Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 10/18 R

Verhandlungstermin 23.06.2020 13:45 Uhr

Terminvorschau

h. GmbH ./. Verwaltungs-Berufsgenossenschaft
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte für das Beitragsjahr 2012 einen Beitragszuschlag in Höhe von 43 352,76 Euro erheben darf. Die Klägerin ist in der Arbeitnehmerüberlassung und Personalvermittlung tätig. Die Beklagte veranlagte sie ab dem Jahr 2011 zu den Gefahrtarifstellen 15.1 - Zeitarbeit - Beschäftigte im Dienstleistungsbereich und Stammpersonal - Gefahrklasse 0,77 - und 15.2 - Zeitarbeit - Beschäftigte in allen anderen Bereichen - Gefahrklasse 7,97 und setzte für das Jahr 2012 einen Beitrag in Höhe von insgesamt 986 318,89 Euro fest. Im Jahre 2012 erlitten die Beschäftigten der Klägerin S.F. und A.E. Arbeitsunfälle. Aufgrund des Arbeitsunfalles des S.F. am 8.2.2012 gewährte die Beklagte ihm im Jahr 2012 eine Verletztenrente mit Aufwendungen im Jahre 2012 in Höhe von 1646,13 Euro. Zudem wendete sie für S.F. im Jahre 2012 für Heilbehandlungen und sonstige Kosten insgesamt 22 908,71 Euro auf. Für den Beschäftigten A.E., der am 17.7.2012 einen Arbeitsunfall erlitten hatte, entstanden der Beklagten im Jahre 2012 Kosten für Heilbehandlungen und sonstige Kosten in Höhe von insgesamt 18 328,79 Euro.

Nach Anhörung erhob die Beklagte für das Jahr 2012 einen Beitragszuschlag in Höhe von 43 352,76 EUR. Dabei legte sie einen anrechenbaren Betrag von 867 055,26 Euro, insgesamt 52 Unfallbelastungspunkte, nämlich 51 Punkte für den Unfall des S.F. und einen Punkt für den Unfall des A.E., eine Einzelbelastung von 0,5997, eine Durchschnittsbelastung von 0,4707 und aufgrund der Abweichung der Belastung um 27,41 % einen Zuschlag von 5 % des anrechenbaren Beitrags als Beitragszuschlag zugrunde. Klage und Berufung sind erfolglos geblieben. Das LSG hat ausgeführt, die Beklagte habe zu Recht einen Beitragszuschlag in Höhe von 43 352,76 Euro gemäß ihrer Satzung erhoben. Für die neu bekannt gewordenen Unfälle der Versicherten S.F. und A.E. seien je ein und für die neu festgestellte Rente des Versicherten S.F. 50 Belastungspunkte zu berücksichtigen. Für einen Unfall könnten mehrfach Punkte vergeben werden. Für die Bewertung neu festgestellter Unfallrenten komme es auf die Gesamtkosten des Unfalles und nicht nur auf die Höhe der Rentenzahlungen an. § 29 der Satzung in der Fassung des 2. Nachtrags sei rechtmäßig. und durch § 162 SGB VII gedeckt, da sie zutreffend Zahl und Schwere der Arbeitsunfälle berücksichtige. Die Regelung verstoße auch nicht gegen höherrangiges Recht.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin einen Verstoß der Satzung gegen § 162 SGB VII, gegen Art 3 GG und gegen das Übermaßverbot. Die Satzungsregelungen würden hinsichtlich der Belastung mit 0 oder 50 Punkten zu zufälligen, immanent widersprüchlichen und gleichheitswidrigen Ergebnissen führen, weil die Differenzierung zwischen den Fällen, die mit einem Punkt bewertet würden, und jenen Fällen, die mit 50 Punkten bewertet würden, nicht nachvollziehbar sei.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Landshut - S 15 U 92/14, 07.04.2015
Bayerisches Landessozialgericht - L 2 U 200/15, 28.02.2018

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Terminbericht

Die Revision der Klägerin ist nicht begründet. Zu Recht hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen. Die angegriffenen Verwaltungsakte über die Auferlegung eines Beitragszuschlags und das entsprechende Zahlungsgebot für das Beitragsjahr 2012 sind rechtmäßig und verletzten die Klägerin nicht in ihren Rechten. Die Klägerin ist zuschlagspflichtig gemäß § 162 SGB VII iVm maßgebenden Satzungsregelungen der Beklagten. Ihre Einzelbelastung weicht wesentlich, dh um mehr als 25 vH, von der Durchschnittsbelastung aller Unternehmen ihrer Tarifstelle ab.

