Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 23/19 R

Verhandlungstermin 11.09.2019 11:30 Uhr

Terminvorschau

BAG Dr. Z. ./. Beschwerdeausschuss der Vertragsärzte und Krankenkassen in Schleswig-Holstein, 2 Beigeladene
In den Verfahren B 6 KA 15/18 R, B 6 KA 21/19 R, B 6 KA 22/19 R und B 6 KA 23/19 R sind Regresse wegen der Verordnung von Arzneimitteln durch einen auf dem Fachgebiet der Orthopädie tätigen Vertragsarzt (Verfahren B 6 KA 22/19 R) bzw durch die BAG, der er seit 2007 angehört, in den Jahren 2006 bis 2008 umstritten. Es geht um den Einsatz von TNF-Alpha-Inhibitoren (Handelsnamen Humira® und Enbrel®) zur Behandlung rheumatischer Erkrankungen sowie von Teriparatid (Handelsname Forsteo®) zur Therapie der Osteoporose.

Die Verfahren B 6 KA 21/19 R, B 6 KA 22/19 R und B 6 KA 23/19 R betreffen Regressfestsetzungen des beklagten Beschwerdeausschusses, die auf Antrag der zum Verfahren beigeladenen AOK wegen der Unzulässigkeit entsprechender Verordnungen erfolgt sind. Der Beklagte ist der Auffassung, die oben genannten Wirkstoffe bzw Arzneimittel hätten im Hinblick auf Therapiehinweise des Gemeinsamen Bundesausschusses nicht verordnet werden dürfen. Das Verfahren B 6 KA 22/19 R betrifft die Verordnung von Humira® und Enbrel® im Jahr 2006, das Verfahren B 6 KA 21/19 R dieselben Arzneimittel im Jahr 2007. Das Verfahren B 6 KA 23/19 R hat Regresse wegen der Verordnung von Forsteo® in den Jahren 2007 und 2008 zum Gegenstand. Das SG hat die Klagen jeweils abgewiesen.

Das LSG hat die Berufung der Klägerin im Verfahren B 6 KA 23/19 R zurückgewiesen, weil die klagende BAG das Mittel im Hinblick auf Einschränkungen, die sich aus einem Therapiehinweis des GBA ergeben, nicht hätte einsetzen dürfen. Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin.

In den Verfahren B 6 KA 21/19 R und B 6 KA 22/19 R, die Regresse wegen der Verordnung von TNF-alpha-Inhibitoren betreffen, hat das LSG die Urteile des SG und die Bescheide des Beklagten aufgehoben. Dieser habe nicht berücksichtigt, dass hinsichtlich der Behandlung von Rheumapatienten mit diesem Wirkstoff nachträglich im Jahr 2010 das in der Prüfvereinbarung im Rahmen der Richtgrößenprüfung vorgesehenen Zweitmeinungsverfahren durchgeführt worden sei. Dieses habe ergeben, dass die von der Klägerin praktizierte Verordnungsweise teilweise als wirtschaftlich zu beurteilen sei. Das hätte der beklagte Beschwerdeausschuss auch bei der Prüfung der Rechtmäßigkeit von Regressen, die frühere Zeiträume betreffen, berücksichtigen müssen. Dagegen richten sich die Revisionen des Beklagten.

Das Verfahren B 6 KA 15/18 R betrifft einen Arzneikostenregress als Ergebnis einer Richtgrößenprüfung für das Jahr 2007. Die klagende BAG hatte die für die Fachgruppe der Orthopäden vereinbarte Richtgröße um mehr als 600 % überschritten, ganz überwiegend wegen der Verordnung von TNF-Alpha-Inhibitoren und Teriparatid. Das SG hat die Klage gegen den Bescheid des Beklagten, der einen Regress in Höhe von ca 850.000 festgesetzt hatte, abgewiesen.

Das LSG hat das Urteil des SG und den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Die Feststellungen des Beklagten zur Unwirtschaftlichkeit der Verordnungsweise der Klägerin und zum Fehlen von Praxisbesonderheiten seien nicht zu beanstanden. Der Beklagte habe aber nicht sichergestellt, dass die Klägerin nicht doppelt in Anspruch genommen werden könne, zum einen aus den im Wege der Einzelfallprüfung zu Gunsten der AOK festgesetzten Regressen (Verfahren B 6 KA 21/19 R, B 6 KA 22/19 R und B 6 KA 23/19 R), zum anderen aus dem teilweise identische Zeiträume erfassenden Richtgrößenregress (Verfahren B 6 KA 15/18 R).

Der Beklagte macht mit seiner Revision geltend, er habe die auf die AOK entfallenden Kosten von dem Verordnungsvolumen, das er anhand der für das Jahr 2007 maßgeblichen Richtgröße geprüft habe, abgezogen, so dass eine doppelte Inanspruchnahme der Klägerin nicht zu befürchten sei. Die Klägerin verteidigt insoweit das Berufungsurteil und macht mit ihrer Gegenrüge geltend, es fehle schon an den Voraussetzungen für die Festsetzung eines Regresses, ua weil der Mehraufwand der Klägerin durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt sei.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Kiel - S 16 KA 230/11, 10.09.2014
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 4 KA 11/15, 20.02.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 40/19.

