Bundessozialgericht

Verhandlung B 9 V 3/18 R

Verhandlungstermin 24.09.2020 10:00 Uhr

Terminvorschau

S. D. ./. Land Sachsen-Anhalt
Die 2005 geborene Klägerin ist wegen einer globalen Entwicklungsverzögerung bei Alkohol-Embryopathie schwerbehindert. Sie beantragte im Jahre 2009 Beschädigtenversorgung nach dem OEG, weil sie durch ein "Alkohol-Syndrom" der leiblichen Mutter in der Schwangerschaft geschädigt worden sei. Der Beklagte lehnte den Antrag ab. Alkoholmissbrauch sei das Erscheinungsbild einer Suchterkrankung und stelle kein strafrechtlich relevantes Verhalten dar. Das ungeborene Leben sei keine rechtsfähige natürliche Person. Das SG hat die Klage nach Zeugenvernehmung der leiblichen Eltern abgewiesen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Zwar sei davon auszugehen, dass die Mutter durch vorgeburtlich wiederholten und erheblichen Konsum von Alkohol während der Schwangerschaft auf das ungeborene Leben eingewirkt und die Klägerin geschädigt habe. Auch sei davon auszugehen, dass die Mutter mit bedingtem Vorsatz gehandelt habe. Es fehle jedoch an einem rechtswidrigen Angriff der Mutter, weil keine Norm des StGB verletzt und insbesondere keine Anhaltspunkte für einen versuchten Schwangerschaftsabbruch ersichtlich seien.

Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 1 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 Nr 1 OEG. Die Leibesfrucht (nasciturus) sei vom Schutzbereich des OEG umfasst. Das OEG enthalte insoweit eine planwidrige Regelungslücke, die mittels Analogie zu schließen sei. Es liege auch ein vorsätzlicher, rechtswidriger tätlicher Angriff vor. Das OEG knüpfe nicht explizit an die Strafbarkeit nach dem StGB an, sondern stelle auf einen Rechtsbruch ab. In verfassungskonformer Auslegung des OEG müsse die gesamte Rechtsordnung inklusive dem zivilrechtlichen Deliktsrecht betrachtet werden, die den nasciturus insbesondere auch gegenüber der Mutter schütze. Der nasciturus sei aber auch im Strafrecht geschützt. In dem Verhalten der Mutter sei ein versuchter Schwangerschaftsabbruch iS des § 218 Abs 4 Satz 1 StGB zu sehen.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Magdeburg - S 14 VE 18/11, 10.07.2015
Landessozialgericht Sachsen-Anhalt - L 7 VE 10/15, 30.08.2017

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 35/20.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin hat in der Sache keinen Erfolg. Die Klägerin kann Opferentschädigung nicht beanspruchen. Allerdings ist auch die Leibesfrucht (nasciturus) vom Schutzbereich des OEG umfasst. Ein vorgeburtlicher Alkoholmissbrauch während der Schwangerschaft kann einen tätlichen Angriff auf das ungeborene Kind (§ 1 Abs 1 Satz 1 OEG) darstellen. Die erforderliche feindselige Willensrichtung liegt bei dem Alkoholkonsum einer Schwangeren indes nur vor, wenn mit diesem Verhalten die Grenze zum kriminellen Unrecht überschritten wird, wenn dieses also auf einen versuchten Abbruch der Schwangerschaft (§§ 218 Abs 4 Satz 1, 22 StGB) gerichtet ist. Ebenso verhält es sich für die gesetzlich gleichgestellte Beibringung von Gift (§ 1 Abs 2 Nr 1 OEG).

Nach den mit durchgreifenden Verfahrensrügen nicht angegriffenen Feststellungen des LSG lässt sich der nötige - mindestens bedingte - Vorsatz zum Abbruch einer Schwangerschaft bei der Mutter der Klägerin nicht nachweisen. Das LSG musste aus dem Vorversterben zweier lebend geborener Geschwister der Klägerin nicht schlussfolgern, dass die Mutter nunmehr den Tod der ungeborenen Klägerin infolge ihres Alkoholkonsums als möglich angesehen und billigend in Kauf genommen hat. Seine gegenteiligen Feststellungen bewegen sich noch im Rahmen der freien Beweiswürdigung.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 35/20.

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