ab Beginn der Gewährung einer Altersrente der Fall.

Die Beklagte rügt mit ihrer Revision eine Verletzung der §§ 45, 46 SGB VII.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Trier - S 4 U 36/15, 13.05.2016
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz - L 2 U 114/16, 19.03.2018

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Terminbericht

Die Revision der Beklagten war begründet. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des SG zurückzuweisen. Zu Recht hat die Beklagte das Bestehen eines Anspruchs auf Verletztenrente vor dem 9.1.2014 abgelehnt, weil dem Kläger bis zum 8.1.2014 ein Anspruch auf Verletztengeld zustand. Gemäß § 72 Abs 1 SGB VII werden Verletztenrenten von dem Tag an gezahlt, der auf den Tag folgt, an dem 1. der Anspruch auf Verletztengeld endet, 2. der Versicherungsfall eingetreten ist, wenn kein Anspruch auf Verletztengeld entstanden ist. Dem Kläger stand gemäß § 72 Abs 1 Nr 1 SGB VII ein Anspruch auf Verletztenrente hier erst ab dem 9.1.2014 zu, weil der Anspruch auf Verletztengeld am 8.1.2014 endete. Durch Bescheid der Beklagten vom 22.7.2014 war dem Kläger Verletztengeld gemäß § 45 SGB VII wegen seiner unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit in der (geringfügigen) Beschäftigung als Bausanierer ab 12.7.2012 bis zum Ablauf der 78. Woche bewilligt worden. Dieser Bescheid ist gemäß § 77 SGG bestandskräftig geworden, wobei letztlich dahinstehen kann, ob die Bestandskraft dieses Bescheids, gegen den der Kläger keinen Widerspruch eingelegt hat, auch im Verletztenrentenverfahren zu beachten ist oder ob hieran aus verfassungsrechtlichen Erwägungen Zweifel bestehen könnten. Zwar waren für den Kläger die Auswirkungen der ihn begünstigenden Verletztengeldbewilligung auf den Beginn der Rente nicht ohne weiteres erkennbar. Damit könnte ihn die Bindungswirkung unangemessen in seinem Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz (Art 19 Abs 4 GG) beeinträchtigen (vgl BVerfGE 129, 1 Rn 32), wenn auch in der Begründung des Bescheids ein klarer Hinweis darauf enthalten war, dass die Verletztenrente erst im Anschluss an den Verletztengeldbezug beginnen werde. Es stellt sich zudem die Frage, ob die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid über den Rentenbeginn vom 1.10.2014 nicht zugleich als Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X hinsichtlich des Bescheids vom 22.7.2014 über das Verletztengeld hätte behandeln müssen. Dies konnte hier aber dahinstehen, weil ausgehend von den Feststellungen des LSG die gesetzlichen Voraussetzungen eines Anspruchs auf Verletztengeld gemäß § 45 SGB VII ab dem 12.7.2012 vorlagen und das Verletztengeld auch nicht vor Ablauf der 78. Woche danach endete (§ 46 Abs 3 SGB VII). Verletztengeld wird ua dann erbracht, wenn der Versicherte infolge des Versicherungsfalls arbeitsunfähig ist (§ 45 Abs 1 Nr 1 SGB VII) und unmittelbar vor Beginn der Arbeitsunfähigkeit Anspruch auf Arbeitsentgelt hatte (§ 45 Abs 1 Nr. 2 SGB VII). Der Kläger wurde während der zuletzt ausgeübten geringfügigen Beschäftigung arbeitsunfähig (Versicherungsfall). Dem Verletztengeldanspruch steht nicht entgegen, dass diese Beschäftigung, die gleichzeitig mit dem Bezug einer Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung ausgeübt wurde, nur geringfügig iS des § 8 SGB IV war. Zwar hat der Senat bereits entschieden, dass die Voraussetzungen des § 45 Abs 1 Nr 2 SGB VII nicht erfüllt sind, wenn der Verletzte seinen Lebensunterhalt zum Zeitpunkt des Versicherungsfalles aus anderen Quellen finanziert, weil dem Verletztengeld dann keine Entgeltersatzfunktion zukommt. Dies gilt aber nicht, wenn der Verletzte, wie hier, neben einer (niedrigen) Altersrente sein Einkommen auch aus einer geringfügigen Beschäftigung speist. Nach den Feststellungen des LSG war die Altersrente gerade nicht die alleinige Erwerbsquelle des Klägers. Zwar wäre es für den Kläger im konkreten Fall wohl wirtschaftlich günstiger, wenn er kein Verletztengeld erhalten würde, weil dann die höhere Verletztenrente früher einsetzen könnte. Dieses vom LSG für den konkreten Fall gefundene Ergebnis hätte jedoch bei allgemeiner Anwendung zur Folge, dass Verletzten aus einer vorherigen geringfügigen Beschäftigung überhaupt kein Verletztengeld zustehen könnte. Eine solche Einschränkung des Schutzbereichs des Verletztengelds ist aus § 45 Abs 1 Nr 1 SGB VII nicht ableitbar. Würde der Versicherungsfall während einer geringfügigen Beschäftigung eintreten und wäre die Erwerbsfähigkeit eines Verletzten nicht über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH gemindert (MdE), so wäre nach dem Lösungsansatz des LSG überhaupt keine Geldleistung der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren, was weder mit § 31 SGB I noch mit dem sozialen Schutzprinzip (vgl § 1 Nr 2 SGB VII) und dem Gebot möglichst weitgehender Verwirklichung sozialer Rechte vereinbar wäre. Damit ist der Auffassung des LSG, dass dem Verletztengeldanspruch generell ein gleichzeitiger Bezug der Altersrente entgegenstehe, nicht zu folgen. Der Kläger hatte schließlich auch keinen Anspruch auf einen früheren Beginn der Verletztenrente gemäß § 46 Abs 3 S 2 Nr. 3 SGB VII. Hiernach endet das Verletztengeld mit Beginn der in § 50 Abs 1 S 1 SGB V genannten Leistungen. Es müssen hierfür also erstmalig nach Entstehen des Verletztengeldanspruchs zeitlich nachfolgend die in § 50 Abs 1 S 1 SGB V genannten Leistungen gezahlt werden. Dies ist hier schon deshalb nicht der Fall, weil der Beginn der Altersrente aus der gesetzlichen Rentenversicherung vor dem Versicherungsfall der gesetzlichen Unfallversicherung lag. Schließlich lässt sich eine erweiternde Auslegung des § 72 Abs 1 SGB VII, dass bei Versicherungsfällen, die während einer geringfügigen Beschäftigung eintreten, neben Verletztengeld auch Verletztenrente gezahlt werden könnte, nicht begründen.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 36/19.

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