Verhandlung B 13 R 9/19 R
Verhandlungstermin
20.05.2020 13:00 Uhr
Terminvorschau
In den Revisionsverfahren B 13 R 9/19 R und B 13 R 3/19 R steht die Gewährung einer Rente unter Berücksichtigung von sogenannten "Ghetto-Beitragszeiten" nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) im Streit. Fraglich ist dabei insbesondere, ob ein einzelnes von Juden bewohntes Haus innerhalb eines Dorfes während der deutschen Besetzung Polens als ein Ghetto im Sinne des ZRBG angesehen werden kann.
H. B. ./. Deutsche Rentenversicherung Nord
Streitig ist die Gewährung einer Regelaltersrente.
Der 1929 geborene Kläger ist als Jude Opfer nationalsozialistischer Verfolgung im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG) geworden. 1939 lebte er mit seiner Mutter und seinen Geschwistern in dem polnischen Ort Sarnów nahe Mielec (Distrikt Krakau des sog Generalgouvernements). Zu diesem Zeitpunkt hatte der Ort Sarnów insgesamt circa 100 Einwohner, darunter drei jüdische Familien mit insgesamt 21 Personen. Die überwiegende Zahl der Nachbarn waren sog "Volksdeutsche". Im September 1939 wurde Sarnów von deutschen Truppen besetzt und die dortige jüdische Bevölkerung einschließlich des Klägers gezwungen, zur Kenntlichmachung Armbinden mit dem Davidstern zu tragen. Die jüdischen Familien in Sarnów verblieben (zunächst) in den von ihnen bisher bewohnten Häusern. Eine Kennzeichnung dieser Häuser erfolgte nicht. Allerdings waren die jüdischen Bewohner nach den Feststellungen des LSG in ihrer Bewegungsfreiheit auf ihre Wohnungen bzw Häuser beschränkt und durften diese nicht verlassen - außer für den Weg zur Arbeit oder für unerlässliche Besorgungen; ein Umzug war genehmigungspflichtig. In der Zeit von Januar 1940 bis März 1942 putzte der Kläger Wohnungen, führte Reinigungsarbeiten auf dem Gelände des deutschen Militärs durch und wusch Militär-LKW. Hierfür erhielt er - nach eigenen Angaben - eine Extraportion Essen. Im März 1942 wurde die gesamte jüdische Bevölkerung von Mielec und der umliegenden Ortschaften - einschließlich Sarnów - erschossen, zur Vernichtung deportiert oder in Zwangsarbeitslager verbracht.
Den Antrag des Klägers beim beklagten RV-Träger auf Gewährung einer Regelaltersrente unter Berücksichtigung von Beitragszeiten aus Beschäftigung in einem Ghetto, lehnte dieser ab. Die erforderliche Wartezeit von 60 Monaten sei nicht erfüllt. Für die während der deutschen Besetzung verrichteten Reinigungsarbeiten könnten keine Beitragszeiten nach §§ 1 Abs 1, 2 Abs 1 ZRBG anerkannt werden, da der Kläger sich in dieser Zeit nicht zwangsweise in einem Ghetto aufgehalten habe.
Im Widerspruchs- und Klageverfahren blieb der Kläger ebenfalls erfolglos. Das SG hat unter Bezugnahme auf ein eingeholtes historisches Gutachten zur Situation in Sarnów und Mielec während des zweiten Weltkrieges den zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto verneint. Die für ein Ghetto typische Konzentration und Internierung der jüdischen Bevölkerung sei dort nicht erfolgt.
