Verhandlung B 6 KA 1/20 R
Vertragsarztrecht - vertragsärztliche Vergütung - Richtgrößenprüfung - Regressbescheid - Abhilfebescheid - Klagebefugnis
Verhandlungstermin
14.07.2021 10:00 Uhr
Terminvorschau
Dr. F. ./. Beschwerdeausschuss für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung im Land Berlin, 6 Beigeladene
Die Klägerin wendet sich gegen einen Regress für ärztliche Verordnungen.
Im Rahmen einer Richtgrößenprüfung setzte der Prüfungsausschuss gegen die Klägerin, die als Hausärztin an der vertragsärztlichen Versorgung teilnimmt, einen Regress wegen unwirtschaftlicher Verordnungsweise im Jahr 2003 fest. Der dagegen eingelegte Widerspruch hatte teilweise Erfolg. Der Regressbetrag wurde vom beklagten Beschwerdeausschuss auf 50 022,12 Euro festgesetzt. Im anschließenden Klageverfahren rügte die Klägerin ua, dass es an einer wirksamen Richtgrößenvereinbarung als Grundlage für die Festsetzung des Regresses fehlen würde und dass der Beklagte vorliegende Praxisbesonderheiten nur unzureichend berücksichtigt habe. Das SG gab der erhobenen Anfechtungsklage nach dem Inhalt des Tenors statt und hob den angefochtenen Regressbescheid auf (Urteil vom 25.1.2012). In den Entscheidungsgründen brachte das SG allerdings zum Ausdruck, dass es den von der Klägerin geltend gemachten Einwänden nur zu einem geringen Teil folge und dass der Beklagte eine neue Entscheidung unter Berücksichtigung näher bezeichneter Praxisbesonderheiten (in erster Linie bezogen auf eine weitergehende Berücksichtigung der Verordnung von Thrombozytenaggregationshemmern) zu treffen habe.
Dagegen legte allein der Beklagte Berufung ein. Während des Berufungsverfahrens erließ er unter dem 30.3.2012 (Beschluss vom 15.3.2012) einen weiteren Bescheid, mit dem er den Regressbetrag auf 44 463,97 Euro reduzierte. Zur Begründung führte er aus, dass er nach eingehender Beratung und unter Berücksichtigung des Urteils des SG die Verordnung ua von Thrombozytenaggregationshemmern in vollem Umfang als Praxisbesonderheit anerkenne. Der Bescheid werde nach § 96 SGG Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens. Im November 2014, also etwa 2 ½ Jahre nach Erlass des Bescheides vom 30.3.2012, erteilte das LSG den Beteiligten den Hinweis, dass dieser Bescheid nicht entsprechend § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden sei. Es handele sich um einen Abhilfebescheid. Auf Anregung des LSG nahm der Beklagte die Berufung im November 2014 zurück.
Etwa ein weiteres halbes Jahr später, im Mai 2015 erhob die Klägerin gegen den Bescheid vom 30.3.2012 Klage und machte geltend, dass der Regress aus den bereits im vorangegangenen Verfahren geltend gemachten und auch aus weiteren Gründen insgesamt zu Unrecht festgesetzt worden sei.
Das SG hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, dass diese entweder wegen entgegenstehender Rechtskraft des bereits vorliegenden SG-Urteils vom 25.1.2012 oder jedenfalls wegen Versäumung der Klagefrist unzulässig sei. Die Berufung der Klägerin hat das LSG zurückgewiesen. Der Bescheid vom 30.3.2012 sei nicht Gegenstand des damaligen Berufungsverfahrens geworden. Wegen der fehlerhaften Rechtsmittelbelehrung habe die Klagefrist ein Jahr betragen. Diese Jahresfrist habe der Kläger versäumt und auch die Voraussetzungen für eine Wiedereinsetzung lägen nicht vor. Zudem spreche viel dafür, dass die nach mehr als drei Jahren erhobene Klage verwirkt sei. Schließlich seien die für die Klägerin nachteiligen Rechtsauffassungen aus dem Urteil des SG vom 25.1.2012 in Rechtskraft erwachsen. Auch wenn das SG den Beklagten nicht ausdrücklich zur Neubescheidung verpflichtet habe, sei die Entscheidung unter Berücksichtigung der Entscheidungsgründe in diesem Sinne auszulegen. Bezogen auf die nun erstmals vorgetragenen Argumente (Verletzung des Grundsatzes "Beratung vor Regress", ua) sei die Klage jedenfalls unbegründet.