Auf den vorliegenden Fall findet § 29 Abs 3 Nr 3 Satz 2 Spiegelstrich 2 der Satzung in der Fassung des 2. Nachtrages vom 4.7.2013 Anwendung. Durch die Neuregelung wurde die bisherige Norm um den Zusatz "Sach - und Geldleistungen" ergänzt, wodurch die Beklagte die bisherige Rechtslage ihrer Ansicht nach lediglich klargestellt hat. Aus der Sicht der betroffenen Unternehmer handelte es sich jedoch um eine Verschlechterung der Rechtslage, weil nunmehr unzweideutig auch die sonstigen Kosten aus einer Heilbehandlung etc zum Zahlbetrag einer Verletztenrente addiert werden dürfen. Selbst wenn der 2. Nachtrag eine über eine Klarstellung der bisher bereits geltenden Rechtslage hinausgehende Verschlechterung zu Lasten der Klägerin enthalte sollte, handelte es sich dabei aber allenfalls um eine tatbestandliche Rückanknüpfung (= unechte (retrospektive) Rückwirkung), durch die lediglich ändernd auf gegenwärtige, noch nicht abgeschlossene Sachverhalte und Rechtsbeziehungen für die Zukunft eingewirkt wurde. Eine solche unechte Rückwirkung ist grundsätzlich zulässig, es sei denn, dass der dadurch erfolgende Eingriff in Grundrechte unter Berücksichtigung des Vertrauensschutzes nicht gerechtfertigt werden kann. Ein derartiger Vertrauenstatbestand ist vorliegend für die Klägerin nicht ersichtlich. Sie konnte vor der Satzungsänderung kein Vertrauen dahingehend bilden, dass Arbeitsunfälle, für die 2012 eine Verletztenrente bewilligt wurde, nur dann zu einem Zuschlag führen, wenn alleine der im Jahr 2012 bewilligte Gesamtbetrag der Rentenzahlungen 10 000 Euro in diesem Jahr überschreitet. Für ein solches Vertrauen waren die Formulierungen in § 29 der noch 2012 geltenden Fassung der Satzung zu unbestimmt, zumal das nach dem 2. Nachtrag nunmehr eindeutig der Norm entnehmbare Ergebnis auch schon aus der Altfassung hätte begründet werden können.

Die Beklagte hat die Zuschläge auch zutreffend berechnet. Es sind 52 Belastungspunkte zu berücksichtigen. Für die in dem Jahr 2012 erlittenen und bekannt gewordenen Arbeitsunfälle der Beschäftigten S.F. und A.E. waren je ein Belastungspunkt anzurechnen. Aufgrund der im Beitragsjahr dem Beschäftigten S.F bewilligten Verletztenrente und der weiteren Geld- sowie Sachkosten in Höhe von 22 908,71 waren zusätzlich 50 Belastungspunkte zugrunde zu legen. Dies führt zu einer Einzelbelastungsziffer der Klägerin von 0,5997. Diese Einzelbelastung überschreitet die von der Beklagten zutreffend mit 0,4707 errechnete Durchschnittsbelastungsziffer um 27,41 %, sodass eine wesentliche Abweichung iS des § 29 Abs 2 Nr 2 Satz 2 vorliegt. Da die Einzelbelastung um mehr als 25 % bis 100 % von der Durchschnittsbelastung der Gefahrtarifstelle 15 abweicht, war ein Zuschlag in Höhe von 5 % des anrechenbaren Beitrags von 867.055,26 Euro des Beitragsbescheids für 2012 und damit in Höhe von 43.352,76 Euro zu erheben.

