Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 9/19 R

Verhandlungstermin 26.03.2020 09:30 Uhr

Terminvorschau

T. ./. Techniker Krankenkasse
Dem 1968 geborenen, bei der beklagten Krankenkasse (KK) wegen Beschäftigung pflichtversicherten Kläger wurde zum 30.11.2014 gekündigt. Der ihn behandelnde Vertragsarzt bescheinigte ihm wegen einer Bandscheibenschädigung Arbeitsunfähigkeit (AU) vom 15.10.2014 bis 5.1.2015. Ein vereinbarter Folgetermin bei dem Arzt am 5.1.2015 kam nicht zustande, weil der Kläger von der Arztpraxis am selben Tag telefonisch aufgefordert worden war, aus organisatorischen Gründen erst am nächsten Tag, dem 6.1.2015, zu erscheinen. An diesem Tag stellte sich der Kläger bei seinem Arzt vor, der ihm AU voraussichtlich bis 24.1.2015 bescheinigte. Nachdem die Beklagte dem Kläger Krankengeld (Krg) bis 5.1.2015 gezahlt hatte, lehnte sie die weitere Zahlung ab 6.1.2015 ab, weil für ihn nicht - wie für die Aufrechterhaltung seines Anspruchs erforderlich - spätestens am 5.1.2015 (= letzter Tag der von der vorangegangenen ärztlichen Bescheinigung erfassten AU) die weitere AU ärztlich bescheinigt worden sei. Seit 6.1.2015 sei der Kläger nur über seine Ehefrau ohne Anspruch auf Krg familienversichert.

Das SG hat die Klage auf Zahlung von Krg für die Zeit ab 6.1.2015 abgewiesen. Das LSG hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen: Zwar sei er auch ab 6.1.2015 arbeitsunfähig gewesen, was durch die ärztliche AU-Bescheinigung vom selben Tag bestätigt worden sei. Diese AU sei aber nicht vor Ablauf des 5.1.2015 festgestellt worden, weshalb der Krg-Anspruch am 5.1.2015 geendet habe. Der Kläger sei nach § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V nicht mehr mit Anspruch auf Krg ab 6.1.2015 versichert gewesen. Anderes ergebe sich auch nicht aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 11.5.2017 - B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8), weil der Kläger nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare getan habe, um rechtzeitig eine Folge-AU-Bescheinigung zu erlangen. Fehlberatungen einer vertragsärztlichen Praxis entlasteten Versicherte grundsätzlich nicht gegenüber der KK. Hiervon sei bei dem Kläger - mangels eines dafür nötigen persönlichen Arzt-Patient-Kontakts am 5.1.2015 - keine Ausnahme zu machen.

Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 44 Abs 1 und § 46 Satz 1 SGB V (in der bis 22.7.2015 geltenden Fassung). Da ein rechtzeitiger Arzttermin vereinbart gewesen sei, der durch nicht in seiner Person liegende Gründe unterblieben sei, dürfe ihm nicht abverlangt werden, sich doch noch am 5.1.2015 in der Praxis seines Arztes vorzustellen oder eine andere Arztpraxis aufzusuchen. In derartigen Fällen müsse eine Ausnahme von dem Grundsatz anerkannt werden, dass eine Folge-AU-Bescheinigung spätestens am letzten Tag der vorangegangenen AU-Feststellung zu erfolgen habe.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Berlin - S 143 KR 777/15, 16.03.2016
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 1 KR 196/16, 24.07.2018

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Terminbericht

Die Revisionen der Kläger waren in den Revisionsverfahren (B 3 KR 9/19 R und B 3 KR 10/19 R) im Sinne der Aufhebung der Entscheidung des LSG und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet. Die Kläger haben entgegen der Auffassung der Vorinstanzen Anspruch auf Zahlung von Krg dem Grunde nach ab dem Folgetag des vereinbarten rechtzeitigen, aber verschobenen Termins zur ärztlichen Feststellung der AU. Auf der Grundlage der jeweiligen Feststellungen des LSG kann der Senat jedoch nicht abschließend über die Dauer dieses Anspruchs gegen die beklagten KKn entscheiden.

Die Voraussetzungen des Anspruchs auf Krg für beschäftigte Pflichtversicherte der GKV nach § 44 und § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V (in der bis 22.7.2015 geltenden Fassung) iVm § 192 Abs 1 Nr 2 SGB V liegen vor. Von diesen Anspruchsvoraussetzungen war zwischen den Beteiligten allein im Streit, ob am jeweils ersten Tag nach dem Ende der zuletzt ärztlich festgestellten AU noch eine Versicherung mit Anspruch auf Krg fortbestand. Dies erforderte einen lückenlosen Krg-Bezug oder -Anspruch, der nach § 46 Satz 1 Nr 2 SGB V aF nach stRspr des BSG auch bei fortbestehenden Dauererkrankungen erst vom Folgetag der ärztlichen AU-Feststellung an entsteht. Zwar erfolgte in beiden Streitfällen keine erneute ärztliche AU-Feststellung - ohne Karenztag - spätestens am letzten Tag des zuvor bescheinigten AU-Zeitraums (im Fall 1 - B 3 KR 9/19 R - am 5.1.2015, im Fall 2 - B 3 KR 10/19 R - am 2.10.2013), weshalb es jeweils an einer lückenlosen für die weitere Krg-Gewährung nötigen AU-Feststellung fehlte und an sich keine Pflichtmitgliedschaft mit Krg-Anspruch fortbestand. Auch hat grundsätzlich der Versicherte im Sinne einer Obliegenheit dafür Sorge zu tragen, dass eine rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung erfolgt.

