Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 5/19 R

Verhandlungstermin 23.06.2020 11:00 Uhr

Terminvorschau

P. N.-G. ./. Verwaltungs-Berufsgenossenschaft
Die Klägerin macht als Sonderrechtsnachfolgerin Ansprüche ihres an den Folgen einer Berufskrankheit verstorbenen Ehemanns (Versicherter) geltend. Sie lebte bis zu dessen Tod 2016 mit ihm und den drei Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Der Versicherte übte den Beruf des Architekten aus, bei dem er mit Asbest in Kontakt kam. Im September 2013 wurde bei dem Versicherten ein Tumor im Bereich der Hoden festgestellt. Der Arzt Prof. B. übersandte 2013 die histologischen Präparate unter Hinweis auf eine mögliche Asbeststoff-Exposition an das Deutsche Mesotheliomregister bei der Ruhr-Universität Bochum. Dort wurde bestätigt, dass es sich um die seltene Manifestation eines malignen Mesothelioms handele und empfohlen, dass Prof. B. sich um die Meldung einer Berufskrankheit nach Nr 4105 der Anlage 1 zur Berufskrankheitenverordnung (durch Asbest verursachtes Mesotheliom des Rippenfells, des Bauchfells oder des Perikards) kümmere. Erst nach dem Tod des Versicherten im Jahre 2016 zeigte ein behandelnder Arzt der Beklagten den Verdacht einer Berufskrankheit an und teilte ergänzend mit, dieser habe zu Lebzeiten aus persönlichen Gründen gebeten, seine Erkrankung der Berufsgenossenschaft nicht zu melden. Die Beklagte gewährte der Klägerin und ihren Kindern Hinterbliebenenleistungen, lehnte jedoch die Zahlung von Lebzeitenleistungen (Verletztengeld und -rente sowie Pflegegeld) an die Klägerin als Sonderrechtsnachfolgerin ab.

Im SG-Verfahren wurde der behandelnde Arzt befragt, der mitteilte, der Versicherte habe wiederholt trotz bestehenden Verdachts des Vorliegens einer Berufskrankheit eine entsprechende Anzeige durch ihn oder einen anderen Arzt abgelehnt. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg. Das LSG hat ausgeführt, die Klägerin habe keine Ansprüche auf Gewährung von Verletztenrente, Verletztengeld und Pflegegeld im Wege der Sonderrechtsnachfolge, weil die Ansprüche des Versicherten mit dessen Tod erloschen seien. Zum Zeitpunkt des Todes des Versicherten sei iSd § 59 S 2 SGB I weder eine Entscheidung über die Gewährung der Geldleistungen getroffen worden, noch sei ein Verwaltungsverfahren über diese Ansprüche anhängig gewesen. Ein solches Verwaltungsverfahren könne auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs fingiert werden. Die Verletzung der ärztlichen Anzeigepflicht durch die behandelnden Ärzte nach § 202 Satz 1 SGB VII könne der Beklagten nicht zugerechnet werden, weil diese Ärzte nicht im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren "arbeitsteilig" eingeschaltet gewesen seien. Zudem habe der Versicherte selbst durch die strikte Ablehnung der Verdachtsmeldung den Kausalzusammenhang zwischen der Pflichtverletzung der Ärzte durch die versäumte Einleitung eines BK-Verwaltungsverfahrens und dem eingetreten Nachteil unterbrochen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 59 SGB I sowie der Grundsätze des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs. Bereits mit der Kenntnis des Vorgangs durch das Mesotheliom-Register als berufsgenossenschaftlicher Einrichtung sei ein Verwaltungsverfahren über die Ansprüche der Hinterbliebenen anhängig geworden.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Stuttgart - S 12 U 348/17, 28.03.2018
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 6 U 1806/18, 21.03.2019

