Verhandlung B 6 KA 16/20 R
Vertragsarztrecht - vertragspsychotherapeutische Versorgung - psychologische Psychotherapeutin - Asylbewerber
Verhandlungstermin
04.11.2021 09:30 Uhr
Terminvorschau
Kassenärztliche Vereinigung Berlin ./. Berufungsausschuss für Ärzte und Psychotherapeuten, Zulassungsbezirk Berlin, 6 Beigeladene
Zwischen der klagenden KÄV und dem beklagten Berufungsausschuss ist umstritten, ob die zu 1. beigeladene psychologische Psychotherapeutin zur Teilnahme an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung zu ermächtigen ist.
Die Beigeladene ist als psychologische Psychotherapeutin in das Arztregister Berlin eingetragen, bislang aber nicht zur Versorgung von Versicherten der Krankenkassen zugelassen. Im Juni 2017 beantragte sie beim Zulassungsausschuss (ZA) eine Ermächtigung zur ambulanten psychotherapeutischen Versorgung von Empfängern laufender Leistungen nach § 2 AsylbLG, die Folter, Vertreibung oder sonstige schwere Formen von Gewalt erlitten haben. Rechtsgrundlage dafür ist die 2015 im Zuge der starken Zunahme von traumatisierten geflüchteten Personen neu geschaffene Regelung des § 31 Abs 1 Satz 2 Ärzte-ZV.
Der ZA lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die Regelung ziele nach der Begründung des Verordnungsgebers auf die Vermeidung sog Therapieabbrüche ab, solle also nur verhindern, dass Menschen, die unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland schon wegen einer Traumatisierung psychologisch versorgt worden seien, mit Eintritt des Leistungsanspruchs nach § 2 AsylbLG den Behandler wechseln müssen, weil dieser nicht zur Versorgung von Versicherten zugelassen ist. Die Beigeladene habe nicht nachgewiesen, geflüchtete Menschen in den ersten Monaten ihres Aufenthaltes in Deutschland therapeutisch versorgt zu haben.
Hintergrund dieser Auffassung ist, dass Personen, die sich länger als (zunächst) 15 bzw (heute) 18 Monate in Deutschland ohne Abschluss ihres Asylverfahrens aufhalten, nach § 2 AsylbLG in Verbindung mit § 264 Abs 2 SGB V Anspruch auf Versorgung durch eine Krankenkasse haben. Das hat (auch) zur Folge, dass nur zugelassene Leistungserbringer in Anspruch genommen werden dürfen. Dazu gehören die Psychologinnen und Psychologen, die geflüchtete Menschen vor allem in den Aufnahmeeinrichtungen versorgt haben und versorgen, vielfach nicht.
Der beklagte Berufungsausschuss hat auf den Widerspruch der Beigeladenen diese antragsgemäß ermächtigt. Das SG hat die Klage der KÄV dagegen abgewiesen. Nach dem Wortlaut des § 31 Abs 1 Satz 2 Ärzte-ZV sei die Ermächtigung zur Versorgung von traumatisierten Personen nach ihrer Ankunft in Deutschland nicht auf solche Therapeuten beschränkt, die die geflüchteten Menschen schon vor Einsetzen des Anspruchs nach § 2 AsylbLG versorgt hätten. Dass dieser Aspekt in der Begründung der Neuregelung angesprochen worden sei, habe keine Verengung des Anwendungsbereichs der Norm auf diesen Sachverhalt zur Folge.
Mit ihrer vom SG zugelassenen Sprungrevision stützt sich die Klägerin auf die Erwägungen, die den ZA zur Ablehnung des Antrags geführt haben. Im Übrigen sei bei dem weiten Verständnis der Vorschrift, die dem SG-Urteil zu Grunde liege, eine hinreichende gesetzliche Ermächtigung in § 98 SGB V nicht vorhanden, worauf auch die Kassenärztliche Bundesvereinigung schon im Gesetzgebungsverfahren hingewiesen habe.
