Verhandlung B 2 U 11/19 R
Unfallversicherung - Berufskrankheit - Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösemittel oder deren Gemische
Verhandlungstermin
16.03.2021 11:00 Uhr
Terminvorschau
P. G. ./. BG Energie Textil Elektro Medienerzeugnisse
Der Kläger begehrt die Anerkennung einer Berufskrankheit (BK) nach Nr 1317 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV: Polyneuropathie oder Enzephalopathie durch organische Lösemittel oder deren Gemische).
Der Kläger arbeitete ua als Buchdrucker bei einer Zeitung und als Maschinenführer in der Fertigung von Zigarettenpackungen an Druckmaschinen. Die Beklagte ermittelte wegen des Umgangs des Klägers mit Druckfarben und Lösungsmitteln und holte ua einen Befundbericht von Dr. B. ein. Dr. B. bescheinigte 2002 eine handschuh- und sockenförmige Hypästhesie und Hyperpathie, "also Polyneuropathie" und erstattete 2003 eine BK-Anzeige. Die Beklagte lehnte im Jahre 2003 die Anerkennung einer BK Nr 1317 bestandskräftig ab. In einem nachfolgenden Rentenverfahren bei der Deutschen Rentenversicherung wurde dem Kläger durch gerichtlichen Vergleich eine Rente wegen voller Erwerbsminderung ab 1.11.2007 zuerkannt. In dem Rentenverfahren hatte Dr. R. 2006 und 2008 eine geringe Polyneuropathie befundet und Dr. A. 2009 eine axional demyelisierende sensomotorische Neuropathie bei deutlich progredienter Polyneuropathie festgestellt, die seit mindestens Anfang 2005 bestehe. Der Kläger stellte sodann 2009 einen Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X betreffend die BK Nr 1317, den die Beklagte nach Durchführung weiterer Ermittlungen ablehnte. Das SG hat nach Einholung von Sachverständigengutachten ua bei Prof. Dr. S. und Prof. Dr. B.-A. die Klage abgewiesen. Das LSG hat die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung seines Urteils ausgeführt, die Voraussetzungen einer BK Nr 1317 lägen nicht vor. Grundsätzlich müsse ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Exposition und dem Krankheitsbeginn bestehen, weil sich die Krankheit während oder kurz nach der beruflichen Exposition entwickle. Ein längeres Intervall zwischen letzter Exposition und Krankheitsbeginn sei toxikologisch nicht plausibel. Langfristig komme es zu einer Rückbildung der Symptomatik, wobei nur im Einzelfall bei anfangs schwer Erkrankten auch Reststörungen persistieren könnten. Eine BK Nr 1317 liege weder in Form einer Polyneuropathie noch einer Enzephalopathie vor, weil bei Ende der Exposition im Jahr 2006 beide Krankheitsbilder noch nicht gesichert gewesen seien. Die Ausführungen des Gutachters B.-A. beruhten auf einer unbelegten "These" des Dr. B. aus dem Jahr 2002. B.-A. blende aus, dass sich nach Expositionsende das Krankheitsbild weiter entwickelt habe bzw gar erst entstanden sei. Insofern seien die Ausführungen anderer Gutachter überzeugend, dass von einem Vollbeweis des Krankheitsbildes erst nach Ende der Exposition auszugehen sei. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit des Zusammenhangs zwischen Exposition und Erkrankung bestehe deshalb nicht, zumal auch Konkurrenzursachen vorlägen.
Mit seiner Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 9 Abs 1 SGB VII iVm BK Nr 1317. Das Urteil des LSG beruhe zudem auf einer Verletzung des § 103 SGG sowie des Art 103 Grundgesetz (GG) iVm § 62 SGG.
Vorinstanzen:
Sozialgericht für das Saarland - S 3 U 181/11,19.05.2016
Landessozialgericht für das Saarland - L 7 U 26/16, 06.02.2019
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Terminbericht
Die zulässige Revision des Klägers war im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung durch den Senat nicht aus. Weder lässt sich beurteilen, welchen versicherten Einwirkungen iS der BK 1317 der Kläger im Einzelnen ausgesetzt gewesen ist, noch welche Erkrankungen iS der BK 1317 beim Kläger zu welchem Zeitpunkt vorgelegen haben. Der Senat kann auch nicht entscheiden, ob die noch genau zu benennende Exposition nach dem neuesten Stand der medizinischen Wissenschaft geeignet war, die ebenfalls noch genau zu ermittelnden Erkrankungen zu verursachen.
