Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 KR 14/19 R

Krankenversicherung - häusliche Krankenpflege - ambulant betreute Wohngruppe

Verhandlungstermin 26.03.2021 11:00 Uhr

Terminvorschau

Unbekannte Rechtsnachfolger der A. B. ./. AOK Bayern, beigeladen: Pflegekasse bei der AOK Bayern
In dem Verfahren stehen Kosten für häusliche Krankenpflege (HKP) in einer ambulant betreuten Wohngruppe im Streit.

Die 1932 geborene, seit 2000 unter Betreuung stehende und während des Revisionsverfahrens verstorbene Versicherte war bei der beklagten Krankenkasse und der beigeladenen Pflegekasse versichert. Sie litt ua an Demenz, essentieller Hypertonie und Diabetes mellitus mit multiplen Komplikationen sowie einem Tremor. Nach einem Pflegegutachten der Beigeladenen war sie Analphabetin und seit ihrer Geburt etwas debil. Seit März 2015 lebte die Versicherte mit elf weiteren pflegebedürftigen Personen aufgrund gesonderter Mietverträge in einer anerkannten ambulant betreuten Wohngemeinschaft nach dem Bayerischen Pflege- und Wohnqualitätsgesetz. Die Bewohner beauftragten gemeinschaftlich eine Person mit organisatorischen, verwaltenden, betreuenden und das Gemeinschaftsleben fördernden Aufgaben und wählten entsprechend ihrer Gremiumsvereinbarung ebenfalls gemeinschaftlich Dienstleister für hauswirtschaftliche Aufgaben und Leistungen der psychosozialen Betreuung und Begleitung aus. Die Betreuungsleistungen erfolgten im Rahmen einer 24-stündigen Anwesenheit eines Mitarbeiters des Pflegedienstes in der Wohngemeinschaft. Die Versicherte selbst beauftragte einen Pflegedienst für ihre pflegerische Versorgung. Von der Beigeladenen erhielt sie Sachleistungen bei häuslicher Pflege bis zur Höchstgrenze nach § 36 SGB XI, zuletzt nach dem Pflegegrad 3, zusätzliche Entlastungsleistungen in häuslicher Pflege nach § 45b SGB XI sowie den Wohngruppenzuschlag nach § 38a SGB XI.

Auf eine ärztliche Folgeverordnung über Leistungen der HKP in Form von täglich drei Medikamentengaben für die Zeit vom 1.1. bis 31.3.2019 bewilligte die Beklagte dies wie beantragt bis zum 31.1.2019 und ab dem 1.2.2019 nur das Richten der Medikamente in einem Wochendispenser. Die verordneten Leistungen rechneten zur einfachsten Behandlungspflege und seien durch das in der ambulant betreuten Wohngemeinschaft präsente Personal unentgeltlich zu erbringen (Bescheid vom 25.1.2019; Widerspruchsbescheid vom 22.3.2019).

Das SG hat den Bescheid vom 25.1.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22.3.2019 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Versicherte von den HKP-Kosten vom 1.2. bis 31.3.2019 iHv 633,66 Euro freizustellen (Urteil vom 18.6.2019). Das LSG hat die vom SG zugelassene Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 20.8.2019): Die Versicherte habe Anspruch auf Freistellung von den Kosten der Medikamentengabe auch in der ambulant betreuten Wohngruppe. Diese sei ein geeigneter Ort iSv § 37 Abs 2 SGB V und dem Freistellungsbegehren stehe kein vorrangiger Anspruch auf Hilfe bei der Einnahme der Medikamente gegen in der Wohngruppe tätige Personen oder Dienste entgegen.

Die Beklagte rügt mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision die Verletzung von § 37 Abs 2 SGB V und § 1 Abs 5 HKP-RL. Die Maßstäbe des BSG für die Erbringung von HKP in Einrichtungen der Eingliederungshilfe, nach denen diese zur Erbringung einfachster Maßnahmen der Behandlungspflege selbst verpflichtet seien, würden auch für neue Wohnformen gelten, die im Ergebnis einem stationären Setting mit Rundumversorgung entsprächen wie hier. Ein Anspruch zulasten der GKV habe nicht bestanden.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Landshut - S 4 KR 235/19, 18.06.2019
Bayerisches Landessozialgericht - L 5 KR 403/19, 20.08.2019

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 15/21.

Terminbericht

Die Revision war erfolglos. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Versicherte von der Beklagten in der ambulant betreuten Wohngruppe Leistungen für eine dreimal tägliche Medikamentengabe als einfachste Leistung der häuslichen Krankenpflege beanspruchen konnte und von den Kosten dieser Versorgung freizustellen war.

