Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 11/19 R

Verhandlungstermin 10.09.2020 13:30 Uhr

Terminvorschau

G. GmbH ./. Gemeinsamer Bundesausschuss
Die Klägerin vertreibt als pharmazeutisches Unternehmen seit Juni 2015 in Deutschland das verschreibungspflichtige, Ende April 2015 zur Behandlung bestimmter Hauterkrankungen bei Erwachsenen zugelassene Fertigarzneimittel Soolantra® Creme (Wirkstoff Ivermectin). Im November 2015 ergänzte der beklagte Gemeinsame Bundesauschuss (GBA) die Arzneimittel-Richtlinie (AMRL) in Anlage XII - Beschlüsse über die Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen nach § 35a SGB V - um den og, als "neu" anzusehenden Wirkstoff, allerdings gelte ein Zusatznutzen dafür gegenüber zweckmäßigen Vergleichstherapien nicht als belegt. Das gegen diese Änderung von der Klägerin geführte einstweilige Rechtsschutzverfahren blieb beim LSG Berlin-Brandenburg erfolglos, weil es gesetzlich ausgeschlossen sei.

Im Dezember 2015 hat die Klägerin beim - erstinstanzlich zuständigen - LSG Berlin-Brandenburg Feststellungsklage erhoben, weil die in Anlage XII AMRL getroffene Änderung zu Ivermectin/Soolantra® unwirksam sei. Das Nutzenbewertungsverfahren nach § 35a SGB V habe gar nicht durchgeführt werden dürfen, da der Wirkstoff Ivermectin keineswegs "neu" sei; bereits 1999 sei ein Arzneimittel mit diesem Wirkstoff in Frankreich zugelassen und seither nach Deutschland importiert worden.

Im Mai 2016 schlossen die Klägerin und der GKV-Spitzenverband eine Vereinbarung nach § 130b Abs 1 SGB V über den Erstattungsbetrag für das streitige Arzneimittel mit Wirkung ab 1.6.2016.

Das LSG hat die Klage im Oktober 2018 durch Urteil als unzulässig abgewiesen: Die gegen den Nutzenbewertungsbeschluss des Beklagten gerichtete Feststellungsklage sei nach § 35a Abs 8 Satz 1 SGB V ausgeschlossen. Pharmazeutischen Unternehmen sei es danach verwehrt, direkt gegen einen Nutzenbewertungsbeschluss vorzugehen. Deren Rechtsschutz sei ausreichend dadurch gewährleistet, dass sie Klage gegen die Festsetzung des Erstattungsbetrags durch die Schiedsstelle nach § 130b Abs 4 SGB V erheben könnten. Im Schiedsverfahren werde nämlich inzident auch der Nutzenbewertungsbeschluss des Beklagten mitüberprüft. Der gesetzliche Klageausschluss lasse sich nicht dadurch umgehen, dass pharmazeutische Unternehmer sich mit dem GKV-Spitzenverband über einen Erstattungsbetrag einigten. Da die Klägerin sich freiwillig entschieden habe, ein Schiedsverfahren nicht durchführen zu lassen, sei ihr Recht auf effektiven Rechtschutz (Art 19 Abs 4 GG) nicht verletzt.

Dagegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie die Verletzung von § 35a Abs 8 Satz 1 SGB V sowie von Art 19 Abs 4 und Art 12 Abs 1 GG rügt. Das LSG habe die Klage rechtsfehlerhaft als unzulässig abgewiesen (ua Hinweis auf Senatsurteil vom 28.3.2019 - B 3 KR 2/18 R), ohne ihr Vorbringen in der Sache zu prüfen; hier habe zwischen den Beteiligten sogar stets ein Streit darüber bestanden, ob der betroffene Wirkstoff überhaupt "neu" gewesen sei. Der Klageausschluss nach § 35a Abs 8 Satz 1 SGB V greife aber bei fehlender Wirkstoffneuheit des Arzneimittels gar nicht ein. Pharmazeutischen Unternehmen sei es in derartigen Fällen nicht zumutbar, zunächst ein Schiedsverfahren durchzuführen, um dann erst anschließend gegen Feststellungen im Nutzenbewertungsbeschluss klagen zu können. Eine zeitliche Verzögerung durch ein Klageverfahren sei im Hinblick auf die zügige Preisregulierung hier nicht zu befürchten gewesen. In der Sache bewirkten die (unrichtigen) Feststellungen über das Arzneimittel im Nutzenbewertungsbeschluss eine erhebliche Marktsteuerung und stellten einen nicht gerechtfertigten Eingriff in die unternehmerische Berufsfreiheit dar.

Vorinstanz:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 1 KR 558/15, 19.10.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 32/20.

Terminbericht

Die Revision der klagenden pharmazeutischen Unternehmerin ist im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung erfolgreich (§ 170 Abs 2 Satz 1 und 2 SGG). Das LSG hat die Klage rechtsfehlerhaft aus prozessrechtlichen Gründen als unzulässig abgewiesen. Es hätte die erhobene Feststellungsklage gegen die Änderung der Anlage XII der AM-RL durch den Nutzenbewertungsbeschluss des beklagten GBA aber in Bezug auf das streitige Fertigarzneimittel als zulässig ansehen und in der Sache prüfen müssen, ob der angegriffene Nutzenbewertungsbeschluss formell und materiell rechtmäßig ist.

