Verhandlung B 2 U 13/19 R
Verhandlungstermin
06.10.2020 10:00 Uhr
Terminvorschau
J. F. ./. BG - Gesundheitsdienst und Wohlfahrtspflege
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin während eines Seminaraufenthalts im Rahmen des Freiwilligen Sozialen Jahrs (FSJ) in einer Bildungs- und Ferienstätte einen Arbeitsunfall erlitten hat, als sie sich beim Spielen auf einem Hüpfkissen verletzte.
Die im November 1998 geborene Klägerin begann nach Abschluss der Realschule ein FSJ, in dem sie in einem Alten- und Pflegeheim eingesetzt wurde. Die FSJ-Vereinbarung sah ua die Teilnahme an einem einwöchigen Einführungsseminar vor, das im September 2015 in einer ländlich abgeschiedenen Bildungs- und Ferienstätte stattfand. Täglich in der Zeit von 9.00 Uhr bis 18.00 Uhr wurden Seminare durchgeführt, die anschließende Freizeit stand den Seminarteilnehmern zur freien Verfügung. Am Abend wurden von einzelnen Betreuern auf freiwilliger Basis Freizeitaktivitäten (zB Lagerfeuer, Spiele, …) angeboten. Für das Verlassen des Geländes mussten sich die Teilnehmer in Gruppen von mindestens drei Personen zusammenschließen und bis 22.00 Uhr zurückkehren. Am 8.9.2015 war die damals 16jährige Klägerin gegen 20.00 Uhr mit weiteren Seminarteilnehmern auf dem Weg zu einem Karten- bzw Rollenspiel. Dabei entdeckte die Gruppe auf dem Gelände des Freizeitheims ein Hüpfkissen in einer Größe von 11,2 x 9 m und begann darauf zu hüpfen. Die Gruppe beschloss, dass sich die Klägerin in die eine Hälfte des Hüpfkissen setzen sollte. Auf die andere Hälfte sollten dann acht weitere Seminarteilnehmer gleichzeitig springen, um die Klägerin in die Luft zu katapultieren. Die Klägerin flog zunächst - wie von der Gruppe beabsichtigt - in die Luft, landete dann aber auf der aus einem Sand-Kies-Gemisch bestehenden Umrandung. Hierdurch erlitt die Klägerin Deckplattenbrüche verschiedener Wirbelkörper und eine Impressionsfraktur des ersten Lendenwirbelkörpers. Die Beklagte lehnte die Anerkennung des Vorfalls als Arbeitsunfall ab. Das SG hat festgestellt, dass das Ereignis ein Arbeitsunfall gewesen sei. Die Grundsätze des Versicherungsschutzes bei Schulausflügen und Klassenfahrten, die auf den natürlichen Spieltrieb und das typische Gruppenverhalten von Kindern und Jugendlichen abstellten, seien hier anwendbar. Das LSG hat das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die zum Unfall führende Verrichtung auf dem Hüpfkissen habe in keinem sachlichen Zusammenhang mit der nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versicherten Beschäftigung gestanden. Die Gruppenaktivität nach Beendigung der verpflichtenden Seminarveranstaltungen sei eine rein private Freizeitgestaltung und nicht Teil der in der Einrichtung angebotenen freiwilligen Abendaktivitäten gewesen. Auch war das FSJ rechtlich nicht so ausgestaltet, dass auch Freizeitaktivitäten zu den verpflichtenden Seminarinhalten gehört hätten.