Die Satzungsbestimmungen der Beklagten zur Zuschlagsberechnung sind auch mit höherrangigem Recht, insbesondere mit § 162 SGB VII, vereinbar. Den Unfallversicherungsträgern als Satzungsgebern ist bei der Beitragsgestaltung ein weiter Entscheidungs- und Gestaltungsspielraum eingeräumt, soweit sie innerhalb der ihnen erteilten gesetzlichen Ermächtigung autonomes Recht setzen. Es ist nicht ersichtlich, dass die hier angewandten Satzungsbestimmungen diesen Anforderungen nicht genügen. Insbesondere liegt kein Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG vor. Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG verwehrt dem Satzungsgeber nicht jede Differenzierung. Eine Berechnung des Zuschlags anhand einer periodenbezogenen Berücksichtigung von Aufwendungen innerhalb eines eng begrenzten Beobachtungszeitraumes als rein technische Regelung, die nicht an personengebundenen Merkmalen anknüpft, entspricht vielmehr den Grundsätzen, die § 162 Abs 1 Satz 4 SGB VII vorgibt, wonach maßgebend neben der Zahl und Schwere der Unfälle die Aufwendungen sein sollen. Dementsprechend bedurfte es keiner Differenzierung der Rentenfälle in solche mit lebenslangem und kurzzeitigem Bezug. Vielmehr entspricht das Abstellen auf die Gesamtkosten im Beitragsjahr, wenn in diesem Jahr der Arbeitsunfall bekannt oder eine Rente bewilligt wurde, Sinn und Zweck des Beitragszuschlags. Dieser soll positive Anreize zu einer verbesserten Unfallverhütung durch die Unternehmer bewirken. Ein solcher Effekt kann nur eintreten, wenn sich verstärkte Präventionsanstrengungen auch in absehbarer Zeit für den Unternehmer wirtschaftlich auswirken. Zwar hat der Senat entschieden (vgl Terminbericht zu Nr. 4), dass Rentennachzahlungen für weit zurückliegende Jahre keine "Aufwendungen" iS des § 162 Abs 1 Satz 4 SGB VII sind, nach denen sich ua die Höhe der Zuschläge nach näherer Maßgabe der Satzung (§ 162 Abs 1 Satz 3 Halbsatz 1 SGB VII) richten darf. Insofern darf der Satzungsgeber nicht ohne Verstoß gegen Art 3 Abs 1 GG durch § 29 Abs 3 Nr 3 Satz 4 der Satzung sowohl das Bekanntwerden eines Arbeitsunfalles als auch die Rentenbewilligung für diesen ohne jede zeitliche Begrenzung kumulativ für die Erhebung des Beitragszuschlags berücksichtigen. Dies spielt hier jedoch ohnehin keine Rolle, weil die Unfälle sich jeweils in 2012 ereigneten. Es ist auch nicht zu beanstanden, dass die Beklagte Unternehmen der Arbeitnehmerüberlassung mit Beitragszuschlägen belastet. Der Satzungsgeber durfte hier noch zulässigerweise unterstellen, dass der Präventionsgedanke beim Verleiher, dem Arbeitgeber des Verletzten, Wirkung entfalten kann. Die Klägerin gehört den Gefahrtarif(teil)stellen 15.1 (Zeitarbeit - Beschäftigte im Dienstleistungsbereich und Stammpersonal) bzw 15.2 (Zeitarbeit - Beschäftigte in allen anderen Bereichen) an, sodass eine getrennte Berechnung auf der Basis der Werte je einer Teilstelle nicht gefordert werden kann. Schließlich dienen das Belastungspunktesystem und die Mindestkostengrenze von 10 000 Euro der Beurteilung der Unfallschwere, weil erhebliche Verletzungen regelmäßig höhere Kosten verursachen und somit ein tauglicher Indikator für die Schwere des Unfalls sind. Die angefallenen Kosten als Indikator der Unfallschwere werden aber umso weniger aussagekräftig, je mehr sich periodenfremde Aufwendungen über längere Zeiträume aufsummieren.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 23/20.

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