Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 13/18 R

Verhandlungstermin 23.06.2020 13:00 Uhr

Terminvorschau

In den Verfahren B 2 U 13/18 R, B 2 U 10/18 R und B 2 U 4/18 R ist jeweils streitig, ob die Beklagte bei den betroffenen Unternehmen einen Beitragszuschlag erheben durfte. Gemäß § 150 SGB VII sind die Unternehmer beitragspflichtig in der Gesetzlichen Unfallversicherung. Zusätzlich zu den nach § 168 SGB VII zu erteilenden Beitragsbescheiden, die nachträglich für jeweils ein Kalenderjahr ergehen, haben die gewerblichen Berufsgenossenschaften gemäß § 162 Abs 1 SGB VII unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Versicherungsfälle Zuschläge aufzuerlegen oder Nachlässe zu bewilligen. Die Höhe der Zuschläge und Nachlässe richtet sich nach der Zahl, der Schwere oder den Aufwendungen für die Versicherungsfälle oder nach mehreren dieser Merkmale (§ 162 Abs 1 Satz 4 SGB VII). Die beklagte Verwaltungs-BG hat in ihrer jeweils einschlägigen Satzung nähere Einzelheiten zur Berechnung und Festsetzung der Beitragszuschläge geregelt. Für die Beitragsjahre ab 2010 wendete die Beklagte ihre im Jahr 2008 beschlossene Satzung und für das Beitragsjahr 2012 ihre am 14.12.2011 beschlossene Satzung an. Die Höhe des Beitragszuschlags hängt danach ua von sogenannten Belastungspunkten ab. Nach § 28 Abs 3 Nr 3 der Satzung wurde jedes Unternehmen für jeden im Beitragsjahr bekannt gewordenen Arbeitsunfall mit Kosten bis 10 000 Euro mit 0 Punkten und mit Kosten über 10 000 Euro: mit 50 Punkten sowie für jede im Beitragsjahr festgestellte neue Arbeitsunfallrente mit Kosten bis 10 000 Euro mit 0 Punkten und mit Kosten über 10 000 Euro mit 50 Punkten belastet. Gemäß § 29 der ab dem 1.1.2012 geltenden Satzung wurden die Belastungspunkte wie folgt bestimmt: Jedes Unternehmen wurde für jeden im Beitragsjahr bekannt gewordenen Arbeitsunfall mit Kosten bis 10 000 Euro mit 0 Punkten und mit Kosten über 10 000 Euro mit einem Punkt sowie für jede im Beitragsjahr festgestellte neue Arbeitsunfallrente mit Kosten bis 10 000 Euro mit 0 Punkten, mit Kosten über 10 000 Euro dagegen mit 50 Punkten belastet; für einen Unfall konnten mehrere Punktwerte anfallen. In einem am 4.7.2013 beschlossenen, zum 1.1.2013 in Kraft getretenen 2. Nachtrag zur Satzung wurde der Begriff der Kosten um den Zusatz "Sach- und Geldleistungen" ergänzt. Die Klägerinnen in den Revisionen zu B 2 U 13/18 R, B 2 U 10/18 R und B 2 U 4/18 R halten ua diese Satzungsbestimmungen für nicht mehr ermächtigungskonform bzw verfassungswidrig.