Ambulante Leistungen der Behandlungssicherungspflege haben die Krankenkassen über den Haushalt der Versicherten und ihrer Familie hinaus an jedem Ort zu erbringen, der dazu "sonst geeignet" im Sinne von § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V ist. Außer stationären Pflegeeinrichtungen nach § 71 Abs 2 SGB XI und Einrichtungen der stationären medizinischen Versorgung kann das nach der Rechtsprechung des Senats jede Einrichtung sein, in der sich ein Versicherter auf unabsehbare Zeit aufhält und in der die Pflegemaßnahme qualitativ ordnungsgemäß erbracht werden kann, soweit kein Anspruch auf ihre Erbringung durch die Einrichtung selbst besteht. Das hat das LSG frei von Rechtsfehlern auch für die hier streitbefangene einfachste Behandlungspflege ausgeschlossen, weil weder der Mietvertrag noch die Verträge der Bewohner untereinander oder mit von ihnen beauftragten Leistungserbringern der Versicherten Anspruch darauf vermittelten, durch eine der in der Wohngruppe anwesenden oder für deren Mitglieder tätigen Personen dreimal täglich die notwendige Hilfe bei der Einnahme ihrer Medikamente zu erhalten, ohne dass es dazu eines gesonderten Auftrags durch sie selbst bedurft hätte. Dass das LSG dabei revisionsrechtlich zu beachtende Grenzen der Vertragsauslegung verkannt haben könnte, macht die Beklagte nicht geltend und ist auch sonst nicht ersichtlich.

Grenzen der möglichen Gestaltung ambulant betreuter Wohngruppen verletzt dies nicht. Nach der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen gesetzlicher Krankenversicherung und sozialer Pflegeversicherung bei ambulanter Versorgung können Versicherte Leistungen der Behandlungspflege als häusliche Krankenpflege einschließlich der einfachsten Maßnahmen auch dann beanspruchen, wenn sie zugleich ambulante Pflegeleistungen im Rahmen der sozialen Pflegeversicherung beziehen. Das hat der Gesetzgeber bei Einführung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs durch die Ergänzung von § 13 Abs 2 SGB XI um dessen Satz 2 jüngst ausdrücklich bekräftigt und das gilt nach den Gesetzesmaterialien auch, soweit in die Pflege-begutachtung nach § 14 Abs 2 Nr 5 lit a SGB XI seither auch die Bewältigung von und der selbstständige Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen in Bezug ua auf Medikation eingehen sollen. Das ändert sich auch dann nicht, wenn mehrere Pflegeversicherte Leistungen der häuslichen Pflegehilfe gemeinsam in Anspruch nehmen. Diese Möglichkeit besteht seit 2008 zunächst gemäß § 36 Abs 1 Satz 5 und nunmehr § 36 Abs 4 Satz 4 SGB XI explizit mit dem Ziel, bei ambulanter Versorgung durch das "Poolen" von Leistungsansprüchen im Interesse der Pflegebedürftigen eine wirtschaftlichere Versorgung mit Pflegeleistungen zu ermöglichen und dadurch im Ergebnis die ungedeckten Pflegekosten der Beteiligten geringer zu halten. Diesem Regelungsziel widerspricht es nicht, wenn Versicherte die Inanspruchnahme gemeinsam abgerufener häuslicher Pflegehilfe vertraglich auf die Leistungszwecke des SGB XI beschränken und sich hinsichtlich der Behandlungspflege - auch der einfachsten Art - gegenseitig auf die Geltendmachung ihrer Ansprüche nach § 37 Abs 2 SGB V verweisen.

Diese Gestaltung ist im Verhältnis zur Beklagten entgegen ihrem Vorbringen nicht deshalb unbeachtlich, weil die Versorgung der Pflegebedürftigen in der Wohngruppe hier ihrer Art nach als vollstationär zu qualifizieren wäre. Die Grenze zwischen ambulanter und stationärer Pflegeversorgung iS des SGB XI verläuft nach dessen § 38a Abs 1 Satz 1 Nr 4 Halbsatz 1 dort, wo ein Anbieter der Wohngruppe oder ein Dritter den Pflegebedürftigen "Leistungen anbietet oder gewährleistet, die dem im jeweiligen Rahmenvertrag nach § 75 Abs 1 SGB XI für vollstationäre Pflege vereinbarten Leistungsumfang weitgehend entsprechen". Abgrenzungsrelevant ist danach weniger die rechtliche und/oder personelle Gestaltung auf der Anbieterseite als der Umfang der den Pflegebedürftigen zu gewährleistenden Leistungen. Dass die Versicherte eine in diesem Sinne weitgehend einer vollstationären Versorgung entsprechende Betreuung beanspruchen konnte, ist nicht zu erkennen. Dagegen spricht zudem, dass sie im Streitzeitraum Leistungen bei häuslicher Pflege einschließlich des Wohngruppenzuschlags nach § 38a SGB XI bezogen hat und die Versorgung damit von der Beigeladenen implizit als ambulant qualifiziert worden ist.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 15/21.

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