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 23/20.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin hatte keinen Erfolg. Zu Recht hat das LSG die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die Klägerin hat als Sonderrechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemanns (Versicherter) keinen Anspruch auf die Gewährung von Verletztenrente, Verletztengeld und Pflegegeld. Nach § 59 Satz 1 SGB I erlöschen Ansprüche auf Dienst- und Sachleistungen mit dem Tode des Berechtigten. Ansprüche auf Geldleistungen erlöschen nach § 59 Satz 2 SGB I nur, wenn sie im Zeitpunkt des Todes weder festgestellt sind noch ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig ist. Der geltend gemachte Anspruch auf Pflegegeld als Ermessensleistung ist bereits nicht entstanden, weil es an der Bekanntgabe einer positiven Entscheidung über diese Leistung fehlt (§ 40 Abs 2 SGB I). Die Ansprüche auf Verletztengeld und Verletztenrente sind zwar zu Lebzeiten des Versicherten entstanden (§ 40 Abs 1 SGB I), doch sind sie gemäß § 59 Satz 2 SGB I mit seinem Tod erloschen. Denn diese Ansprüche waren im Zeitpunkt des Todes des Versicherten im Jahre 2016 weder festgestellt noch war ein Verwaltungsverfahren über sie anhängig. Die Beklagte hat erst nach dem Tod des Versicherten ein Verwaltungsverfahren iS des § 8 SGB VII eingeleitet. Die noch zu Lebzeiten des Ehemanns erfolgte Untersuchung und Charakterisierung der von seinem Tumor gefertigten histologischen Präparate durch das Deutsche Mesotheliomregister kann jedenfalls nicht als Verwaltungsverfahren iS des § 8 SGB X angesehen werden. § 59 Satz 2 SGB I kann auch nicht entsprechend (analog) auf den Fall angewandt werden, dass das Fehlen eines anhängigen Verwaltungsverfahrens auf pflichtwidriges Verwaltungshandeln zurückzuführen ist. Hierfür fehlt es an einer planwidrigen Regelungslücke in § 59 Satz 2 SGB I. Die Klägerin ist auch nicht im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs so zu stellen, als ob ein Verwaltungsverfahren über die Ansprüche des Versicherten im Zeitpunkt seines Todes anhängig gewesen wäre. Hierfür wäre zunächst erforderlich, dass die Beklagte oder Personen, deren Fehlverhalten der Beklagten zurechenbar ist, ein Verwaltungsverfahren über die BK zu Lebzeiten des Versicherten fehlerhaft verhindert hätten. Gemäß § 202 SGB VII haben Ärzte dem Unfallversicherungsträger den begründeten Verdacht einer BK anzuzeigen. Die mit dem sog Mesotheliomregister befassten Ärzte trifft grundsätzlich diese Verpflichtung aus § 202 SGB VII. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des LSG konnte aber bereits nicht entschieden werden, auf welche Weise das Mesotheliomregister Kenntnis von den Präparaten des Versicherten erhielt. Es wäre dann zu überprüfen, ob das Register auch ohne Kenntnis und ggf gegen den Willen des Versicherten eine objektive Pflicht trifft, jedes Mesotheliom, das ihm (irgendwie) bekannt wird, zu melden. Ebenso wäre zu entscheiden, ob das Mesotheliomregister hier noch abwarten durfte, weil, wovon das LSG ausging, zum Zeitpunkt der Beurteilung des Präparats noch keine Kenntnisse über einen Asbestkontakt des Versicherten vorlagen. Auch ist nicht festgestellt, ob das Mesotheliomregister zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Tod des Versicherten sichere Kenntnis vom Asbestkontakt hatte, was ggf dann zu diesem Zeitpunkt eine Anzeigepflicht gemäß § 202 SGB VII ausgelöst hätte. Es kann hier aber dahinstehen, ob die beschäftigten Ärzte des Mesotheliomregisters objektiv ihre Pflichten verletzt haben, wofür im vorliegenden Fall viel spricht. Ebenso kann dahinstehen, ob alle weiteren beteiligten Ärzte Pflichtverletzungen begangen haben. Denn die Pflichtverletzungen aller beteiligten Ärzte waren nicht kausal für das fehlende anhängige Verwaltungsverfahren. Bei wertender Betrachtungsweise fehlt es an der für die Bejahung eines Herstellungsanspruchs erforderlichen Kausalität der Pflichtverletzung für den Nachteil, weil der Versicherte durch sein eigenes, wiederholtes Verhalten seine behandelnden Ärzte zu der unterlassenen Meldung veranlasst hat. Der Versicherte hat damit durch wiederholte Ablehnung einer Verdachtsanzeige bzw das Abstreiten jeden Asbestkontakts selbst die entscheidende Ursache für die Verletzung der ärztlichen Anzeigepflicht gesetzt. Es bedurfte damit vorliegend auch keiner Entscheidung, ob die (hier privat) behandelnden Ärzte überhaupt im Sinne einer Funktionseinheit in das Verwaltungsverfahren der Beklagten arbeitsteilig eingebunden sind. Letzteres dürfte allerdings beim Mesotheliomregister zu bejahen sein, sodass dessen Fehler dem Träger der Unfallversicherung grundsätzlich zuzurechnen sind.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 23/20.

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