Verhandlung B 2 U 3/18 R
Verhandlungstermin
26.11.2019 12:00 Uhr
Terminvorschau
Dr. J.F. ./. Unfallkasse Brandenburg, Beigeladene zu 1.: Unfallversicherung Bund und Bahn, Beigeladene zu 2.: Verwaltungs-Berufsgenossenschaft
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin 1978 in der ehemaligen DDR als Schülerin einen Arbeitsunfall erlitten hat.
Die 1964 geborene Klägerin besuchte ab März 1978 eine Kinder- und Jugendsportschule (KJS) in Potsdam. Die Schülerinnen und Schüler dieser Schule konnten einen mit dem Realschulabschluss oder der Reifeprüfung vergleichbaren Abschluss erlangen. Ihre sportliche Ausbildung war dem Deutschen Turn- und Sportbund (DTSB) übertragen. Mit Aufnahme in die KJS wurde die Klägerin zum Armee-Sportclub (ASK) "Vorwärts" Potsdam delegiert, dem sie als Leistungskader angehörte. Am Mittwoch, den 24.5.1978, nahm sie an einem Leichtathletikwettkampf des SC Magdeburg teil, bei dem sie von ihrer Trainerin betreut wurde. Die Wettkampfteilnehmer starteten jeweils für ihre Sportclubs. Beim Weitsprung verdrehte sich die Klägerin ihr rechtes Kniegelenk. Der Arzt des Sportmedizinischen Dienstes der KJS stellte eine Distorsion des rechten Kniegelenks fest und veranlasste eine Trainings- und Schulbefreiung bis 31.5.1978, was im Gesundheitskontrollbuch der Klägerin vermerkt ist. Ein nach dem Recht der DDR möglicher Arbeitsunfall bzw eine Unfallmeldung aus 1978 ist nicht feststellbar. Im Jahre 2010 diagnostizierte ein Durchgangsarzt eine Meniskusläsion des rechten Kniegelenks und übersandte der Beklagten eine Unfallmeldung mit Hinweis auf das Ereignis aus dem Jahre 1978. Die Beklagte lehnte eine Entschädigung des Ereignisses aus 1978 ab, weil nicht nachgewiesen sei, dass die Klägerin zum Unfallzeitpunkt einer schulischen Tätigkeit nachgegangen sei. Das SG hat die Klage abgewiesen, das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Ein Arbeitsunfall nach der hier anwendbaren RVO sei nicht erwiesen. Der Weitsprung während des Wettkampfes sei nicht in der Schülerversicherung nach § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO versichert. Die alleinige Verantwortung für die Wettkampfveranstaltung habe beim DTSB bzw dem Sportclub gelegen. Die Wettkämpfe seien nicht in den Lehr- und Stundenplan der KJS aufgenommen gewesen. Es habe keine schulische Aufsichtsmaßnahme während des Wettkampfes stattgefunden und der Wettkampf sei auch nicht auf Anordnung einer Lehrperson erfolgt, weil die Trainerin zum Unfallzeitpunkt nicht Sportlehrerin der KJS gewesen sei.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör sowie des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO. Das LSG berücksichtige nicht die enge administrative Verflechtung von Schule und Sportclub sowie, dass das Ministerium für Volksbildung die Gesamtverantwortung, auch für die sportliche Ausbildung, getragen habe. Die Wettkampfteilnahme sei im Auftrag der KJS erfolgt und habe während der regulären Unterrichtszeiten stattgefunden. Das LSG habe seine Entscheidung maßgeblich auf die Feststellung gestützt, dass die Trainerin zum Unfallzeitpunkt nicht mehr dem Ministerium für Volksbildung als Schulbehörde unterstellt gewesen sei, und deshalb der Wettkampf nicht unter Aufsicht bzw auf Anordnung einer Lehrperson erfolgt sei. Damit habe das LSG seine Entscheidung auf eine Feststellung gestützt, zu der sie sich nicht habe äußern können. Hätte das LSG die Entscheidungserheblichkeit der Frage, wann der Arbeitsvertrag der Trainerin auf die NVA übergeleitet worden sei, im Verfahren thematisiert, hätte sie hierzu Zeugenbeweis anbieten und die Trainerin ihre Berufungsurkunde des Ministeriums für Nationale Verteidigung erst mit Wirkung zum 1.9.1978 vorlegen können. Die Trainerin der Klägerin sei zum Zeitpunkt des Unfalles gerade Sportlehrerin an der KJS gewesen.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Stuttgart - S 13 U 201/12, 19.10.2016
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 9 U 4847/16, 30.01.2018
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Terminbericht
