Bundessozialgericht

Verhandlung B 13 R 9/19 R

Verhandlungstermin 24.03.2020 00:00 Uhr

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Der Termim wurde aufgehoben.
In beiden Revisionsverfahren (B 13 R 9/19 R und B 13 R 3/19 R) steht die Gewährung einer Rente unter Berücksichtigung von sogenannten "Ghetto-Beitragszeiten" nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) im Streit. Fraglich ist dabei insbesondere, ob ein einzelnes von Juden bewohntes Haus innerhalb eines Dorfes während der deutschen Besetzung Polens als ein Ghetto im Sinne des ZRBG angesehen werden kann.

H. B. ./. Deutsche Rentenversicherung Nord
Streitig ist die Gewährung einer Regelaltersrente.

Der 1929 geborene Kläger ist jüdischen Glaubens und war Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). 1939 lebte er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in dem polnischen Ort Sarnów nahe Mielec (Distrikt Krakau des sogenannten Generalgouvernements). Zu diesem Zeitpunkt hatte der Ort Sarnów insgesamt circa 100 Einwohner, darunter drei Familien jüdischen Glaubens mit insgesamt 21 Personen. Die überwiegende Zahl der Nachbarn waren sogenannte "Volksdeutsche". Im September 1939 wurde Sarnów von deutschen Truppen besetzt und die dortige jüdische Bevölkerung einschließlich des Klägers gezwungen, zur Kenntlichmachung Armbinden mit dem Davidstern zu tragen. Die jüdischen Familien in Sarnów verblieben (zunächst) in den von ihnen bisher bewohnten Häusern. Eine Kennzeichnung dieser Häuser erfolgte nicht. Allerdings waren die jüdischen Bewohner nach den Feststellungen des LSG in ihrer Bewegungsfreiheit auf ihre Wohnungen bzw Häuser beschränkt und durften diese nicht verlassen - außer für den Weg zur Arbeit oder für unerlässliche Besorgungen; ein Umzug war genehmigungspflichtig. In der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 putzte der Kläger Wohnungen, führte Reinigungsarbeiten auf dem Gelände des deutschen Militärs durch und wusch Militär-LKW. Hierfür erhielt er - nach eigenen Angaben - eine Extraportion Essen. Im März 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung von Mielec und der umliegenden Ortschaften - einschließlich Sarnów - erschossen, zur Vernichtung deportiert oder in Zwangsarbeitslager verbracht.

Den Antrag des Klägers beim beklagten RV-Träger auf Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten aus Beschäftigung in einem Ghetto, lehnte dieser ab. Die erforderliche Wartezeit von 60 Monaten sei nicht erfüllt. Für die während der deutschen Besetzung verrichteten Reinigungsarbeiten könnten keine Beitragszeiten nach §§ 1 Abs 1, 2 Abs 1 ZRBG anerkannt werden, da der Kläger sich in dieser Zeit nicht zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten habe.

Im Widerspruchs- und Klageverfahren blieb der Kläger ebenfalls erfolglos. Das SG hat unter Bezugnahme auf ein eingeholtes historisches Gutachten zur Situation in Sarnów und Mielec während des zweiten Weltkrieges den zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto verneint. Die für ein Ghetto typische Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung sei dort nicht erfolgt.

Auf die Berufung des Klägers hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung einer Regelaltersrente verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Zeit von Januar 1940 bis März 1942 sei als Beitragszeit für die Verrichtung einer freiwilligen entgeltlichen Beschäftigung während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto zu berücksichtigen (Ghetto-Beitragszeiten). Unter Anlehnung an die Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen (s zB Urteil vom 13.2.2008 - L 8 153/06) sei davon auszugehen, dass das Ghetto im historisch verstandenen Sinne gekennzeichnet sei durch Absonderung, Internierung und Konzentration. Letztere sei ua anzunehmen, wenn die jüdische Bevölkerung sich in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk habe aufhalten müssen. Dies sei zwar vorliegend nicht der Fall gewesen, denn die jüdische Bevölkerung in Sarnów sei in ihren angestammten Wohnhäusern verblieben. Gleichwohl sei von dem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto im Sinne des ZRBG auszugehen. Denn Zweck dieses Gesetzes sei es eine Beschäftigung, die nicht Zwangsarbeit gewesen, aber unter weitgehender Einschränkung der Freizügigkeit ausgeübt worden sei, rentenrechtlich zu berücksichtigen. Entscheidend sei das Maß der tatsächlichen faktischen Einschränkung der Freizügigkeit. Hieraus folge ein weites Verständnis des Begriffs der Konzentration. Er umfasse in kleinen ländlichen Gemeinden auch den Verbleib der jüdischen Bevölkerung in ihren Häusern, umgeben von nichtjüdischen Einwohnern, wenn die gesamte Lebensführung der Juden auf ihre Häuser beschränkt gewesen sei.

Mit seiner Revision rügt der RV-Träger einen Verstoß gegen § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG. Das LSG habe bei der Auslegung des Begriffs "Ghetto" die der Rechtsprechung gesetzten Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten. Ein Verzicht auf das Kriterium der Konzentration würde zu einer Uferlosigkeit des Begriffs des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto führen. Soweit nach der Rechtsprechung des BSG der Beschäftigungs- und Entgeltbegriff im ZRBG sehr viel weiter verstanden werde als im übrigen Sozialversicherungsrecht, seien Grundlage hierfür die besonderen Lebensverhältnisse in einem Ghetto als abgrenzbarer Bezirk gewesen, in dem die jüdische Bevölkerung isoliert und konzentriert gewesen sei.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Lübeck - S 48 R 173/12, 20.10.2016
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 7 R 175/16, 13.11.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 7/20.

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