S. T. ./. Verwaltungs-Berufsgenossenschaft
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte für das Beitragsjahr 2010 einen Beitragszuschlag iHv 18 312,40 Euro erheben darf. Die Klägerin betreibt einen Profi-Eishockey-Club, der in der Deutschen Eishockeyliga spielt. Sie beschäftigte den Spieler K., der sich am 2.1.2007 während eines Eishockeyspiels verletzte. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 28.5.2010 "Rente für zurückliegende Zeit" ab dem 15.8.2007 bis zum 31.12.2009 und zahlte die für die vergangene Zeit aufgelaufenen Monatsbeträge im Kalenderjahr 2010 in einer Summe (17 264,42 Euro) aus. Die Beklagte veranlagte die Klägerin ab 2010 zu der Gefahrtarifstelle 32 "Sportunternehmen" ihres Gefahrtarifs und setzte für das Beitragsjahr 2010 die Umlage auf 366 684,45 Euro fest. Nach Anhörung legte sie sodann der Klägerin für 2010 einen Beitragszuschlag iHv 36 624,81 Euro auf, bei dem sie zunächst vier Spieler berücksichtigte. Später reduzierte sie die Forderung auf 18 312,40 Euro. Neben dem Unfall des Spielers K. berücksichtigt sie noch den Spieler S., der am 12.1.2010 einen Arbeitsunfall mit im Jahre 2010 angefallenen Kosten in Höhe von 10 816,89 Euro erlitt. Klage und Berufung sind insoweit erfolglos geblieben. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Beitragszuschlag sei satzungskonform festgesetzt und erhoben worden. Der Unfall des Spielers K. sei nicht auf ein alleiniges Fremdverschulden zurückzuführen. Die Entscheidung für ein reines Beitragszuschlagsverfahren und dessen Ausgestaltung in der Satzung sei von der Ermächtigungsnorm gedeckt. Das Abstellen auf eine Kombination der Zahl und Schwere der Unfälle als Berechnungsgrundlagen für die Höhe der Zuschläge sei ebenso wenig zu beanstanden wie das Belastungspunktesystem zur Beurteilung der Unfallschwere und die Einführung einer Mindestkostengrenze iHv 10 000 Euro. Gleiches gelte für die Abhängigkeit des Zuschlags von der Einzelbelastung des jeweiligen Unternehmens im Verhältnis zur Durchschnittsbelastung aller Unternehmen derselben Gefahrtarifstelle und für die nach Prozentsätzen abgestufte Höhe des Beitragszuschlags, die auf 10% des Beitrags gedeckelt sei. Grundrechtsverstöße seien nicht erkennbar.

Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung des § 103 SGG, und der § 28 der Satzung, § 162 SGB VII, Art 3 Abs 1 GG, § 35 Abs 1 S 1 SGB X. § 28 der Satzung sei keine taugliche Basis für den Beitragszuschlagsbescheid, weil die Vorschrift weder mit der Ermächtigungsgrundlage (§ 162 SGB VII) noch mit Grundrechten vereinbar sei.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Landshut - S 9 U 339/11, 11.12.2014
Bayerisches Landessozialgericht - L 3 U 29/15, 23.01.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 23/20.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin hatte Erfolg. Zu Unrecht hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das klagabweisende Urteil des SG zurückgewiesen und das SG die Klage abgewiesen. Die angegriffenen Verwaltungsakte über die Auferlegung eines Beitragszuschlags und das entsprechende Zahlungsgebot für das Beitragsjahr 2010 sind rechtswidrig und verletzten die Klägerin in ihren Rechten. Die Klägerin ist nicht zuschlagspflichtig gemäß § 162 SGB VII iVm maßgebenden Satzungsregelungen der Beklagten. Ihre Einzelbelastung weicht nicht wesentlich, dh um mehr als 25 vH, von der Durchschnittsbelastung aller Unternehmen ihrer Tarifstelle ab.

