Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 3/20 R

Pflegeversicherung - Leistungsanspruch - Feststellung - Sozialhilfeträger - Erstattung - Pflegekosten - vollstationäre Einrichtung - Eingliederungshilfe - Prozessführungsbefugnis - Klagebefugnis

Verhandlungstermin 11.11.2021 13:00 Uhr

Terminvorschau

In den Verfahren B 3 P 2/20 R, B 3 P 3/20 R, B 3 P 4/20 R und B 3 P 5/20 R steht im Streit, ob der klagende Sozialhilfeträger die Feststellung von Leistungsansprüchen von Versicherten nach § 43a SGB XI betreiben und - lagen die Anspruchsvoraussetzungen vor - insoweit die anteilige Erstattung von Pflegekosten in vollstationären Einrichtungen der Eingliederungshilfe beanspruchen kann.

Landschaftsverband Westfalen-Lippe ./. Techniker-Krankenkasse - Pflegeversicherung
Bei vergleichbarer Ausgangslage stehen hier die vom Kläger selbst beantragte Kostenbeteiligung der beklagten Pflegekasse wegen der Versorgung einer 1981 geborenen Versicherten für den Zeitraum vom 12.12.2016 bis 12.12.2019 sowie insoweit ein Erstattungsanspruch im Streit. Klage und Berufung gegen die Ablehnung sind wie im Parallelverfahren erfolglos geblieben (Urteile vom 12.12.2018 und 12.12.2019), wogegen sich die auf dieselben Rügen gestützte, vom LSG zugelassene Revision des Klägers richtet.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Münster - S 20 P 635/17, 12.12.2018
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 5 P 11/19, 12.12.2019

Die Vorschau zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 41/21.

Terminbericht

Die Revisionen des Klägers B 3 P 2/20 R, B 3 P 3/20 R, B 3 P 4/20 R und B 3 P 5/20 R waren jeweils im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Zutreffend sieht sich der Kläger berechtigt, die Feststellung von Ansprüchen der Versicherten nach § 43a SGB XI zu betreiben und bei Vorliegen der Voraussetzungen von den Beklagten insoweit Kostenerstattung zu verlangen. Ob dieser Anspruch besteht, kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen.

Treffen bei Menschen mit Behinderungen Ansprüche auf Leistungen der Eingliederungshilfe und der Pflegeversicherung zusammen, sollen die Leistungen grundsätzlich nur von einer Stelle erbracht werden (vgl bereits § 13 Abs 4 SGB XI idF des PflegeVG vom 26.5.1994, BGBl I 1014; nunmehr § 13 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB XI idF des PSG III vom 23.12.2016, BGBl I 3191). Für die Eingliederungshilfe in vollstationären Einrichtungen bzw nunmehr in Räumlichkeiten mit einer weitgehend einer vollstationären Einrichtung entsprechenden Versorgung (vgl § 71 Abs 4 Nr 3 lit c SGB XI) ist das in dem Sinne zwingend, dass die Leistungen auch die Pflegeleistungen umfassen und dort so lange zu erbringen sind, wie die Pflege in diesem Rahmen sichergestellt werden kann (ausdrücklich erstmals § 40a BSHG idF des SGB IX vom 19.6.2001, BGBl I 1046; ab dem 1.1.2005 inhaltsgleich § 55 SGB XII idF des Gesetzes zur Einordnung des Sozialhilferechts in das SGB vom 27.12.2003, BGBl I 3022; nunmehr § 103 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB IX idF des BTHG vom 23.12.2016, BGBl I 3234). Das soll dem Interesse von Menschen mit Behinderungen Rechnung tragen, so lange als möglich in der bekannten Umgebung verbleiben zu können (vgl nur BT-Drucks 14/5074 S 124 zu § 40a BSHG).

