Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 3/19 R

Verhandlungstermin 10.09.2020 10:00 Uhr

Terminvorschau

In den Verfahren B 3 P 2/19 R, B 3 P 3/19 R und B 3 P 1/20 R streiten die Beteiligten über die für pflegebedürftige Personen geltend gemachte - von den Leistungsträgern sowie den Gerichten erster und zweiter Instanz abgelehnte - Gewährung eines Wohngruppenzuschlags aus der privaten bzw sozialen Pflegeversicherung (vgl § 38a SGB XI).

P. ./. BARMER - Pflegekasse
Die 1930 geborene bei der beklagten Pflegekasse versicherte Klägerin bezieht Leistungen wegen Pflegebedürftigkeit. Seit Januar 2018 lebte sie in einer WG in K und wechselte im Mai 2018 in eine solche in B (im Folgenden: B-WG). Jeweils schloss die Klägerin einen Mietvertrag für eine Unterkunft in der WG sowie einen Pflege- und "Mieterversorgungsvertrag" mit demselben gemeinnützigen Verein ab. Von beiden WG'en wurde dieser Verein als Koordinator zur Sicherstellung der allgemeinen, organisatorischen, verwaltenden oder betreuenden und das Gemeinschaftsleben fördernden Tätigkeiten beauftragt. Während zunächst ein persönlicher Vertragsschluss der Klägerin mit dem Verein erfolgte, sah der im Oktober 2018 geschlossene Koordinationsvertrag auf der Basis eines Ergebnisprotokolls der konstituierenden Mitgliederversammlung der WG eine gemeinsame Beauftragung des Vereins durch die B-WG vor. Aus diesem Vertrag geht hervor, dass der Verein wiederum die bei ihm angestellte Leiterin der Wohngruppe und den Pflegedienstleiter mit der Wahrnehmung der übernommenen Aufgaben beauftragt. Die Mitglieder der WG waren zur Zahlung eines monatlichen Entgelts an den Verein verpflichtet, nicht hingegen zur Zahlung an die bei diesem beschäftigten Personen.

Im April 2018 lehnte die Beklagte die Zahlung eines Wohngruppenzuschlags ab, weil es sich bei der von der Klägerin gewählten Unterbringungsform um eine Form des betreuten Wohnens handele, die Merkmale einer stationären Pflegeeinrichtung aufweise. Zudem sei keine "gemeinschaftliche" Beauftragung "einer" Hilfsperson durch die WG erfolgt. So habe die Klägerin angegeben, dass täglich eine Betreuung rund um die Uhr durch "verschiedene" Kräfte erfolge. Es handele sich daher nicht um eine Wohngruppe im Sinne von § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI.

Die nach erfolglosem Widerspruchsverfahren erhobene Klage ist vor dem SG erfolglos geblieben, weil die - erforderliche - gemeinschaftliche Beauftragung einer natürlichen Person zur Verrichtung der in § 38a Abs 1 SGB XI genannten Tätigkeiten nicht erfolgt sei. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen: Zu keinem Zeitpunkt sei iSv § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI die Beauftragung ausschließlich "einer Person" erfolgt. Deshalb könne offen bleiben, ob die Bestimmung überhaupt den Vertragsschluss mit einer juristischen Person zulasse, und ob eine juristische Person in dem Vertrag als "Präsenzkraft" benannt werden dürfe. Die gesetzliche Voraussetzung sei im Falle der Klägerin nicht erfüllt, weil mehrere Beschäftigte benannt worden seien.

Hiergegen richtet sich die Revision der Klägerin, mit der sie die Verletzung von § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 und Nr 4 SGB XI rügt. Das LSG habe den Bedeutungsgehalt des Begriffs "eine Person" nicht zutreffend erfasst. Das Wort "eine" sei hier als unbestimmter Artikel und nicht als Numerale zu verstehen. Bei der Gewährung des Wohngruppenzuschlags stehe weniger der Einsatz und die Entlohnung einer "bestimmten" Arbeitskraft im Vordergrund als vielmehr die Kompensation eines zusätzlichen Aufwands, der beim Leben in einer Wohngruppe entstehe (Hinweis auf Senatsurteil vom 18.2.2016 - B 3 P 5/14 R, BSGE 120, 271 = SozR 4-3300 § 38a Nr 1).