Die Rechtsprechung des BSG hat von diesen Grundsätzen allerdings enge Ausnahmen anerkannt. Diese Rechtsprechung entwickelt der Senat fort. Der Senat hatte bereits mit Urteil vom 11.5.2017 (B 3 KR 22/15 R - BSGE 123, 134 = SozR 4-2500 § 46 Nr 8) unter Fortentwicklung und Teilaufgabe früherer Rechtsprechung entschieden, dass eine Lücke in den ärztlichen AU-Feststellungen nicht nur bei medizinischen Fehlbeurteilungen, sondern auch bei nichtmedizinischen Fehlern eines Vertragsarztes im Zusammenhang mit der AU-Feststellung unschädlich ist, wenn sie der betroffenen KK zuzurechnen ist. Nach dieser Rechtsprechung steht dem Krg-Anspruch eine erst verspätet erfolgte ärztliche AU-Feststellung nicht entgegen, wenn der Versicherte

1. alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat, um seine Ansprüche zu wahren, indem er einen zur Diagnostik und Behandlung befugten Arzt persönlich aufgesucht und ihm seine Beschwerden geschildert hat, um
a. die ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erreichen,
und
b. dies rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen für den Krg-Anspruch erfolgt ist,

2. er an der Wahrung der Krg-Ansprüche durch eine (auch nichtmedizinische) Fehlentscheidung des Vertragsarztes gehindert wurde (zB eine irrtümlich nicht erstellte AU-Bescheinigung),
und

3. er - zusätzlich - seine Rechte bei der KK unverzüglich, spätestens innerhalb der zeitlichen Grenzen des § 49 Abs 1 Nr 5 SGB V, nach Erlangung der Kenntnis von dem Fehler geltend macht.

Der Versicherte ist dann so zu behandeln, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der AU erhalten.

Der Senat konkretisiert diese Rechtsprechung dahin, dass es einem "rechtzeitig" erfolgten Arzt-Patienten-Kontakt gleichsteht, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan hat und rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden bzw -erhaltenden zeitlichen Grenzen versucht hat, eine ärztliche Feststellung der AU als Voraussetzung des Anspruchs auf Krg zu erhalten, es dazu aber aus dem Arzt und der KK zurechenbaren Gründen erst verspätet gekommen ist. Das ist insbesondere in Fällen anzunehmen, in denen die Gründe für das nicht rechtzeitige Zustandekommen in der Sphäre des Vertragsarztes und nicht in derjenigen des Versicherten liegen. Dies ist typischerweise zu bejahen bei einer auf Wunsch des Arztes bzw seines Praxispersonals erfolgten Verschiebung des vereinbarten rechtzeitigen Termins in der (naheliegenden) Vorstellung, ein späterer Termin sei für den Versicherten unschädlich, weil nach den AU-RL des GBA auch die begrenzte rückwirkende ärztliche AU-Feststellung statthaft sei.

Für die Gleichstellung des aus den vorgenannten Gründen unterbliebenen rechtzeitigen Arzt-Patienten-Kontakts mit einem tatsächlich erfolgten Kontakt spricht Folgendes:

• Die Mitwirkungspflichten des Versicherten sind auf das in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare beschränkt; ein "Arzt-Hopping" statt des nachvollziehbaren Wunsches, von dem mit der AU schon vertrauten Arzt weiterbetreut zu werden, kann grundsätzlich nicht verlangt werden.
• Für Versicherte fallen ihr Schutzbedürfnis in der GKV zu ihrer finanziellen Absicherung im Krankheitsfall und die Verhältnismäßigkeit von Rechtsfolgen bei Fristversäumnissen ins Gewicht. Generalpräventive Erwägungen der Missbrauchsabwehr haben dagegen, vor allem in zweifelsfreien Folge-AU-Fällen, kein solches Gewicht, dass sie diese Schutzaspekte überlagern und verdrängen könnten.
• Schließlich ist der Rechtsgedanke des § 162 Abs 1 BGB heranzuziehen: Danach gilt eine Bedingung auch dann als eingetreten, wenn deren Eintritt von der Partei, zu deren Nachteil sie gereichen würde, wider Treu und Glauben verhindert wird. Darin liegt der allgemeine analogiefähige Rechtsgedanke, dass niemand aus einem von ihm treuwidrig herbeigeführten Ereignis Vorteile herleiten darf. In diesem Sinne dürfen sich auch KKn nicht darauf berufen, dass ein Arzt-Patienten-Kontakt nicht rechtzeitig zustande gekommen ist, wenn dies auf Gründen beruht, die

