Bundessozialgericht

Verhandlung B 11 AL 1/20 R - ohne mündliche Verhandlung

Verhandlungstermin 17.09.2020 00:00 Uhr

Terminvorschau

H.-P. U ./. Bundesagentur für Arbeit
Der Kläger war vom 1.7.1990 bis 31.10.2014 in der Schweiz als Werkzeugvoreinsteller/Fräser tätig, wobei er täglich von seinem Wohnort in Deutschland zu seinem Arbeitsplatz pendelte. Er erzielte im Jahre 2012 ein Arbeitseinkommen iHv 80 645,45 CHF, im Jahre 2013 iHv 72 800 CHF und vom 1.1.2014 bis 31.10.2014 iHv 83 086,20 CHF. Ab 1.11.2014 nahm er eine Beschäftigung als Werkzeugvoreinsteller in Deutschland auf, die durch Arbeitgeberkündigung am 10.11.2014 mit Wirkung zum 24.11.2014 beendet wurde. Das Arbeitsentgelt für November 2014 iHv 2232,77 Euro wurde erst am 11.12.2014 abgerechnet und ausgezahlt. Die Beklagte bewilligte Alg ab 25.11.2014 iHv täglich 29,48 Euro nach einem Bemessungsentgelt iHv 73,73 Euro täglich. Wegen der kurzen Dauer der Beschäftigung in Deutschland und der fehlenden Abrechnung des Arbeitsentgelts vor dem Ausscheiden legte sie der Höhe des Alg eine fiktive Bemessung nach der Qualifikationsgruppe 3 (Beschäftigungen, die eine abgeschlossene Ausbildung in einem Ausbildungsberuf erforderten) zugrunde.

Das SG hat die Beklagte unter Abänderung der angegriffenen Bescheide verurteilt, Alg nach einem Bemessungsentgelt iHv 93,03 Euro zu berechnen und die Klage im Übrigen abgewiesen. Der Bemessung sei allein das während der letzten Beschäftigung in Deutschland erzielte Entgelt zugrunde zu legen. Das LSG hat die Berufungen der Beklagten und des Klägers zurückgewiesen. Nach den Regelungen zur europäischen Sozialrechtskoordinierung in Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 sei der Berechnung des Alg ausschließlich das während der letzten Beschäftigung in Deutschland erzielte Entgelt, nicht jedoch dasjenige der Tätigkeit in der Schweiz, zugrunde zu legen.

Beide Beteiligte haben Revision eingelegt. Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend, Art 62 VO (EG) 883/2004 verdränge die Bemessung nach nationalem Recht nicht soweit, dass entgegen der in Deutschland geltenden Bemessungsvorschriften auch nicht abgerechnetes Arbeitsentgelt berücksichtigt werden könne. Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des Art 62 VO (EG) 883/2004 sowie von Vorschriften des Grundgesetzes. Die Beschränkung der Höhe des Alg auf inländische Bezugsgrößen bei nur kurzer Inlandsbeschäftigung führe zu sachlich nicht zu rechtfertigenden, mobile gegenüber immobilen Arbeitnehmern diskriminierenden Ergebnissen. Mit Beschluss vom 23.10.2018 (B 11 AL 9/17 R) hat der Senat dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) nach Art 267 Fragen zur Auslegung des Art 62 VO (EG) 883/2004 iVm Art 62 Abs 2 VO (EG) 883/2004 vorgelegt. Hierüber hat der EuGH mit Urteil vom 23.1.2020 (C 29/19) entschieden.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Konstanz - S 2 AL 215/15, 19.01.2016
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 13 AL 485/16, 16.03.2017

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 30/20.

Terminbericht

Die Revisionen der Beteiligten hatten keinen Erfolg. Anders als die Beklagte meint, ist Alg allein nach dem Arbeitsentgelt der (kurzen) inländischen Beschäftigung zu erbringen. Zwar wäre unter Berücksichtigung des nationalen Rechts auf eine fiktive Bemessung zurückzugreifen, weil der nach dem SGB III erforderliche Bemessungszeitraum von mindestens 150 Tagen mit Anspruch auf Arbeitsentgelt nicht vorliegt und das Arbeitsentgelt nicht bereits mit dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis abgerechnet und ausgezahlt war. Jedoch sind die Vorschriften des koordinierenden Sozialrechts einzubeziehen. Hierzu hat der EuGH auf den Vorlagebeschluss des Senats mit Urteil vom 23.1.2020 (C-29/19) entschieden, dass es unbesehen der Besonderheiten des nationalen Rechts keine Ausnahme von dem in Art 62 Abs 1 VO (EG) 883/2004 aufgestellten Erfordernis gibt, ausschließlich dasjenige Entgelt zugrunde zu legen, das die betreffende Person während ihrer letzten Beschäftigung erhalten hat. Dies kann auch nicht davon abhängig macht werden, dass das Entgelt spätestens am letzten Tag der Ausübung der Beschäftigung abgerechnet und ausgezahlt worden ist.

Auch die Revision des Klägers ist nicht begründet. Aus dem allein für Grenzgänger geltenden Art 62 Abs 3 VO (EG) kann er kein höheres Alg ableiten, weil er die Grenzgängereigenschaft mit Aufnahme der inländischen Beschäftigung im November 2014 verloren hat. Die Anwendbarkeit dieser Regelung nur auf Grenzgänger und die Anknüpfung der Berechnung des Alg ausschließlich an das letzte Entgelt im zuständigen Wohnsitzmitgliedstaat sind mit höherrangigem EU-Recht vereinbar. Dieses ist mit einem weiten Ermessensspielraum des Unionsgesetzgebers bei der Ausgestaltung des Freizügigkeitsrecht verbunden. Zwar kann die ausnahmslose Heranziehung des Entgelts der letzten Beschäftigung im Wohnsitzmitgliedstaat in Fallgestaltungen zu ungünstigen Ergebnissen führen, in denen der Betroffene - wie der Kläger - zuvor in einem anderen EU-Land wesentlich mehr verdient hat als im danach zuständigen Mitgliedstaat; je nach Verdienstmöglichkeiten im Beschäftigungs- und Wohnsitzmitgliedstaat sind aber auch gegenteilige Ergebnisse möglich. Der EuGH hat mit seiner Entscheidung vom 23.1.2020 zum Ausdruck gebracht, dass die alleinige Anknüpfung an das ggf nur in einem kurzen Zeitraum zuletzt erzielte Entgelt im Herkunftsland bzw Wohnsitzmitgliedstaat das Recht auf Freizügigkeit gewährleistet. In Ermangelung einer Harmonisierung auf Unionsebene kann das koordinierende Sozialrecht nicht garantieren, dass die Verlagerung einer beruflichen Tätigkeit in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit stets neutral ist. Die Anwendbarkeit des Art 62 VO (EG) 883/2004 verletzt den Kläger auch nicht in seinen durch das Grundgesetz verbürgten Rechten. Beitragszeiten nach dem SGB III werden uneingeschränkt berücksichtigt. Dass sich die Höhe der Arbeitslosenunterstützung nicht nach den in der Schweiz zurückgelegten Beschäftigungszeiten richtet, ist Folge des nur eingeschränkt möglichen Leistungsexports im Koordinierungsrecht der Arbeitslosenunterstützung.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Nachtrag zum Terminbericht 30/20.

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