Vorinstanzen:
Sozialgericht Trier - S 2 P 55/18, 15.10.2018
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz - L 5 P 38/18, 17.07.2019

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 32/20.

Terminbericht

Die Revisionen sind in allen drei Verfahren im Sinne der Aufhebung der Entscheidungen des LSG und Zurückverweisung an das jeweilige Berufungsgericht zur erneuten Verhandlung und Entscheidung begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Anspruch auf einen Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI (in den jeweils ab 1.1.2015 geltenden Fassungen bzw nach der weitgehend identischen versicherungsvertraglichen Klausel in § 4 Abs 7a AVB MB/PPV) kann in allen Verfahren mit den von den Vorinstanzen gegebenen Begründungen nicht rechtsfehlerfrei verneint werden.

Der Senat hat bei seiner Auslegung der Tatbestandsmerkmale des § 38a SGB XI vor allem das gesetzliche Ziel berücksichtigt, ambulante Wohnformen - auch finanziell - zu fördern und weiterzuentwickeln (vgl Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zum 5. SGB XI-ÄndG <= Erstes Pflegestärkungsgesetz, PSG I>, BT-Drucks 18/2909, S 41 zu Nummer 8), sowie dem Grundsatz der Selbstbestimmung pflegebedürftiger Menschen (§ 2 SGB XI) Ausdruck verliehen. Vor diesem Hintergrund dürfen die Maßstäbe für die in den jeweiligen Revisionsverfahren streitigen Anspruchsvoraussetzungen, die individuelle ambulante Versorgungsformen für diesen Personenkreis zu ermöglichen, nicht eng ausgelegt werden. Die Förderung bestimmter Wohnformen mittels eines Wohngruppenzuschlags ist allerdings ausgeschlossen, wenn das Wohnen lediglich bei rein "formaler" Betrachtung der ambulanten Versorgung zuzuordnen wäre, faktisch aber einer stationären Vollversorgung entspräche, oder wenn die Versorgung nicht über die Leistungen der reinen häuslichen Pflege hinausginge.

a) Eine "gemeinsame Wohnung" iS von § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI liegt danach erst dann nicht mehr vor, wenn die gesamte Wohnanlage so gestaltet ist, dass nicht mehr auf die Möglichkeit eines gemeinschaftlichen Zusammenwohnens zurückgegriffen werden kann.

b) Dem Anspruch auf Wohngruppenzuschlag steht vor diesem Hintergrund auch nicht entgegen, dass mehr als eine Person Tätigkeiten iSd § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI für die Wohngruppe verrichten soll (vgl bereits Senatsurteil vom 18.2.2016 - B 3 P 5/14 R, BSGE 120, 271 = SozR 4-3300 § 38a Nr 1, RdNr 23). Vielmehr lässt die Norm die Beauftragung mehrerer natürlicher und/oder juristischer Personen in Kombination wie auch in einem gestuften Auftragsverhältnis zu. Der lediglich in den Gesetzgebungsmaterialien verwendete Begriff "Präsenzkraft" spricht nicht gegen die rechtlich zulässige Beauftragung juristischer Personen. Die Möglichkeit juristischer Personen, konkret (und nicht nur pauschal) benannte natürliche Personen in die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben einzubinden, ist gleichermaßen geeignet, eine regelmäßige persönliche Präsenz sicherzustellen.