Vorinstanz:
Sozialgericht Berlin - S 87 KA 175/18, 02.09.2020
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Terminbericht
Die Revision der klagenden KÄV hat keinen Erfolg. Die Entscheidung des beklagten Berufungsausschusses zur Ermächtigung der beigeladenen Psychotherapeutin war rechtmäßig, wie das SG zutreffend entschieden hat.
Rechtsgrundlage ist § 31 Abs 1 Satz 2 Ärzte-ZV. Entgegen der Auffassung der Revision ist nicht Voraussetzung der Ermächtigung, dass die Psychotherapeutin geflüchtete traumatisierte Personen auch schon vor der Übernahme der Behandlungskosten dieser Personen durch eine Krankenkasse nach § 264 Abs 2 SGB V, also in den ersten 15 bzw (heute) 18 Monaten ihres Aufenthalts in Deutschland behandelt hat. Auch wenn der Gesetzgeber durch die Ergänzung des § 31 Abs 1 Ärzte-ZV im Jahr 2015 Therapieabbrüche durch einen Wechsel zu zugelassenen Therapeuten mit Einsetzen des Leistungsanspruchs nach § 2 AsylbLG verhindern wollte, ergibt sich daraus keine die Ermächtigung einschränkende Voraussetzung.
Der Senat schließt sich nicht der Auffassung an, dass sich der Tatbestand des § 31 Abs 1 Satz 2 Ärzte-ZV auf die Vermeidung von Therapieabbrüchen verengt. Er versteht die Regelung auf der Grundlage ihres Wortlautes so, dass generell einem Mangel an fachlich befähigten Psychotherapeuten zur Traumabehandlung geflüchteter Menschen abgeholfen werden sollte. Viele dieser Menschen haben einen akuten Behandlungsbedarf, und der Verweis auf die Inanspruchnahme zugelassener Therapeuten hätte die Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz, die schon unabhängig von den Bedarfen geflüchteter Menschen verbreitet als lang bewertet werden, weiter erhöht. Insoweit hat die Wendung von den "Therapieabbrüchen" auch eine sachliche und nicht nur eine personelle Komponente. Ohne die Erweiterung des Kreises der Behandler über die schon zugelassenen Therapeuten hinaus hätten viele zu lange auf die Weiterführung der begonnenen Traumabehandlung warten müssen, was ihrer Integration entgegen stehen würde. Eine unzulässige Ungleichbehandlung zwischen traumatisierten geflüchteten Menschen und Versicherten, die aus anderen Gründen psychotherapeutisch behandlungsbedürftig sind, liegt darin nicht. Die Folgen von Traumatisierungen bilden ein zulässiges Differenzierungskriterium; auch in anderen Leistungsbereichen stellt der Gesetzgeber für Personen, die Opfer von Gewalttaten geworden sind, ein besonderes Angebot bereit, das sich nicht auf die Inanspruchnahme der zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassenen Psychotherapeuten beschränkt (ua in Traumaambulanzen nach § 37 SGB XIV).
§ 31 Abs 1 Satz 2 Ärzte-ZV hält sich auch in der vom Senat für richtig gehaltenen Auslegung im Rahmen der Ermächtigung des § 98 Abs 1 und Abs 2 Nr 11 SGB V. Das in Nr 11 angesprochene Rechtsinstitut der Ermächtigung ist nicht auf konkret bedarfsabhängige Entscheidungen begrenzt und auch nicht auf Entscheidungen, die im Ermessen der Zulassungsgremien stehen. Die Ergänzungsfunktion der Ermächtigung wird auch dann gewahrt, wenn der Verordnungsgeber seinerseits abstrakt-generell eine Bedarfslage definiert und die Zulassungsgremien von der Prüfung freistellt, ob und in welchem Umfang konkret ein Bedarf gegeben ist. Das ist hier durch die doppelte Beschränkung auf die Gesundheitsstörung (Trauma nach Flucht) und den Status (Bezug nach § 2 AsylbLG) geschehen. Dass damit generell eine zweite Versorgungsschiene neben der Zulassung eröffnet würde, was ohne spezielle gesetzliche Regelung allein über den Tatbestand der Ermächtigung in Nr 11 nicht zulässig wäre, ist für den Senat nicht erkennbar.
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