Den Feststellungen des LSG lässt sich nicht hinreichend entnehmen, welchen Einwirkungen iS der BK Nr 1317 der Kläger bei seinen Beschäftigungen ausgesetzt war. Das LSG hat lediglich eine Auflistung von Gutachten und Stellungnahmen, meistens in indirekter Rede, wiedergegeben. Das BSG nach § 163 SGG bindende tatrichterliche Feststellungen erfordern jedoch eine eigene Entscheidung des LSG, dass es die entscheidungserheblichen Tatsachen selbst als wahr ansieht. Es genügt deshalb nicht, die Darstellung der Beteiligten oder die Aussagen von Zeugen und Sachverständigen wörtlich zu referieren. Entscheidend ist, dass das Gericht die Aussagen bewertet und mitteilt, welche Angaben es für wahr und welche gutachtliche Äußerung eines Sachverständigen es aus welchen Gründen für überzeugend hält und deshalb seiner rechtlichen Beurteilung zugrunde legt. Ebenso wenig lässt sich den Feststellungen des LSG entnehmen, ob bei dem Kläger überhaupt eine, und wenn ja welche, der beiden tatbestandlich vorausgesetzten Erkrankungen Polyneuropathie oder Enzephalopathie vorliegt. Die Entscheidung des LSG lässt lediglich erkennen, dass sich nach Expositionsende "das Krankheitsbild" weiter entwickelt habe bzw gar erst entstanden sei. Auch hierzu werden nur die Ausführungen der Sachverständigen in indirekter Rede wiederholt. Die Feststellungen des LSG reichen schließlich auch nicht aus, um beurteilen zu können, ob es die erforderliche Kausalität zwischen Einwirkungen und Erkrankung zu Recht abgelehnt hat. Bei der BK Nr 1317 bedeutet dies, dass entweder eine Polyneuropathie oder/und eine Enzephalopathie durch organische Lösungsmittel oder deren Gemische verursacht worden sein muss. Vorliegend kann der Senat nicht entscheiden, ob im Fall des Klägers die arbeitstechnischen Voraussetzungen für eine positive Kausalitätsbeurteilung überhaupt vorliegen und ob das LSG zu Recht den ursächlichen Zusammenhang zwischen Exposition und Erkrankung verneint hat. Eine wissenschaftlich begründete Ursachenbeurteilung erfordert, dass neben den vorliegenden Gesundheitsstörungen klar festgestellt wird, worin das oder die schädigenden Ereignisse lagen. Das LSG wird zu beachten haben, dass bei der BK Nr 1317 keine Dosis-Wirkungsbeziehungen durch den aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand belegt sind und deshalb keine sichere Dosis benannt werden kann. Insofern spricht die in den Urteilsgründen wiedergegebene beratungsärztliche Äußerung, dass nur eine gelegentliche Exposition gegenüber organischen Lösungsmitteln bestanden hätte, aber eine dauerhaft über "den Grenzwerten" bestehende nirgends gesichert sei, nicht gegen ein Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen in einem die Erkrankungen einer Polyneuropathie oder Enzephalopathie erzeugenden geeigneten Ausmaß. Ebenso wenig ist der Senat in der Lage zu beurteilen, ob das LSG den ursächlichen Zusammenhang zwischen schädigender Einwirkung und Erkrankung zu Recht als nicht wahrscheinlich verneint hat. Das LSG hat hierzu ausgeführt, dass die Entwicklung der Erkrankung für eine Berufskrankheit untypisch sei, weil von einem "Vollbeweis des Krankheitsbildes" erst nach Ende der Exposition auszugehen sei. Dem kann in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden, denn ein Auftreten des relevanten Krankheitsbildes nach dem Ende der Exposition schließt ein Vorliegen der BK Nr 1317 nach dem aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand nicht von vornherein aus. Gegen das vom LSG zugrunde gelegte Kriterium bestehen zwar keine grundsätzlichen Bedenken, weil dieses Kriterium sowohl in dem grundlegend korrigierten Merkblatt zur BK Nr 1317 aus dem Jahre 2005 als auch im BK-Report 1/2018 Erwähnung findet. Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass einerseits die versicherten Einwirkungen festgestellt werden und von deren Ausmaß ausgegangen wird und dass andererseits die konkrete Erkrankung und der Zeitpunkt ihres Entstehens festgestellt werden. Insofern hätte das LSG diese Möglichkeit einer späteren Entstehung oder Mitverursachung des Krankheitsbildes der Polyneuropathie bzw Enzephalopathie kritisch würdigen und in seine Beurteilung, die wiederum eine Festlegung hinsichtlich des genauen Zeitpunktes des Expositionsendes und der Entstehung bzw Diagnose der Erkrankungen vorausgesetzt hätte, mit einfließen lassen müssen. Dabei wird das LSG auch zu würdigen haben, dass es im Tatbestand seiner Entscheidung Gutachten aus dem beigezogenen Rentenverfahren im Indikativ wiedergibt, nach denen eine Polyneuropathie bei dem Kläger seit mindestens Anfang 2005, also kurz vor Ende der Beschäftigung bestanden habe. In den Entscheidungsgründen werden sodann diese Gutachten nicht mehr erwähnt bzw berücksichtigt, obwohl das LSG tragend auf den Zeitpunkt der Entstehung/Diagnose der Erkrankung abgestellt hat.
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