c) Das gesetzliche Erfordernis einer "gemeinschaftlichen" Beauftragung zur Verrichtung der in § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI genannten Aufgaben stellt keine qualifizierten Anforderungen an die Form oder das Zustandekommen des gemeinschaftlichen Willensbildungsprozesses. Die nach den Gesetzesmaterialien gewollte zu fördernde individuelle Vielfalt bestimmter Wohngemeinschaften von pflegebedürftigen Menschen verbietet enge Vorgaben für das Zustandekommen der Beauftragung. Aus der typischerweise wechselnden personellen Zusammensetzung dieser Gemeinschaften, dh einer damit verbundenen gewissen Fluktuation, ergeben sich zudem praktische Bedürfnisse, die Beauftragung sowohl durch separat abgeschlossene Vereinbarungen als auch durch deren nachträgliche Genehmigung durch neu eintretende Personen zu ermöglichen. Dafür reicht es aus, wenn einschließlich der die Leistung begehrenden pflegebedürftigen Person mindestens zwei weitere pflegebedürftige Mitglieder der Wohngemeinschaft an der gemeinschaftlichen Beauftragung mitwirken und - im Falle eines Wechsels oder des Ausscheidens von Mitgliedern - die verbliebenen und neuen die Beauftragung aufrechterhalten. Dies kann zur Folge haben, dass durchaus mehrere Beauftragungen nebeneinander innerhalb der Wohngemeinschaft möglich sind.

d) Zentrale Voraussetzung für die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags ist zudem die Festlegung der konkreten Aufgaben im Sinne der Alternativen des § 38a SGB XI. Dies ist nötig, um sicherzustellen, dass sich die zu erledigenden Aufgaben der beauftragten Person deutlich von der individuell benötigten pflegerischen Versorgung unterscheiden (vgl bereits Senatsurteil vom 18.2.2016, aaO, RdNr 29). Auch darf keine solche personelle/vertragliche Symbiose der zusätzlichen Versorgung mit pflegerischen Leistungen bestehen, die die Abgrenzung zur stationären Vollversorgung nicht mehr gewährleisten würde.

e) § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 4 iVm Nr 1 SGB XI schließt einen Anspruch auf Wohngruppenzuschlag aus, wenn eine stationäre oder quasi-stationäre Versorgungsform vorliegt. Als zentrales Abgrenzungsmerkmal zur ambulanten Versorgung kommt es dabei nicht auf heimrechtliche, sondern auf leistungsrechtliche Kriterien an. Nach den Materialien zum PSG I soll es für die Bejahung der ambulanten Versorgung darauf ankommen, dass regelhaft Beiträge der Bewohner selbst, ihres persönlichen sozialen Umfelds oder von bürgerschaftlich Tätigen zur Versorgung notwendig bleiben (vgl Ausschussbericht, aaO, BT-Drucks 18/2909 S 42). Eine ambulante Versorgungsform liegt folglich vor, wenn keine vollständige Übertragung der Verantwortung ohne freie Wählbarkeit der Pflege- und Betreuungsleistungen erfolgt, sondern wenn die Versorgung auf die Übernahme von Aufgaben durch Dritte angelegt ist, unabhängig davon, ob auch tatsächlich davon in bestimmter Weise Gebrauch gemacht wird.

f) Gemessen an alledem darf im Revisionsverfahren B 3 P 2/19 R ein Wohngruppenzuschlag für die Ehefrau des Klägers weder aufgrund der Art und Weise der Beauftragung der Personen noch aufgrund des Leistungsumfangs der Versorgungsform verneint werden.

Auch in der Sache zum Aktenzeichen B 3 P 3/19 R scheitert ein Anspruch jedenfalls nicht daran, dass es zur Beauftragung mehrerer Personen kam, und dass es sich hierbei auch um eine juristische Person handelt.

In der Revisionssache B 3 P 1/20 R durfte entgegen der Ansicht der Vorinstanzen die Gewährung eines Wohngruppenzuschlags nicht mit der Begründung abgelehnt werden, dass es sich bei der Wohnform des Klägers um keine "gemeinsame Wohnung" handele.

g) Ob die beklagten Leistungsträger im jeweiligen Rechtsstreit zur Zahlung der Wohngruppenzuschläge zu verurteilen sind, kann der erkennende Senat in allen drei Fällen allerdings nicht selbst abschließend entscheiden. Hierzu sind in den wieder eröffneten Berufungsverfahren Feststellungen auch zu allen weiteren Anspruchsvoraussetzungen des § 38a SGB XI nötig und nachzuholen, die die Tatsacheninstanzen - von ihrem Rechtsstandpunkt aus konsequent - bisher unterlassen haben.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 32/20.

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