Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 5/19 R

Pflegeversicherung - Pflegegeld - Benachrichtigungspflicht - Krankenhaus - sozialrechtlicher Herstellungsanspruch

Verhandlungstermin 17.06.2021 12:00 Uhr

Terminvorschau

F. ./. BARMER - Pflegekasse
Im Streit steht die Zahlung von Pflegegeld von Juli 2013 bis Oktober 2014.

Der 2003 geborene, bei der Beklagten pflegeversicherte Kläger wurde im Mai 2013 wegen eines bösartigen Hirntumors operiert und erhielt anschließend Bestrahlung und Chemotherapie (24. bis 28.6.2013, 17. bis 19.7.2013 und 5. bis 8.8.2014). In Zeiten zwischen den weiteren Behandlungen und danach wurde er zuhause von seinen Eltern betreut und gepflegt. Die Krankenkasse versorgte ihn ab August 2013 mit einem Rollstuhl und gewährte den Eltern bis September 2014 Leistungen für Haushaltshilfe. Auf den im Anschluss an eine Reha-Maßnahme mit erstmaligen Hinweisen auf deren mögliche Leistungspflicht im November 2014 bei der Beklagten gestellten Antrag gewährte diese dem Kläger ab diesem Monat Pflegegeld nach der Pflegestufe I, lehnte einen früheren Leistungsbeginn unter Verweis auf den Zeitpunkt der Antragstellung aber ab. Dass seine Eltern erst im Rahmen der Reha-Maßnahme von dieser Möglichkeit Kenntnis erlangt hätten, sei unbeachtlich; auf die nach Feststellung des MDK bereits seit Juli 2013 bestehende Pflegebedürftigkeit komme es daher nicht an (Bescheid vom 23.12.2014 und Teilabhilfebescheid vom 18.3.2015; Widerspruchsbescheid vom 28.10.2015).

Das SG hat die Klage auf Pflegegeld bereits ab Juli 2013 abgewiesen (Urteil vom 23.6.2017). Das LSG hat die Beklagte nach weiterer Beweisaufnahme unter sinngemäßer Aufhebung des Urteils des SG und Änderung der ergangenen Bescheide antragsgemäß verurteilt: Der Kläger sei (spätestens) seit Juli 2013 pflegebedürftig gewesen und habe durchgehend die Voraussetzungen der Pflegestufe I erfüllt. Die spätere Antragstellung stehe der Leistungsgewährung ab Juli 2013 nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs nicht entgegen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, dass das behandelnde Krankenhaus seine Benachrichtigungspflicht aus § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI verletzt habe, was der Beklagten zuzurechnen sei. Der Kläger sei im Juni 2013 mindestens sich abzeichnend pflegebedürftig gewesen. Es sei davon auszugehen, dass seine Eltern bei entsprechender Beratung durch das Krankenhaus ihre Einwilligung zur Benachrichtigung der Pflegekasse erteilt und auf deren Aufklärung umgehend Pflegeleistungen beantragt hätten (Urteil vom 22.11.2018).

Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI. Die Verletzung einer Benachrichtigungspflicht hiernach durch ein Krankenhaus sei ihr nicht als Pflichtverletzung im Rahmen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs zuzurechnen. Die Norm sei kein Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs 2 BGB, sondern eher ein programmatischer Appell. Zwischen den dort angeführten Leistungserbringern und ihr bestehe keine Funktionseinheit im Sinne eines arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Ein Krankenhaus sei weder Leistungsträger nach dem SGB XI noch Behörde.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Köln - S 27 P 229/15, 23.06.2017
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 5 P 86/17, 22.11.2018

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 23/21.

Terminbericht

Die Revision war erfolglos. Zutreffend hat das LSG entschieden, dass die Eltern des Klägers im Krankenhaus unzureichend über mögliche Leistungen der Pflegeversicherung im Anschluss an die Tumorbehandlung ihres Sohnes beraten worden sind und die verspätete Antragstellung deshalb nicht seinem Begehren entgegensteht, Pflegegeld seit Eintritt der Pflegebedürftigkeit ab Juli 2013 zu erhalten.

Anspruch auf Pflegegeld besteht regelmäßig erst vom Monat der Antragstellung an. Eine verspätete Antragstellung ist nach den Grundsätzen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs aber dann unschädlich, wenn Versicherte von der Pflegekasse nicht ausreichend über mögliche Leistungen im Pflegefall beraten worden sind und deshalb eine rechtzeitige Beantragung von Pflegeleistungen unterlassen haben. Das gilt vergleichbar, wenn in einem Krankenhaus über mögliche Ansprüche auf Pflegeleistungen im Anschluss an eine stationäre Versorgung unzureichend beraten worden ist, obwohl dazu objektiv Anlass bestanden hat. Das berührt nicht nur für die Pflegeversicherung grundsätzlich unbeachtliche Pflichten im Verhältnis zwischen Krankenhaus und Patient. Vielmehr haben die Krankenhäuser insoweit (auch) sozialrechtliche Informations- und Beratungspflichten, deren Verletzung sich die Pflegekassen wie eigene Beratungsfehler zurechnen lassen müssen.