Ausgehend vom Vortrag der Klägerin ist es keineswegs von vornherein gänzlich ausgeschlossen, dass das Fertigarzneimittel in das frühe Nutzenbewertungsverfahren nicht einzubeziehen war. Aus ihrer - vertretbaren - Sicht könnte das Fertigarzneimittel so qualifiziert werden, dass es sich gar nicht um ein solches mit einem "neuen" Wirkstoff iS von § 35a Abs 1 SGB V iVm § 2 Abs 1 Satz 2 AM-NutzenV handelt. Ob dies inhaltlich zutrifft, ist nicht im Rahmen der Zulässigkeit zu prüfen, sondern ist eine Frage der Begründetheit der Klage.

Im Übrigen gilt schon nach der Rechtsprechung des Senats zur Festbetragsgruppenbildung nach § 35 Abs 1 SGB V, dass Arzneimittelhersteller zur Anrufung der Gerichte befugt sind, wenn sie rügen, in ihren Grundrechten aus Art 12 Abs 1 iVm Art 3 Abs 1 GG durch staatliche Maßnahmen, die den Wettbewerb verfälschen, verletzt zu sein (vgl zuletzt BSG Urteil vom 3.5.2018 - B 3 KR 9/16 R, SozR 4 2500 § 35 Nr 8 RdNr 18 sowie BVerfGE 106, 275, 299). Da der Nutzenbewertungsbeschluss Feststellungen dazu enthält, was im Einzelfall für die Behandlung zweckmäßig und wirtschaftlich ist, entfaltet er Wirkungen für das am Wirtschaftlichkeitsgebot zu messende vertragsärztliche Verordnungsverhalten und kann eine erhebliche Marktsteuerung bewirken.

Die Klägerin kann als Grundrechtsträgerin auch nur durch die hier erhobene Klage gegen den GBA effektiven Rechtsschutz erlangen. Der - vom LSG angenommene - Ausschluss der Klagemöglichkeit würde sie in ihrem Recht aus Art 19 Abs 4 GG verletzen. Zwar ist nach § 35a Abs 8 Satz 1 SGB V ua eine "gesonderte Klage" gegen den Nutzenbewertungsbeschluss nach § 35a Abs 3 SGB V unzulässig. Dem kann aber nicht entnommen werden, dass eine solche Klage in jeder prozessualen Konstellation ausgeschlossen ist (Senatsurteil vom 28.3.2019 - B 3 KR 2/18 R, BSGE 127, 288 = SozR 4 2500 § 130b Nr 3, RdNr 36 f). Zuletzt hat der Senat noch offen gelassen, wie die Rechtslage zu beurteilen ist, wenn im Anschluss an die Nutzenbewertung des GBA - wie vorliegend - auf der zweiten Stufe kein Schiedsspruch nachfolgt, sondern Pharmaunternehmen und GKV-SpV einen Erstattungsbetrag vereinbaren. Diese Konstellation ist so zu entscheiden, dass der Ausschluss nur für eine "gesonderte" Klage gilt, dass eine solche vorliegend aber gar nicht im Raum steht, weil es gar keinen Schiedsspruch gibt. Der Nutzenbewertungsbeschluss ist auch keine bloße vorbereitende behördliche Verfahrenshandlung (vgl § 56a Satz 1 SGG), sondern hat Normcharakter (vgl § 35a Abs 3, § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 6, § 91 Abs 6 SGB V). Der Klägerin war es nicht zuzumuten, nach der Nutzenbewertung durch den GBA zunächst ein Schiedsverfahren zur Festsetzung des Erstattungsbetrags durchzuführen, statt sich mit dem GKV-SpV über diesen Betrag zu einigen; ein Schiedsverfahren hätte für sie eine erhebliche Verzögerung bedeutet. Die Inanspruchnahme von Rechtsschutz kann der Klägerin nicht durch die Vereinbarung des Erstattungsbetrags versagt werden, weil sie ihre fortbestehenden materiell-rechtlichen Einwände in den Vorbemerkungen der Vereinbarung ausdrücklich aufrecht erhalten hat. Das Rechtsschutzbedürfnis besteht allein schon durch die - auf der Grundlage des Nutzenbewertungsbeschlusses - fortbestehende Änderung der Anlage XII der AM-RL.

Der Senat hat von einer abschließenden Entscheidung in der Sache abgesehen, weil dies untunlich ist. Aufgrund der verfahrensrechtlichen Besonderheiten ist das LSG hier die einzige Tatsacheninstanz, das aber zu Unrecht die Sachurteilsvoraussetzungen der Klage verneint hat. Der Vortrag der Klägerin wurde mithin bisher in tatsächlicher und materiell-rechtlicher Hinsicht nicht gewürdigt. Dass sich die Beteiligten im Revisionsverfahren insoweit in bestimmten Punkten möglicherweise einig sind, ersetzt grundsätzlich nicht nötige Feststellungen durch das LSG (vgl § 163 SGG).

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 32/20.

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