Ziel dessen ist aber nicht, die Pflegeversicherung von den Kosten der Pflege Versicherter in vollstationären Einrichtungen oder besonderen Wohnformen der Eingliederungshilfe vollständig freizustellen; so liegt es gemäß § 43a SGB XI gerade nicht. Hiernach übernimmt die Pflegekasse für Pflegebedürftige - ab dem 1.1.2017: solche der Pflegegrade 2 bis 5 - in einer vollstationären Einrichtung der Eingliederungshilfe oder entsprechenden Räumlichkeiten, in der ua die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen im Vordergrund des Leistungszwecks steht, zur Abgeltung der in § 43 Abs 2 SGB XI genannten Aufwendungen 10 vH des insoweit vereinbarten Entgelts, maximal je Kalendermonat 266 Euro (§ 43a SGB XI in der vom 1.1.2015 bis 31.12.2016 geltenden Fassung des PSG I vom 17.12.2014, BGBl I 2222 bzw in der vom 1.1.2017 bis 31.12.2019 geltenden Fassung des PSG II vom 21.12.2015, BGBl I 2424; nunmehr 15 vH gemäß § 43a SGB XI idF des PSG III). Nach der Entstehungsgeschichte soll damit ein Ausgleich dafür bewirkt werden, dass nach der Konzeption des SGB XI in Einrichtungen der vollstationären Eingliederungshilfe und nunmehr entsprechenden Räumlichkeiten Leistungen der Pflegeversicherung nicht erbracht werden (zur Entstehung vgl nur BSG vom 13.3.2001 - B 3 P 17/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 3 S 5 f).

In diesem systematischen Zusammenhang kommt dem Anspruch aus § 43a SGB XI im Verhältnis von Eingliederungshilfeträgern und Pflegekassen Vorrang zu vor der Leistungsverpflichtung der Eingliederungshilfe aus § 55 Satz 1 SGB XII bzw nunmehr § 103 Abs 1 Satz 1 SGB IX. Zwar sind Leistungen der Eingliederungshilfe dem Grundsatz nach nicht nachrangig im Verhältnis zur Pflegeversicherung (§ 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 1 SGB XI). Das schließt abweichende Sonderregelungen aber nicht aus. So liegt es bei § 43a SGB XI. Die Regelung begründet - wie vom LSG ebenfalls angenommen - nach Wortlaut und Regelungssystematik pauschalierte Individualansprüche der Versicherten auf Beteiligung der Pflegekassen an den Pflegekosten in Einrichtungen der Eingliederungshilfe; dafür spricht schon die ausdrückliche Einordnung in den Katalog der "Leistungsarten" der Pflegeversicherung (vgl § 28 Abs 1 Nr 9 SGB XI). Soweit die Eingliederungshilfe nach dem Prinzip der Leistung aus einer Hand "auch die Pflegeleistungen in der Einrichtung" umfasst (§ 55 Satz 1 SGB XII bzw § 103 Abs 1 Satz 1 SGB IX), kann das vor diesem Hintergrund nur als Verpflichtung der Träger der Eingliederungshilfe verstanden werden, im Außenverhältnis zu den Leistungsberechtigten in deren Interesse auch die mit den Mitteln der Pflegeversicherung zu finanzierende Pflege sicherzustellen. Insoweit entsprechen § 55 SGB XII und nunmehr § 103 Abs 1 SGB IX anderen Regelungsmodellen beim Zusammentreffen von Leistungszuständigkeiten unterschiedlicher Träger wie etwa bei § 14 SGB IX.

Dass dagegen im Innenverhältnis insoweit eine gleichrangige Leistungszuständigkeit von Pflegekassen und Eingliederungshilfeträgern für den nach § 43a SGB XI von der Pflegekasse zu übernehmenden Anteil an den von der Eingliederungshilfe getragenen Pflegekosten bestehen könnte, ist nicht anzunehmen; das stünde ersichtlich im Widerspruch zu der mit § 43a SGB XI verfolgten Absicht, die Träger der Eingliederungshilfe mindestens partiell von Aufwendungen zu entlasten, die bei einem Verbleib Pflegebedürftiger in deren Einrichtungen oder entsprechenden Räumlichkeiten entstehen. Materiell kann demgemäß im Verhältnis zwischen Eingliederungshilfe und Versicherten - auch zur Vermeidung unberechtigter Doppelzahlungen - nur der Träger der Eingliederungshilfe die Auszahlung des Pauschalbetrags nach § 43a SGB XI beanspruchen, wenn er - wie mit den Klagen hier geltend gemacht - als Leistung der Eingliederungshilfe in der Vergangenheit die Kosten einer auch pflegerischen Versorgung eines Versicherten getragen hat.

