Bundessozialgericht

Verhandlung B 2 U 7/19 R

Unfallversicherung - Berufskrankheit - Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen Siderofibrose

Verhandlungstermin 16.03.2021 12:00 Uhr

Terminvorschau

1)    1. I. A., 2. C. A. als Erben des verstorbenen B. W. ./. BG Holz und Metall
Die Beteiligten streiten darüber, ob bei dem im August 2017 verstorbenen Versicherten eine BK nach Nr 4115 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV: "Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen Siderofibrose" vorgelegen hat.

Der 1929 geborene Versicherte war von 1945 bis April 1982 als Stahlbauschlosser Schweißrauchen und -gasen ausgesetzt. Die Beklagte verneinte 2012 eine BK 4115, weil keine "Schweißerlunge" bestehe. Hiergegen hat der Versicherte Klage erhoben. Während des Klageverfahrens wurde im Juni 2013 eine Lungenfibrose nachgewiesen. Der Präventionsdienst (PD) der Beklagten stellte fest, dass der Versicherte Arbeiten im schweren Stahlbau größtenteils frei in einer Werkhalle durchgeführt habe. Tätigkeiten innerhalb weitgehend geschlossener, enger Räume seien im Regelfall nicht ausgeübt worden. Eine Ausnahme hätten Heftarbeiten in Kastenelementen (zB Brückenkonstruktionen) dargestellt. Der Versicherte hat eingewandt, er sei von 1945 bis 1958 in "Schweißerhallen" tätig gewesen. Von April 1969 bis Juni 1980 habe er elf Jahre lang Schweißarbeiten in Kastenelementen durchgeführt, die ca 20 m lang und so niedrig gewesen seien, dass ein Mann dort nicht habe stehen können. Es habe keine vernünftigen Schutzvorrichtungen gegeben, keinen Luftabzug nach oben. Dazu führte der PD 2016 aus, der Versicherte habe etwa zwei bis drei Jahre arbeitstäglich in Kastenprofilen unter extremen Bedingungen geschweißt. Das SG hat die angefochtenen Bescheide aufgehoben und festgestellt, dass bei dem Versicherten eine BK 4115 vorliege. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung seines Urteils hat es ausgeführt, der Versicherte sei beruflich 26,8 Jahre und damit "langjährig" einer kumulativen Schweißrauchbelastung von 258 mg/m³ x Jahren ausgesetzt gewesen. Dies sei schon isoliert betrachtet als "extrem" einzustufen, weil die Zahl der Erkrankten bereits im Bereich von etwa 100 bis 200 mg Schweißrauch pro m³ Atemluft mal Jahre bis zu einem Median (50 Perzentil)wert von ca 220 [mg/m³ x Jahre] einen kritischen Anstieg zeige, wie sich aus dem Merkblatt zur BK 4115 und der entsprechenden wissenschaftlichen Begründung ergebe. Pathophysiologisch sei es nicht begründbar, den BK-Tatbestand auf langjährige Tätigkeiten unter ungünstigen Lüftungsverhältnissen in engen Räumen zu begrenzen. Hohe Partikelkonzentrationen entstünden auch unter anderen Gegebenheiten. Entscheidend sei die Schweißrauchkonzentration im Atembereich und die kumulative Schweißrauchexposition über das gesamte Erwerbsleben hinweg, wobei es nicht auf die räumlichen Umgebungsbedingungen ankomme. Der Arbeitsschutz sei früher häufig unzureichend gewesen, sodass auch in großen Hallen extreme Bedingungen geherrscht hätten. Soweit die wissenschaftliche Begründung zur BK 4115 "extreme" Einwirkungen "insbesondere" bei "eingeschränkten Belüftungsverhältnissen“ bejahe, seien die dort angeführten Beispiele weder abschließend noch hinsichtlich ihres Hohlvolumens so konkret, dass sich darauf eine Entscheidung stützen lasse. Die mithin vorliegende extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und -gasen habe die Siderofibrose des Versicherten auch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit rechtlich wesentlich verursacht.

Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung der §§ 62, 128 Abs 1, 103, 116, 117 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm §§ 404a, 407a Abs 3 ZPO und des § 9 Abs 1 SGB VII iVm Nr 4115 der Anl 1 zur BKV. Unter einer extremen Einwirkung sei nur die Exposition gegenüber Schweißrauchen und ‑gasen in Kellern, Tunneln, Behältern, Tanks, Waggons, Containern, in Schiffsräumen oder in vergleichbar räumlich beengten Verhältnissen bei arbeitshygienisch unzureichenden sicherheitstechnischen Vorkehrungen zu verstehen. Erfasse man auch Personen, die unter Normalbedingungen ohne Beeinträchtigung der Belüftung geschweißt hätten (sogenannte "Normalschweißer") werde der Begriffssinn des Superlativs "extrem" verkannt.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Hannover - S 36 U 222/12, 23.11.2016
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 14 U 27/17, 17.05.2018

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 9/21.

Terminbericht

Die Revision der Beklagten war nicht begründet. Zu Recht haben die Vorinstanzen entschieden, dass bei dem Verstorbenen eine BK nach Nr 4115 der Anlage 1 zur BKV (Lungenfibrose durch extreme und langjährige Einwirkung von Schweißrauchen und Schweißgasen Siderofibrose) vorgelegen hat.