Auf die Berufung des Klägers hat das LSG den Gerichtsbescheid des SG aufgehoben und die Beklagte zur Gewährung einer Regelaltersrente verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, die Zeit von Januar 1940 bis März 1942 sei als Beitragszeit für die Verrichtung einer freiwilligen entgeltlichen Beschäftigung während eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto zu berücksichtigen (Ghetto-Beitragszeiten). Unter Anlehnung an die Rechtsprechung des LSG Nordrhein-Westfalen (s zB Urteil vom 13.2.2008 - L 8 153/06) sei davon auszugehen, dass das Ghetto im historisch verstandenen Sinne gekennzeichnet sei durch Absonderung, Internierung und Konzentration. Letztere sei ua anzunehmen, wenn die jüdische Bevölkerung sich in einem bestimmten, abgegrenzten Wohnbezirk habe aufhalten müssen. Dies sei zwar vorliegend nicht der Fall gewesen, denn die jüdische Bevölkerung in Sarnów sei in ihren angestammten Wohnhäusern verblieben. Gleichwohl sei von dem zwangsweisen Aufenthalt in einem Ghetto im Sinne des ZRBG auszugehen. Denn Zweck dieses Gesetzes sei es eine Beschäftigung, die nicht Zwangsarbeit gewesen, aber unter weitgehender Einschränkung der Freizügigkeit ausgeübt worden sei, rentenrechtlich zu berücksichtigen. Entscheidend sei das Maß der tatsächlichen faktischen Einschränkung der Freizügigkeit. Hieraus folge ein weites Verständnis des Begriffs der Konzentration. Er umfasse in kleinen ländlichen Gemeinden auch den Verbleib der jüdischen Bevölkerung in ihren Häusern, umgeben von nichtjüdischen Einwohnern, wenn die gesamte Lebensführung der Juden auf ihre Häuser beschränkt gewesen sei.
Mit seiner Revision rügt der RV-Träger einen Verstoß gegen § 1 Abs 1 Satz 1 ZRBG. Das LSG habe bei der Auslegung des Begriffs "Ghetto" die der Rechtsprechung gesetzten Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten. Ein Verzicht auf das Kriterium der Konzentration würde zu einer Uferlosigkeit des Begriffs des zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto führen. Soweit nach der Rechtsprechung des BSG der Beschäftigungs- und Entgeltbegriff im ZRBG sehr viel weiter verstanden werde als im übrigen Sozialversicherungsrecht, seien Grundlage hierfür die besonderen Lebensverhältnisse in einem Ghetto als abgrenzbarer Bezirk gewesen, in dem die jüdische Bevölkerung isoliert und konzentriert gewesen sei.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Lübeck - S 48 R 173/12, 20.10.2016
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 7 R 175/16, 13.11.2018
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Terminbericht
Die Beklagte ist mit ihrer Revision unterlegen. Das LSG hat den Anspruch des Klägers auf eine Regelaltersrente nach §§ 35, 235 SGB VI iVm dem DASVA ab dem 1.7.1997 im Ergebnis zu Recht bejaht. Insbesondere hat der Kläger die Wartezeit unter Berücksichtigung von "Ghetto-Beitragszeiten" iS des ZRBG von Januar 1940 bis März 1942 erfüllt.
Nach § 1 Abs 1 S 1 ZRBG gilt dieses Gesetz für Zeiten der Beschäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sich dort zwangsweise aufgehalten haben, wenn 1. die Beschäftigung a) aus eigenem Willensentschluss zustande gekommen ist, b) gegen Entgelt ausgeübt wurde und 2. das Ghetto in einem Gebiet des nationalsozialistischen Einflussbereichs lag. Der Kläger hat nach den für den Senat bindenden Feststellungen des LSG im vorbenannten Zeitraum aus eigenem Willensentschluss Reinigungsarbeiten gegen Entgelt iS des ZRBG - hier Extraportionen Essen - im sogenannten Generalgouvernement durchgeführt. Die Bedingungen, unter denen dies erfolgte, sind denen eines zwangsweisen Aufenthalts in einem Ghetto zumindest im Wege der Analogie gleichzustellen. Das Erfordernis der Gleichstellung folgt aus den neueren historischen Erkenntnissen über die Erscheinungsformen von "Ghettos" im nationalsozialistischen Einflussbereich, die der Gesetzgeber bei der Schaffung des ZRBG noch nicht umfassend in den Blick nehmen konnte. Nur durch ihre Berücksichtigung kann jedoch der gewollte entschädigungsrechtliche Ausgleich innerhalb des Rentenversicherungsrechts hinreichend verwirklicht werden, so dass von einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes auszugehen ist.