Krankenversicherungsrechtliche Grundlage dessen sind die 2007 und 2012 eingeführten und seither sukzessive näher ausgeformten Vorschriften über das Versorgungs- und Entlassmanagement im Krankenhaus nach (im hier maßgeblichen Zeitraum) § 11 Abs 4 Satz 1 sowie § 39 Abs 1 Satz 4 SGB V (nunmehr § 39 Abs 1a Satz 1 SGB V). Hiernach haben Versicherte Anspruch allgemein auf ein Versorgungsmanagement und umfasst die Krankenhausbehandlung im Besonderen ein Entlassmanagement zur Lösung von Problemen beim Übergang in die verschiedenen Versorgungsbereiche bzw nach der Krankenhausbehandlung. Als Nebenleistung zur eigentlichen Behandlung können die Versicherten danach als Leistung der Krankenversicherung grundsätzlich alle Maßnahmen beanspruchen, die sicherstellen sollen, dass die Versorgung, auf die sie Anspruch haben, sie auch tatsächlich erreicht und wirksam wird. Zu erfüllen sind diese Ansprüche von den Krankenkassen mittels der beteiligten Leistungserbringer, die für eine sachgerechte Anschlussversorgung sorgen und von den Krankenkassen zu unterstützen sind (§ 11 Abs 4 Satz 2 und 3 SGB V; vgl zum Gesamten BSG vom 8.10.2019 - B 1 A 3/19 R - BSGE 129, 156 = SozR 4-2500 § 11 Nr 6, RdNr 19 ff, 24).

Verstöße gegen die hiernach vom Krankenhaus zu erfüllenden Informations- und Beratungs- pflichten muss sich eine Pflegekasse nach Regelungszweck und -systematik der Vorschriften zum Versorgungs- und Entlassmanagement wie eigene Beratungsfehler zurechnen lassen, soweit die Inanspruchnahme von Leistungen der Pflegeversicherung betroffen ist. Die Pflegekassen sind zusätzlich zu Beratung und Auskunft (§§ 14 und 15 SGB I, § 7 Abs 2 Satz 1 SGB XI) schon nach den allgemeinen Vorschriften verpflichtet, darauf hinzuwirken, dass jeder Versicherte die ihm zustehenden Leistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält (§ 17 Abs 1 Nr 1 SGB I). Um das in der vom Gesetzgeber angestrebten frühzeitigen Weise für einen nahtlosen Übergang zur Pflege insbesondere im häuslichen Bereich zu ermöglichen (vgl BT-Drucks 12/5262 S 91 f), sind Krankenhäuser und andere Leistungserbringer bereits bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung verpflichtet worden, mit Einwilligung der Versicherten unverzüglich die zuständige Pflegekasse zu benachrichtigen, wenn sich der Eintritt von Pflegebedürftigkeit abzeichnet oder wenn Pflegebedürftigkeit festgestellt wird (§ 7 Abs 2 Satz 2 SGB XI). Mit den Regelungen zum Versorgungs- und Entlassmanagement hat der Gesetzgeber diese Informations- und Beratungspflichten der Sache nach weiter ausgeformt und explizit zu einem Beratungsverfahren und Managementauftrag weiterentwickelt, das in Fällen des Übergangs von der stationären Krankenbehandlung in die pflegerische Versorgung für eine regelhafte Einbindung der Krankenhäuser in den Beratungsauftrag der Pflegekassen sorgen soll und auf dessen ordnungsgemäße Erfüllung die Versicherten in gleicher Weise Anspruch haben wie auf die Beratung durch die Pflegekassen selbst. Jedenfalls damit sind die Krankenhäuser insoweit vom Gesetzgeber im Sinne der Rechtsprechung zum Herstellungsanspruch partiell derart "arbeitsteilig" in die Aufgabenerfüllung der Pflegekassen eingebunden worden, dass Beratungsfehler diesen wie eigene zuzurechnen sind.

Von einem solchen Beratungsfehler ist das LSG nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und den Senat deshalb bindenden Feststellungen hier zutreffend ausgegangen. Die Beratungsleistungen eines Krankenhauses nach dem Versorgungs- und Entlassmanagement haben sich auf alle Folgen zu erstrecken, die - hier bezogen auf einen etwaigen Pflegebedarf - nach Entlassung des Versicherten bei Behandlungsabschluss als möglich erscheinen können. Dazu muss Pflegebedürftigkeit nicht bereits eingetreten sein oder mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald eintreten. Nach dem Zweck des Versorgungs- und Entlassmanagements muss die Beratung vielmehr auch solche nicht fernliegende Komplikationen einbeziehen, die mit der jeweiligen Behandlung typischerweise einhergehen können und auf die Versicherte und Angehörige (vgl § 7 Abs 2 Satz 1 SGB XI) deshalb vorbereitet sein sollten. Dazu rechnete, wie der Beweisaufnahme der Tatsacheninstanzen zu entnehmen ist, hier auch die ‑ aus Sicht des Krankenhauses bei Entlassung des Klägers noch nicht bestehende, aber objektiv nicht untypische ‑ Möglichkeit des Eintritts von Pflegebedürftigkeit, die sich schließlich alsbald nach der Krankenhausentlassung realisiert hat.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 23/21.

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