Mit ihrer Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 8 Abs 1 SGB VII. Bei der Teilnahme an Seminaren im Rahmen des FSJ müsse ein umfassender Versicherungsschutz gewährleistet werden.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Hildesheim - S 21 U 68/16, 17.01.2017
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 3 U 41/17, 25.09.2019
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Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolgreich. Das Urteil des LSG war aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das zusprechende Urteil des SG zurückzuweisen. Die Klägerin hat auf dem Hüpfkissen in der Bildungsstätte einen versicherten Arbeitsunfall im Sinne des § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII erlitten. Die Klägerin war zunächst als Teilnehmerin an einem Freiwilligen Sozialen Jahr (FSJ) Beschäftigte im Sinne des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII. Die unfallbringende Verrichtung, bei der sich die Klägerin verletzte - das Springen auf dem Hüpfkissen -, stand auch noch in einem inneren Zusammenhang mit dieser grundsätzlich versicherten Tätigkeit. Zwar war diese Verrichtung keine Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrundeliegenden Rechtsverhältnis und konnte von der Klägerin auch nicht als solche verstanden werden. Der Träger des FSJ hat jedoch eine erhöhte spezifische Gefahr für die ungehemmte Entfaltung jugendlicher leichtsinniger Spielereien und gruppendynamischer Prozesse einschließlich des damit verbundenen Verletzungspotenzials durch Abhaltung eines einwöchigen Seminars für Jugendliche an einem fremden, abgelegenen Ort mit einem unfallträchtigen Sportgerät ohne entsprechende Aufsicht geschaffen. Für den Versicherungsschutz jugendlicher Arbeitnehmer bei durch spielerisches Verhalten auf der Betriebsstätte verursachten Unfällen gelten schon nach bisheriger Rechtsprechung besondere Maßstäbe. Hierbei ist jeweils die besondere Situation am Arbeitsplatz und der Spieltrieb Jugendlicher zu berücksichtigen. Ein sachlicher Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit wurde bejaht, wenn der Jugendliche durch die Gestaltung der Betriebsverhältnisse in die Lage versetzt wurde, sich durch leichtsinnige Spielereien und gruppendynamische Prozesse besonderen Gefahren auszusetzen. Hiervon ausgehend kann bei Jugendlichen auf Geschäfts- bzw Seminarreisen eine auf dem altersbedingten unbändigen Spieltrieb und gruppentypischen Verhalten beruhende Handlung, die zu einem Unfall führt, eine im Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit nach § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII stehende Tätigkeit darstellen, insbesondere wenn die jugendlichen Arbeitnehmer durch die Umstände der Seminarreise in die Lage versetzt wurden, sich besonderen Gefahren auszusetzen. Damit ist die Benutzung des Hüpfkissens hier noch als versicherte Tätigkeit anzusehen. Das Seminar wurde in einer für die Klägerin und die weiteren Teilnehmer fremden und abgelegenen Umgebung abgehalten. Den Seminarteilnehmern standen für ihre Freizeitgestaltung im Wesentlichen nur die von den Betreuern durchgeführten Aktivitäten sowie die Angebote der Einrichtung zur Verfügung. Zwar war zum Unfallzeitpunkt die offizielle Seminarzeit beendet, jedoch wurde nach den Feststellungen des LSG an diesem Abend ein weiterer Programmpunkt angeboten, zu dem die Klägerin zusammen mit anderen Seminarteilnehmern unterwegs war, als die Gruppe das Hüpfkissen entdeckte und die Gelegenheit zum Spielen darauf nutzte. Das Hüpfkissen als Sportgerät birgt schon aufgrund seiner Beschaffenheit erhebliche Verletzungsgefahren in sich. Nach den bindenden Feststellungen des LSG erfolgte der unfallbringende Katapultsprung sodann aufgrund altersbedingter Gegebenheiten wie Übermut, Spieltrieb, Gruppendynamik und Fehleinschätzung der Gefahrenlage. Dem steht nicht entgegen, dass die Klägerin zum Unfallzeitpunkt bereits fast 17 Jahre alt war. Zwar dürfte der Spieltrieb mit fortschreitendem Alter abnehmen, doch kann dieser gerade in Gruppen Gleichaltriger wieder aufleben und durch gruppendynamische Prozesse, wie sich gegenseitig "anfeuern" oder "hochschaukeln", verstärkt werden. Gerade in solchen Situationen besteht die Gefahr, dass Jugendliche von übermütigen Ideen mitgerissen werden und sich unter dem Eindruck der Gruppendynamik erheblichen Gefahren für die körperliche Unversehrtheit aussetzen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund der Zusammenstellung der Seminargruppe, die für das Einführungsseminar zur Ableistung des FSJ in der Regel aus Jugendlichen besteht, die sich untereinander nicht kennen, aber für die gemeinsame Freizeitgestaltung während der Seminarreise in einem abgelegenen Gebiet aufeinander angewiesen sind.
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