Terminbericht

In den Verfahren B 6 KA 21/19 R, B 6 KA 22/19 R und B 6 KA 23/19 R (Einzefallregresse wegen der Verordnung von TNF-Alpha-Inhibitoren und Teriparatid) ist der Senat von folgenden Grundsätzen ausgegangen:

  • Einzelfallregresse wegen unzulässiger Verordnungen können auch für Zeiträume festgesetzt werden, in denen die Verordnungsweise einer Praxis anhand von Richtgrößen geprüft wird. Allerdings ist diese Prüfung auf die arzneimittelrechtliche oder vertragsarztrechtliche Unzulässigkeit von Verordnungen beschränkt; neben der Richtgrößenprüfung darf einzelfallbezogen nur untersucht werden, ob Arzneimittel außerhalb ihrer Zulassungsindikation oder im Widerspruch zu gesetzlichen Vorgaben oder solchen in den Richtlinien des GBA erfolgt sind. Ist das nicht der Fall, ist für die einzelfallbezogene Prüfung der Wirtschaftlichkeit neben einer Richtgrößenprüfung kein Raum.
  • Leitlinien oder Verordnungsempfehlungen der medizinischen Fachgesellschaften stehen Verordnungseinschränkungen im Gesetz oder in Richtlinien des GBA nicht gleich. Selbst wenn ein Therapiehinweis des GBA inhaltlich einer älteren Leitlinienempfehlung der Fachgesellschaft entspricht, sind Verordnungen aus der Zeit vor Inkrafttreten des Therapiehinweises nicht vertragsarztrechtlich unzulässig, sondern allenfalls unwirtschaftlich und können deshalb neben einer Richtgrößenprüfung nicht einzelfallbezogen regressiert werden.
  • Darf ein Medikament arzneimittelrechtlich ohne vorangegangenen Behandlungsversuch mit anderen Präparaten nur unter engen Voraussetzungen - zB schwere, chronische oder progrediente Erkrankung - eingesetzt werden, führt die Nichtbeachtung dieser Einschränkung zur Unzulässigkeit der Verordnung. Das ist im Streitfall im gerichtlichen Verfahren zu klären.
  • Tritt während der laufenden Behandlung eines Patienten mit einem bestimmten Arzneimittel ein Therapiehinweis des GBA in Kraft, dass der Einsatz dieses Mittels unzulässig ist, kann die Fortführung der Therapie für einen begrenzten Zeitraum gleichwohl zulässig sein, wenn aus medizinischen Gründen ein sofortiges Absetzen des betroffenen Medikaments nicht vertretbar war. Dem müssen die Prüfgremien und - im Streitfall - die Gerichte auf entsprechenden Vortrag des Arztes nachgehen.
  • Das für den Bezirk der beigeladenen KÄV im Zusammenhang mit der Richtgrößenprüfung vereinbarte "Zweitmeinungsverfahren", das mit der klagenden BAG im Jahr 2010 durchgeführt worden ist, hat keinen Einfluss auf die Beurteilung der arzneimittel- und vertragsarztrechtlichen Zulässigkeit von Verordnungen aus den Jahren 2007 und 2008.

Daraus ergeben sich für die einzelnen Verfahren folgende Ergebnisse:

Im Verfahren B 6 KA 23/19 R (Regress wegen der Verordnung von Forsteo® in den Jahren 2007 und 2008) ist der maßgebliche Therapiehinweis des GBA, den die Klägerin nicht beachtet hat, am 24. März 2007 in Kraft getreten. Verordnungen aus der Zeit davor waren nicht unzulässig; insoweit hat der Senat die vorinstanzlichen Entscheidungen und den Bescheid des Beklagten aufgehoben. Ob die Fortsetzung einer Behandlung mit Forsteo® ab diesem Tag ausnahmsweise zulässig war, kann der Senat nicht abschließend beurteilen. Insoweit ist der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden. Die Verordnungen von Forsteo® ab dem 24. März 2007 an nicht unmittelbar bis zu diesem Tag mit diesem Arzneimittel behandelte Patienten waren unzulässig; insoweit hat der Senat die Revision der Klägerin zurückgewiesen.

Im Verfahren B 6 KA 22/19 R (Regress wegen TNF-Alpha-Inhibitorenim Jahr 2006) war zwischen den Präparaten Enbrel® und Humira® zu differenzieren. Zu Enbrel® gab es einen Therapiehinweis des GBA, den der Kläger nicht beachtet hat. Insoweit hat der Senat auf die Revision des Beklagten das Urteil des LSG geändert und die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Zu Humira® ist der maßgebliche Therapiehinweis des GBA erst am 12. Juli 2007 in Kraft getreten und war deshalb nicht einschlägig. Allerdings steht nicht fest, dass der Kläger die arzneimittelrechtlichen Zulassungseinschränkungen für Humira® beachtet hat; das muss das LSG nach Zurückverweisung des Rechtsstreits einzelfallbezogen klären.

Im Verfahren B 6 KA 21/19 R (Regress wegen der Verordnung von Enbrel® und Humira® 2007 und 2008) waren die Verordnungen von Enbrel® insgesamt unzulässig. Humira® durfte die Klägerin grundsätzlich ab dem 12. Juli 2007 nicht mehr verordnen. Deshalb ist auf die Revision des Beklagten das Urteil des LSG insoweit geändert und die Berufung der Klägerin zurückgewiesen worden. Wegen der Verordnung von Humira® aus der Zeit bis zum 11. Juli 2007 sowie - für spätere Zeiträume - zur Behandlung von Patienten, die unmittelbar bis zu diesem Tag mit Humira® behandelt worden sind, ist der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen worden.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 40/19.

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