Was unter einem Ghetto zu verstehen ist, ist weder im ZRBG noch in weiteren in diesem Kontext zu betrachtenden Normen definiert. Es findet sich auch kein ausreichend verfestigter und konkretisierter juristischer Sprachgebrauch. Gleiches gilt für das allgemeine Begriffsverständnis. Selbst die für die beiden größten Holocaustforschungsstätten - Yad Vashem und US Holocaust Memorial Museum – tätigen Historiker verwenden keine einheitliche Definition des Begriffs.
Die Normhistorie des ZRBG legt nahe, dass den Abgeordneten im Wesentlichen das "geschlossene Ghetto" vor Augen stand. Denn der Gesetzesbeschluss 2002 war eine unmittelbare Reaktion auf die Rechtsprechung des BSG zu "Ghetto-Beitragszeiten", insbesondere im "geschlossenen" "Ghetto Lodz". Eine Festlegung auf einen bestimmten Ghetto-Begriff, der einem weiten Verständnis hiervon und der Annahme einer planwidrigen Lücke entgegenstehen könnte, war hiermit aber ebenso wenig verbunden, wie mit der Änderung des ZRBG 2014. Allerdings gelangten Geschichtswissenschaftler in den Jahren nach der Verabschiedung des ZRBG zu der Erkenntnis, dass Ghettos im nationalsozialistischen Einflussbereich unterschiedlichste Ausprägungen und Erscheinungsformen hatten. Bei den meisten der bekannten über 1400 "Ghettos" handelte es sich um sogenannte "offene Ghettos", zum Teil ohne klar abgrenzbare Strukturen. Vor dem Hintergrund der mit dem ZRBG bewirkten entschädigungsrechtlichen Überlagerung des Rentenversicherungsrechts kann allein mit einem weiten Begriffsverständnis den historisch belegten unterschiedlichen Erscheinungsformen von Ghettos - wie sie auch in der Praxis der RV-Träger berücksichtigt werden - hinreichend Rechnung getragen werden. Die entschädigungsrechtliche Überlagerung verlangt zudem vergleichbare Zwangslagen ebenfalls zu erfassen. Nur so kann es mit dem ZRBG gelingen, das verursachte Unrecht durch die Begründung und Zahlbarmachung von Rentenansprüchen in der gesetzlichen Rentenversicherung zu entschädigen.
Dieses Unrecht besteht darin, dass keine Rentenanwartschaften entstanden, obwohl die verrichteten "Ghetto-Arbeiten" unter anderen Umständen im Rahmen von rentenversicherungspflichtigen Beschäftigungen geleistet worden wären und dann in aller Regel Rentenanwartschaften begründet hätten. Das ZRBG als "neuartiger Bestandteil des Rechts der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts" will einen Ausgleich hierfür schaffen und ist damit trotz seiner Verankerung im Rentenrecht materiell-rechtlich als eine dieses überformende Entschädigungsregelung zu betrachten. Deshalb sind bei dessen Anwendung die in der Rechtsprechung des BSG für das Entschädigungsrecht entwickelten Auslegungsgrundsätze zu beachten. Es darf eine eben noch mögliche Lösung gewählt werden - und ihr gebührt der Vorzug , die dazu führt, das verursachte Unrecht soweit wie möglich auszugleichen.
Dies erlaubt die nach dem Gesetzeszweck gebotene Gleichstellung von Zwangslagen, die sich an den Besonderheiten der vom ZRBG in den Blick genommenen Situationen ausrichtet. Diese sind dadurch geprägt, dass die Verfolgten im Prozess zunehmend verstärkter Terrormaßnahmen in ihrem räumlichen Lebensbereich einem Aufenthaltszwang unterlagen, der es gleichwohl zuließ, eine von ihnen ausgeübte Tätigkeit noch als freiwillige Beschäftigung zu qualifizieren. Nach den Feststellungen des LSG unterlag der Kläger einem derart intensiven Aufenthaltszwang.
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