In diesem systematischen Gefüge ist der Träger der Sozialhilfe in dem streitbefangenen Zeitraum auch verfahrensrechtlich berechtigt, den Zahlungsanspruch eines Versicherten nach § 43a SGB XI im eigenen Namen geltend zu machen und ggfs Auszahlung an sich zu verlangen. Ansprüche auf Leistungen der Pflegeversicherung sind antragsabhängig und werden erst ab Antragstellung gewährt (§ 33 Abs 1 Satz 1 und 2 SGB XI). Dazu ist bis zur Einordnung der Eingliederungshilfe in das SGB IX der Sozialhilfeträger jedenfalls auf der gesetzlichen Grundlage des § 95 Satz 1 SGB XII berechtigt, wonach der erstattungsberechtigte Träger der Sozialhilfe die Feststellung einer Sozialleistung betreiben sowie Rechtsmittel einlegen kann. Im Sinne dessen geht ersichtlich schon das SGB XI in den Verfahrensvorschriften zum Zusammentreffen von Pflegeversicherung und Eingliederungshilfe von der Erstattungsberechtigung des im Außenverhältnis allein leistenden Trägers aus. Soweit nämlich nach § 13 Abs 4 SGB XI für ein solches Zusammentreffen im Vertragswege eine Leistung aus einer Hand und eine entsprechende Erstattung zu Gunsten des im Außenverhältnis zuständigen Trägers vereinbart werden sollte bzw nunmehr zu vereinbaren ist (§ 13 Abs 4 SGB XI idF des PflegeVG und nunmehr § 13 Abs 4 Satz 1 SGB XI idF des PSG III), lässt sich das nur verstehen als Auftrag zur vertraglichen Ausgestaltung eines Erstattungsanspruchs, der nach der gesetzlichen Konzeption immer dann gegeben ist, wenn der leistende Träger - nunmehr zwingend die Eingliederungshilfe (§ 13 Abs 4 Satz 1 Nr 1 SGB XI idF des PSG III) - im Außenverhältnis zugleich für den anderen Träger Leistungen erbringt, die dieser im Verhältnis zum Berechtigten ausschließlich selbst zu erbringen hat.

Ob sich damit eine ungeschriebene Antragsbefugnis zu Gunsten des Eingliederungshilfeträgers verbindet, kann für den Zeitraum hier offen bleiben (zur Frage vgl nur Becker in Hauck/Noftz, SGB X, K vor §§ 102 - 114 RdNr 87 ff). Nach dem aufgezeigten Vorrang-Nachrangverhältnis wird ein Träger der Eingliederungshilfe mit der Erbringung von Pflegeleistungen im Sinne von § 43a SGB XI kraft Gesetzes gemäß § 104 SGB X erstattungsberechtigt gegenüber der Pflegekasse und damit nach der Rechtslage bis Ende 2019 zugleich antragsberechtigt nach § 95 SGB XII. Hat eine Pflegekasse bei Pflegebedürftigkeit eines Versicherten ihre Leistungsverpflichtung nach § 43a SGB XI rechtzeitig erfüllt, nämlich durch Zahlung gegenüber dem Einrichtungsträger ihren Anteil an der zwischen diesem und dem Träger der Eingliederungshilfe vereinbarten Vergütung "übernommen" (§ 43a Satz 1 SGB XI), ist der Eingliederungshilfeträger "selbst nicht zur Leistung verpflichtet" im Sinne von § 104 Abs 1 Satz 2 SGB X und daher nach der Wertung von § 104 SGB X nur nachrangig verpflichtet. Das ist in dem systematischen Verhältnis von § 43a SGB XI einerseits und § 55 SGB XII bzw nunmehr § 103 Abs 1 SGB IX andererseits kein Ausdruck des - insofern für die Pflegeversicherung durch § 13 Abs 3 Satz 3 Halbsatz 1 SGB XI ohnehin aufgehobenen - institutionellen Nachrangs der Sozialhilfe ("Systemsubsidiarität"), sondern dem in § 43a SGB XI angelegten Rangverhältnis und dem damit verfolgten Entlastungszweck im Sinne einer "Einzelfallsubsidiarität" zu entnehmen (vgl letztens etwa BSG vom 25.1.2017 - B 3 P 2/15 R - BSGE 122, 239 = SozR 4-3300 § 40 Nr 14, RdNr 18). Insoweit bleibt der Senat bei seiner schon früher ausgesprochenen Rechtsauffassung (BSG vom 13.3.2001 - B 3 P 17/00 R - <juris RdNr 12> sowie BSG vom 28.6.2001 - B 3 P 7/00 R - SozR 3-3300 § 43a Nr 5 <juris RdNr 13 ff>), wofür im Übrigen auch der im Gesetzgebungsverfahren zum PSG III vom Bundesrat eingebrachte - wenn auch nicht weiter verfolgte - Vorschlag und die ihn tragenden Erwägungen sprechen, die Geltung von § 104 SGB X insoweit ausdrücklich anzuordnen (vgl BT-Drucks 18/9959 S 7 f zu 10. lit a).

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 41/21.

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