1. in der Sphäre des Vertragsarztes (und nicht des Versicherten) liegen, und die

2. auch den KKn zuzurechnen sind. Der Senat hat diese Zurechnung bereits im Urteil vom 11.5.2017 mit einer missverständlichen Fassung der AU-RL des GBA begründet. Diese erlauben den Vertragsärzten ausdrücklich eine zeitlich begrenzte Rückdatierung der AU, ohne dass die Ärzte in dem Regelwerk zugleich deutlich auf die damit verbundenen ganz erheblichen Nachteile für die Krg-Ansprüche der Versicherten hingewiesen werden. Entsprechende Fehlvorstellungen bei Vertragsärzten sind den KKn als maßgebliche Mitakteure im GBA und Anspruchsgegner der Krg-Ansprüche zuzurechnen.

Gemessen hieran hat der Kläger Anspruch auf Krg ab 6.1.2015. Nach den Feststellungen des LSG hatte er für den letzten Tag der zuletzt ärztlich festgestellten AU am 5.1.2015 einen rechtzeitigen Termin bei seinem ihn behandelnden Vertragsarzt vereinbart, der zur Erhaltung der Krg-Ansprüche ausreichend war. Dieser Termin kam nicht rechtzeitig zustande, weil der Kläger am 5.1.2015 von der Praxis seines Vertragsarztes telefonisch aufgefordert worden war, aus organisatorischen Gründen erst am Folgetag zu erscheinen. Diese praxisinternen Gründe sind dem Kläger nicht zuzurechnen. Er durfte darauf vertrauen, dass ihm die von dem sein Praxispersonal anleitenden Vertragsarzt veranlasste - leistungsrechtlich objektiv schädliche - Terminverschiebung gegenüber der Beklagten in Bezug auf seine Krg-Ansprüche nicht schadete. Vielmehr ist der Kläger so zu behandeln, als habe er seinen Arzt am 5.1.2015 aufgesucht und als habe dieser rechtzeitig die weitere AU festgestellt. Das durchgehende Fortbestehen der erst am 6.1.2015 ärztlich festgestellten AU des Klägers zieht auch die Beklagte nicht in Zweifel. Allerdings ist dem Senat über die Dauer des dem Kläger ab 6.1.2015 zustehenden Krg-Anspruchs eine abschließende Entscheidung verwehrt. Feststellungen zu Folge-AU-Bescheinigungen und den darin dokumentierten Endzeitpunkten hat das LSG - ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt konsequent - nicht getroffen. Es wird diese im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen haben, um über die Dauer und das Ende des Krg-Anspruchs ab 6.1.2015 entscheiden zu können.

Im Fall 2 (B 3 KR 10/19 R) hat die Klägerin - als Sonderrechtsnachfolgerin des Versicherten - einen Anspruch auf Krg ab 3.10.2013. Dass die dafür erforderliche AU-Folge-Bescheinigung nicht spätestens am 2.10.2013 ausgestellt wurde, sondern erst am 7.10.2013, beruhte darauf, dass der Vertragsarzt den Versicherten im Rahmen seines Termins am 2.10.2013 wegen hohen Patientenaufkommens aufgrund des Feiertags am 3.10.2013, einer Praxisschließung am 4.10.2013 und der ohnehin klaren, auch von der Beklagten nicht in Zweifel gezogenen AU-Diagnose erst zum 7.10.2013 (Montag) einbestellte. Der Versicherte hatte mit seinem Praxisbesuch zwecks Erlangung einer Folge-AU-Bescheinigung am 2.10.2013 alles ihm zur Aufrechterhaltung seines Krg-Anspruchs Mögliche und Zumutbare rechtzeitig getan. Dass es insoweit nicht schon am 2.10.2013 zur Ausstellung einer AU-Bescheinigung kam, ist nach den Umständen nicht dem Versicherten, sondern - aus den dargestellten allgemeinen Gründen - dem Vertragsarzt und der Beklagten zuzurechnen. Allerdings kann der Senat über die Dauer des dem Versicherten ab 3.10.2013 zustehenden Krg-Anspruchs nicht abschließend entscheiden, weil Feststellungen des LSG dazu fehlen - von seinem Rechtsstandpunkt aus konsequent -, ob die übrigen Anspruchsvoraussetzungen für eine Krg-Gewährung bis zum begehrten Zahlungsende am 20.10.2014 vorlagen. Das LSG wird diese im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen haben, um über die Dauer und das Ende des Krg-Anspruchs ab 3.10.2013 entscheiden zu können.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 9/20.

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