Die Arbeitsunfallrente des Spielers K., die erst im Jahr 2010 - dem Beitragsjahr - rückwirkend für die Jahre 2007 bis 2009 festgestellt und 2010 in einer Summe ausgezahlt worden ist, rechtfertigt nicht die Auferlegung von 50 Belastungspunkten, sodass die Eigenbelastung der Klägerin nicht auf 1,3925 steigt, die Durchschnittsbelastung nicht überschritten wird und kein Zuschlag von 5 vH des Beitrags aufzuerlegen ist. Denn Rentennachzahlungen für weit zurückliegende Jahre sind keine "Aufwendungen" iS des § 162 Abs 1 Satz 4 SGB VII, nach denen sich ua die Höhe der Zuschläge nach näherer Maßgabe der Satzung (§ 162 Abs 1 Satz 3 Halbsatz 1 SGB VII) richten darf. Das Hauptziel des Beitragszuschlagsverfahrens besteht darin, bei den zusätzlich mit einem Zuschlag belasteten Arbeitgebern ökonomische Anreize für eine verstärkte Unfallverhütung zu setzen. Folglich müssen die durch die wirtschaftlichen Nachteile eines Beitragszuschlags beabsichtigten erhöhten Präventionsanstrengungen für den Unternehmer in einem erkenn- und berechenbaren zeitlichen Zusammenhang mit dem Unfallgeschehen stehen. Auf der Zeitachse können die "Aufwendungen für die Versicherungsfälle" (§ 162 Abs 1 Satz 4 SGB VII) vom Unfallversicherungsträger immer nur abschnittsweise berücksichtigt werden. Der Senat hat bereits entschieden, dass der Satzungsgeber hier einen Berücksichtigungszeitraum der Kosten von idR bis zu zwei Geschäftsjahren wählen darf. Die Vertreterversammlung der Beklagten hat den Beobachtungszeitraum in § 28 Abs 3 Nr 1 ihrer Satzung ermächtigungskonform auf das abgelaufene Beitragsjahr beschränkt, sodass konsequenterweise auch bei der Mindestkostengrenze von 10 000 Euro nur die Ausgaben "jährlich nachträglich" berücksichtigt werden dürfen, die "für das abgelaufene Beitragsjahr" und nicht lediglich periodenfremd "im" abgelaufenen Beitragsjahr "für" davorliegende Beitragsjahre aufgewendet wurden. Mithilfe der Mindestkostengrenze und des Belastungspunktesystems lässt sich zudem die Unfallschwere zuverlässig beurteilen, weil erhebliche Verletzungen regelmäßig höhere Kosten verursachen und somit ein tauglicher Indikator für die Schwere des Unfalls sind. Die Indikation der Unfallschwere gerade durch die angefallenen Kosten ist aber umso weniger aussagekräftig, je mehr periodenfremde Aufwendungen sich über längere Zeiträume aufsummieren, wie es hier der Fall war. Denn dann könnten auch leichte Unfälle mit vergleichbar niedrigen Rentenzahlbeträgen den Schwellenwert übersteigen, der dann in Folge kumulierter, überjähriger Aufwendungen eine Unfallschwere anzeigen würde, die in Wirklichkeit - dh bei periodengerechter Betrachtung - gar nicht vorliegt. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Mindestkostengrenze statisch und nicht dynamisch ausgestaltet ist, dh sie bleibt auch bei der Einbeziehung der Aufwendungen aus mehreren Perioden (Beitragsjahren) starr und wächst nicht entsprechend mit. Sieht die Satzung somit keine Dynamisierung der Mindestkostengrenze um die Zahl der betrachteten Jahresintervalle vor, so verdeutlicht sie damit zugleich, dass nur solche Aufwendungen berücksichtigt werden sollen, die periodengerecht im jeweils betreffenden Beitragsjahr entstanden sind. Dafür spricht schließlich auch, dass der Kostenbegriff nach den Grundsätzen ordnungsgemäßer Buchführung (siehe zur Kosten- und Leistungsrechnung § 69 Abs 4 SGB IV) nur periodenrichtige Aufwendungen erfasst, während Nachzahlungen für abgeschlossene Leistungszeiträume als perioden- bzw zeitraumfremde Aufwendungen definitionsgemäß keine "Kosten", sondern neutraler Aufwand sind. Hierdurch kann verhindert werden, dass trotz verstärkter aktueller Bemühungen des Unternehmens um eine größere Arbeitssicherheit Versicherungsfälle aus der ferner zurückliegenden Vergangenheit - aufgrund kumulativer Effekte - zu erheblich später verhängten Beitragszuschlägen führen. Denn nur eine möglichst zeitnahe Entscheidung darüber, ob und wie ein Arbeitsunfall zu berücksichtigen ist, führt zur Konzentration des Beitragsausgleichsverfahrens auf das aktuelle Unfallgeschehen, schafft Rechtsklarheit und erfüllt den Zweck der Ermächtigungsnorm des § 162 SGB VII, die Prävention im Unternehmen durch Beitragsanreize zu fördern.

Da die Rentenleistungen für den Unfall des Spielers K. aus dem Jahre 2007 nicht mehr berücksichtigt werden dürfen, ist zur Berechnung der Einzelbelastung nur 1 Belastungspunkt für den im Beitragsjahr 2010 bekannt gewordenen Arbeitsunfall des Spielers S. mit Kosten über 10 000 Euro zu berücksichtigen. Dieser Belastungspunkt führt zu einer Einzelbelastung der Klägerin von 0,0273 und unterschreitet damit die Durchschnittsbelastung von 0,92, die die Beklagte für alle Unternehmen der Tarifstelle ermittelt hat, zu der die Klägerin veranlagt worden ist.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 23/20.

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