Die beiden Erben konnten die Feststellungsklage anstelle des Versicherten fortführen, weil sie ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der BK 4115 haben. Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG war der Versicherte bei seinen "Verrichtungen" (ua Heften, Schweißen, Trennen, Schleifen, Richten, Montieren, Aufsicht führen) im Rahmen seiner "versicherten Tätigkeit" als (§ 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII iVm § 7 Abs 1 SGB IV) Stahlbauschlosser 26,8 Jahre lang Schweißrauchen und -gasen ausgesetzt, und diese "Einwirkungen" haben die "Krankheit" Lungenfibrose mit hinreichender Wahrscheinlichkeit verursacht. Diese Einwirkungen von Schweißrauchen und -gasen waren auch "extrem" im Sinne des Normtextes der BK 4115. Der Senat geht dabei davon aus, dass die Konkretisierung und damit auch letztlich "Operationalisierung" vom Verordnungsgeber bewusst gewählter unbestimmter Rechtsbegriffe zu den Aufgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung gehört. Eindeutig nicht "extrem" sind zunächst Schadstoffkonzentrationen, die die Arbeitsplatzgrenzwerte einhalten, wie sie in den Technischen Regeln für Gefahrstoffe (TRGS) festgelegt sind. Aus den Werten der TRGS lässt sich aus systematischer Sicht zumindest folgern, dass extreme Einwirkungen erst erreicht werden, wenn der Allgemeine Staubgrenzwert (ASGW) von 3,0 mg/ bzw 1,25 mg/ für lungengängigen Schweißrauch auf längere Dauer um ein Vielfaches überschritten wird. Allerdings lässt sich ein genauer Vervielfältigungsfaktor, mit dessen Hilfe ein Schwellenwert errechnet werden könnte, ab dessen Überschreitung von einer extremen Einwirkung auszugehen wäre, auch unter Zugrundelegung von systematischen Überlegungen den TRGS nicht entnehmen. Die wissenschaftliche Begründung zur BK Nr 4115 gibt jedoch in ihrer Abbildung 1 einen klaren Hinweis, wo der Bereich extremer Einwirkungen beginnt. Sie nimmt auf sicherheitstechnische Messerfahrungen an optimal und eingeschränkt belüfteten Schweißerarbeitsplätzen Bezug. Danach waren Lichtbogenhand- und Schutzgasschweißer an optimal belüfteten Arbeitsplätzen Schweißrauchkonzentrationen mit einem Median-(50-Perzentil)Wert von 1,6 mg/ ausgesetzt. Diese Durchschnittsbelastung bewegte sich bereits um 0,35 mg/ über dem heute zulässigen ASGW von 1,25 mg/, aber noch nicht im Extrembereich. Dagegen lag nach Abbildung 1 der wissenschaftlichen Begründung zur BK 4115 der 90-Perzentil-Wert, der schon mit Blick auf den Median von 1,6 mg/ extreme Bedingungen anzeigt, für das Lichtbogenhand- und Schutzgasschweißen bei 5,5 mg/ und überstieg den heutigen ASGW damit um das 4,4fache. Es erscheint daher - jedenfalls aus heutiger Sicht - gerechtfertigt, ab einer Schweißrauchkonzentration von 5,5 mg/ von Extrembedingungen auszugehen. Die arbeitstechnischen Voraussetzungen sind somit erfüllt, sobald der Versicherte mindestens zehn Jahre bzw 15 000 Stunden lang einer Schweißrauchbelastung von 5,5 mg/ oder mehr ausgesetzt gewesen ist. Für intensives Lichtbogenhandschweißen kann eine vierstündige Lichtbogenbrenndauer pro Arbeitstag unterstellt werden. Teilt man die erforderliche Anzahl von 15 000 Stunden durch 4 Stunden pro Arbeitstag, so muss ein Schweißer insgesamt 3750 Stunden (: 220 Arbeitstage/pro Jahr = 17 Jahre) gegenüber Schweißrauchen im Umfang des 90-Perzentil-Werts von durchschnittlich 5,5 mg/ exponiert gewesen sein, um die arbeitstechnischen Voraussetzungen (extreme und langjährige Einwirkungen) zu erfüllen. Hat er in engen Räumen (hier: Kastenprofilen) geschweißt, so ist davon auszugehen, dass er dies pro Arbeitstag höchstens 2 Stunden lang aushalten konnte, wobei noch eine Stunde für die Nahtvor- und - nachbearbeitung abzuziehen wäre, sodass nur eine Stunde reine Schweißarbeit in engen Räumen berücksichtigt werden könnte. Die 15 000 Stundengrenze wäre danach erst nach 15 000 Tagen (: 220 Arbeitstage/pro Jahr = 68 Jahren) erreicht und von keinem Schweißer je zu erfüllen. Hieraus folgt für den Senat, dass auf die Zehnjahresgrenze jeder Tag anzurechnen ist, an dem der Betroffene - wenn auch nur kurzzeitig - einer extremen Schweißrauchbelastung von 5,5 mg/ oder mehr ausgesetzt war. Für die Frage, ob die Einwirkungen mit lungengängigen Schweißrauchen und -gasen "extrem" waren, sind also entgegen dem Revisionsvorbringen nicht die räumlichen Umgebungsbedingungen entscheidend, sondern es kommt auf die Höhe der Schweißrauchkonzentration in der Atemluft an, deren 90-Perzentil-Wert, der Extrembedingungen anzeigt, für das Lichtbogenhandschweißen mindestens 5,5 mg/ beträgt und an "uneingeschränkt" bzw "optimal belüfteten" Arbeitsplätzen ermittelt worden ist, dh gerade außerhalb beengter Räume. Für diesen Wert kommt es - entgegen der Revision - auch nicht darauf an, ob es sich bei dem Versicherten um einen sog "bystander" gehandelt hat. Nach dem arbeitstechnischen Sachverständigengutachten ist der Versicherte gegenüber Schweißrauchen und -gasen unter Extrembedingungen in diesem Sinne insgesamt 170 Monate (= 14 Jahre) exponiert gewesen. Damit erfüllt er die aufgezeigten arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine extreme und langjährige Einwirkung iSd BK Nr 4115 ohne Weiteres.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 9/21.

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