Die zulässige Revision der Klägerin war im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Aufgrund der Feststellungen des LSG kann nicht entschieden werden, ob die Klägerin am 24.5.1978 während der Teilnahme an einem Weitsprungwettbewerb als Schülerin einen Arbeitsunfall erlitten hat. Insbesondere wird festzustellen sein, ob die Trainerin der Klägerin zugleich ihre Lehrerin war und (auch) als solche die Schülerin bei dem Wettkampf begleitet hat. Das Ereignis ist dem für das Beitrittsgebiet zuständigen Träger der gUV erst nach dem 31.12.1993 bekannt geworden, so dass zu prüfen ist, ob das Ereignis nach dem Recht der RVO als Arbeitsunfall anzuerkennen war (§ 1150 Abs 2 Nr 2 RVO). Als versicherte Tätigkeit kommt hier allein § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO in Betracht, wonach Schüler während des Besuchs allgemeinbildender Schulen versichert waren. Die Klägerin hat am 24.5.1978 zunächst einen Unfall im Sinne eines äußeren Ereignisses, das auf den Körper einwirkte, erlitten. Die Klägerin besuchte mit der Kinder- und Jugendsportschule F.-J. (KJS F.-J.) auch eine allgemeinbildende Schule iS des § 539 Abs 1 Nr 14 Buchst b RVO. Versicherte Tätigkeit ist allerdings nur der Schulbesuch. Es kann hier nicht entschieden werden, ob der Weitsprung der Klägerin noch im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule stattfand. Dies hängt im konkreten Fall maßgebend davon ab, ob die Klägerin bei dem Weitsprung einer schulischen Aufsicht unterlag. Der organisatorische Verantwortungsbereich der Schule ist eröffnet, wenn die Verrichtung in einem unmittelbaren räumlichen und zeitlichen Zusammenhang zur Schule steht, der auch dann noch vorliegen kann, wenn dieser Zusammenhang, zB bei Klassenfahrten oder Theaterbesuchen, gelockert ist. Der Senat hat bereits 2009 unter besonderer Berücksichtigung der Verhältnisse an den KJS in der ehemaligen DDR entschieden, dass eine Verrichtung auch dann noch im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule liegen kann, wenn Schüler während des Schulunterrichts in Mitverantwortung und unter Aufsicht der Schule in der Turnhalle ihres Sportvereins Sporttraining absolvieren. Unter Berücksichtigung, dass im Beitrittsgebiet an den als sportliche Eliteschulen errichteten KJS eine enge Verzahnung zwischen Schulbesuch und sportlicher Betätigung beabsichtigt war, kann es für die Bejahung des Versicherungsschutzes genügen, wenn die Entscheidung über die Teilnahme des Schülers an einem Wettkampf dem Schuldirektor (mit) oblag. Hierbei könnte auch zu berücksichtigen sein, dass die Klägerin offenbar internatsmäßig untergebracht war und damit möglicherweise "rund um die Uhr" einer schulischen Aufsicht unterlag. Das LSG wird vor allem aber konkret festzustellen haben, ob und wie die Schule in die Genehmigung und Planung des Wettkampfs eingebunden und wie dieser mit den Unterrichtszeiten abgestimmt war. Insbesondere wird das LSG konkret festzustellen haben, ob die Begleitung und Betreuung bei der Veranstaltung durch eine Lehrkraft der KJS erfolgte. Zwar starteten die Schüler offiziell für den Sportclub, zu dem sie durch die Schule delegiert worden waren. Allerdings waren die betreuenden Lehrkräfte an der Schule offenbar jeweils gleichzeitig Trainer dieses Sportclubs. Angesichts der engen Verflechtung der Verantwortungsbereiche des Deutschen Turn und Sportbundes (DTSB) bzw des Sportclubs mit der KJS verblieben dann Einwirkungsmöglichkeiten der Schulleitung und ihrer Lehrkräfte auch während der sportlichen Förderung der Schüler. Bestanden auch bei der Teilnahme an Sportwettkämpfen Einwirkungsmöglichkeiten durch den Direktor der KJS und Sportlehrer der Schule, so ist der sachliche Zusammenhang mit dem Besuch einer KJS zu bejahen, was der Senat bereits 2009 entschieden hat. Aus der Sicht des Schülers stellte sich der Vergleichswettkampf im Weitsprung dann auch als Schulbesuch dar, weil Grundlage für alle diese Aktivitäten die Aufnahme in eine KJS war. Vorliegend fehlte es insbesondere an einer den Senat bindenden Feststellung, dass die Klägerin während der Wettkampfteilnahme durch die Sportlehrerin der KJS F.-J. betreut wurde. Zwar hat das LSG festgestellt, dass die Trainerin der Klägerin zum Zeitpunkt des Unfalls nicht mehr als Sportlehrerin der KJS F.-J. beschäftigt war. Diese Feststellung ist jedoch nicht bindend, weil die Klägerin sich zu den Umständen, aus denen das LSG geschlossen hat, die Trainerin sei nicht (mehr) Lehrerin gewesen nicht äußern und keinen Beweis dafür antreten konnte, dass die Trainerin zum Zeitpunkt des Unfalls Sportlehrerin der KJS F.-J. und damit der Klägerin war.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 53/19.