Mit ihrer Revision macht die Klägerin geltend, dass die Erhebung der Klage nicht fristgebunden sei, weil sie mit dem Hinweis auf § 96 SGG fehlerhaft dahin belehrt worden sei, dass ein (selbständiger) Rechtsbehelf nicht gegeben sei. Selbst wenn die Jahresfrist maßgebend wäre, wäre die Klage zulässig, weil der Fristablauf während des vorangegangenen Klageverfahrens gehemmt gewesen sei. Der Bescheid vom 30.3.2012 sei Gegenstand des damaligen Berufungsverfahrens geworden. Für eine Wiedereinsetzung sei vorliegend kein Raum. Das Recht zur Klagerhebung sei nicht verwirkt. Die Klage sei auch begründet. Der Bescheid vom 30.3.2012 verstoße gegen den Grundsatz "Beratung vor Regress" und stehe außerdem im Widerspruch zu Entscheidungen der Beklagten für vorangegangene Jahre. Bezogen auf weitere zu berücksichtigende Praxisbesonderheiten wiederholt und vertieft die Klägerin ihr Vorbringen aus dem vorangegangenen Klageverfahren. Der Beklagte verteidigt das Urteil des LSG. Die erhobene Klage sei verfristet und dem Begehren der Klägerin stehe die Rechtskraft des Urteils des SG Berlin vom 25.1.2012 entgegen.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Berlin - S 87 KA 2509/15, 22.05.2017
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 7 KA 40/17, 13.11.2019
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Terminbericht
Die Revision der klagenden Ärztin bleibt im Ergebnis erfolglos. Die Klage ist aus zwei Gründen unzulässig, sodass das LSG die Berufung der Klägerin zu Recht zurückgewiesen hat.
Der Bescheid des beklagten Beschwerdeausschusses vom 30.3.2012 ist Gegenstand des insoweit noch beim LSG anhängigen Berufungsverfahrens gegen das Urteil des SG vom 25.1.2012 und kann deshalb nicht mit einer neuen Klage angefochten werden. Dieses Berufungsverfahren erledigte sich durch die Berufungsrücknahme des Beklagten nicht vollständig. Der Bescheid des Beklagten vom 30.3.2012, der den Regressbetrag reduzierte, wurde entsprechend § 96 SGG Gegenstand des Berufungsverfahrens. Entgegen der Auffassung des LSG handelte es sich nicht um einen bloßen Ausführungsbescheid, weil der Beklagte damit nicht nur eine vorläufige, vom Ausgang des gerichtlichen Verfahrens abhängige, sondern eine neue endgültige Regelung treffen wollte. Das LSG hatte daher darüber erstinstanzlich "auf Klage" zu entscheiden. Die Klägerin hatte im Übrigen schon im damaligen Verfahren deutlich gemacht, dass sie diesen Bescheid keineswegs als Abhilfebescheid hinnehmen wolle, sodass es für eine (konkludente) Beschränkung des Streitgegenstands keine Grundlage gibt. Die Verpflichtung des LSG, über die Klage zu entscheiden, entfiel nicht mit der Rücknahme der Berufung durch den Beklagten, auch wenn allein dieser Berufung eingelegt hatte. Die Klägerin hatte keine Möglichkeit, gegen den Bescheid vom 30.3.2012, der kraft Gesetzes Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden war, gesondert Klage zu erheben. Die beim LSG anhängige Klage gegen diesen Bescheid konnte sich deshalb auch nicht dadurch erledigen, dass der Beklagte seine Berufung zurücknahm. Damit ist der Bescheid noch immer Gegenstand dieses Berufungsverfahrens.
Die Klage ist im Übrigen auch deshalb unzulässig, weil das Urteil des SG vom 25.1.2012 - soweit es zu Lasten der Klägerin ergangen ist - rechtskräftig wurde. Zwar hob das SG im Tenor den Bescheid des Beklagten auf, sodass sich auf den ersten Blick keine Beschwer der Klägerin ergibt. In der Rechtsprechung des Senats ist jedoch anerkannt, dass der klagende Arzt auch dann beschwert ist, wenn ein Gericht auf eine reine Anfechtungsklage einen Bescheid nicht endgültig aufhebt, sondern die Verpflichtung (aber auch Berechtigung) des Beschwerdeausschusses ausspricht, eine neue Entscheidung zu treffen. Wenn der Arzt sich gegen die Maßgaben wendet, die das Gericht festgelegt hat, weil er entweder eine endgültige Aufhebung erstrebt oder zumindest für ihn günstigere Maßgaben erreichen will, muss er seinerseits das Urteil angreifen. Geschieht das nicht, wird das Urteil zu seinen Lasten rechtskräftig.
So liegen die Dinge hier: Das SG beanstandete in der Sache den ursprünglichen Bescheid nur unter Aspekten, die wirtschaftlich für die Klägerin von untergeordneter Bedeutung waren. Der Beklagte setzte die Maßgaben aus dem Urteil des SG vom 25.1.2012 mit dem Bescheid vom 30.3.2012 in vollem Umfang um. Die Klägerin hatte das Urteil des SG vom 25.1.2012 nicht angefochten, obwohl in den Gründen deutlich ausgeführt war, dass nur Randaspekte zur Aufhebung des Bescheides Anlass gegeben haben und sie mit ihren zentralen Angriffen unterlegen war.
Der Einwand der Klägerin, sie habe sich allein an Tenor und Kostenentscheidung des SG orientiert und deshalb keinen Anlass für ein Rechtsmittel gesehen, greift nicht durch. In der Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes ist anerkannt, dass es je nach Streitgegenstand notwendig sein kann, zur Bestimmung der Reichweite der Rechtskraft neben dem Tenor die Entscheidungsgründe des Urteils heranzuziehen. Hier hat das SG - in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats zur Überprüfung von Bescheiden im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen - konkrete Maßgaben für die Neubescheidung formuliert.
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