Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 4/21 R

Vertragsarztrecht - vertragsärztliche Versorgung - Nachvergütung - antrags- und genehmigungspflichtige psychotherapeutische Leistungen - Ausbildungsstätte für Psychotherapie

Verhandlungstermin 26.01.2022 09:30 Uhr

Terminvorschau

W. e.V. ./. AOK - Die Gesundheitskasse für Niedersachsen, und 8 Beigeladene
Der Kläger, Träger einer staatlich anerkannten Ausbildungsstätte für Psychotherapie, begehrt von der Beklagten eine Nachvergütung antrags- und genehmigungspflichtiger psychotherapeutischer Leistungen ab dem Quartal 1/2012. Grundlage der Vergütung ist eine landesweite Vergütungsvereinbarung, die hinsichtlich der zu vergütenden Leistungen und der Höhe der Vergütung auf den Einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) verweist. Der Erweiterte Bewertungsausschuss (EBewA) erhöhte im Jahr 2015 die Punktzahlen für antrags- und genehmigungspflichtige Leistungen rückwirkend zum 1.1.2012 und führte zusätzlich Strukturzuschläge (Gebührenordnungsposition <GOP> 35251, 35252) zu diesen Leistungen ein. Im Jahr 2019 beschloss der Bewertungsausschuss (BewA) eine nochmalige rückwirkende Erhöhung der Punktzahlen. Die Beklagte leistete in 2016 Nachvergütungen nur aufgrund der Erhöhung der Punktzahlen in 2015 und auch nur ab dem Quartal 1/2015. Für die Quartale bis 4/2014 seien die Abrechnungsfristen nach der Vergütungsvereinbarung abgelaufen und Ausbildungsinstitute hätten nach den Bestimmungen des EBM-Ä keinen Anspruch auf Strukturzuschläge.

Das SG hat die vom Kläger im Jahr 2016 erhobene Klage auf Nachvergütung abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das LSG das Urteil des SG geändert und die Beklagte zur Zahlung eines Teilbetrages nebst Zinsen verurteilt. Der Kläger habe Anspruch auf Nachvergütung für das Anfang 2015 abgerechnete Quartal 4/2014 wegen der Punktzahlanhebungen sowie für die Quartale 4/2014 bis 3/2016 wegen der Einführung eines Strukturzuschlages nach den GOP 35251 und 35252. Auch Ausbildungsinstitute hätten Anspruch auf die Strukturzuschläge und zwar ohne die Begrenzung, die sich aus dem Beschluss des BewA vom 11.3.2016 ergebe. Nachvergütungsansprüche für die Quartale 1/2012 bis 3/2014 und wegen der erneuten Punktzahlerhöhungen ab dem Quartal 1/2016 seien in Anlehnung an die Rechtsprechung des 1. Senats des BSG zur vorbehaltlosen Erteilung einer Schlussrechnung über eine Krankenhausbehandlung jedoch verwirkt. Der Kläger habe sich die Nachvergütung aus einer eventuellen Neubewertung der Leistungen, mit der er habe rechnen müssen, mit den erfolgten Quartalsabrechnungen gegenüber der Beklagten nicht vorbehalten.

Sowohl die Beklagte als auch der Kläger haben Revision eingelegt. Die Beklagte wendet sich mit ihrer Revision gegen die vom LSG zugesprochene Vergütung von Strukturzuschlägen ohne Anwendung der Begrenzung gemäß Beschluss des BewA vom 11.3.2016.

Der Kläger verfolgt mit seiner Revision den Anspruch auf Nachvergütung bereits ab dem Quartal 1/2012 weiter. Er rügt die Verletzung von § 242 BGB. Verwirkung sei nicht eingetreten. Die Ansprüche auf Nachvergütung seien erst mit den Beschlüssen des EBewA bzw BewA aus den Jahren 2015 und 2019 rückwirkend entstanden. Im Übrigen fehle es auch an einem Verwirkungsverhalten, da er nach Entstehung der Ansprüche durch sein Verhalten der Beklagten keinerlei Anlass zum Vertrauen darauf gegeben habe, er werde keine Nachvergütungsansprüche geltend machen. Es gehe auch zu weit, die Quartalsabrechnungen eines psychotherapeutischen Ausbildungsinstitutes mit einer vorbehaltlosen Schlussrechnung des Krankenhauses gleichzusetzen.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Hannover - S 61 KA 382/16, 15.11.2017
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 3 KA 89/17, 24.02.2021

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Terminbericht

Die Revision des Klägers hatte Erfolg, die der Beklagten war - abgesehen vom Zinsbeginn für einen geringen Teil der Forderung des Klägers - erfolglos. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Kläger Anspruch auf weitere Vergütung für psychotherapeutische Leistungen hat. Dabei sind die Ansprüche - entgegen der Auffassung des LSG - auch nicht teilweise verwirkt.

Aufgrund der in der Vergütungsvereinbarung enthaltenen dynamischen Verweisung auf den Einheitlichen Bewertungsmaßstab für vertragsärztliche Leistungen (EBM-Ä) in seiner jeweils geltenden Fassung hat der Kläger Anspruch sowohl auf die Vergütung, die sich aus der rückwirkenden Anhebung der Punktzahlen für psychotherapeutische Leistungen in den Jahren 2015 und 2019 ergibt, als auch auf die 2015 rückwirkend eingeführten Strukturzuschläge. Die am 11.3.2016 vom BewA beschlossene Begrenzung des Strukturzuschlags für Psychotherapeuten, die die Grenze der Vollauslastung überschreiten, ist nicht auf Ausbildungsstätten für Psychotherapie zu übertragen. Der Senat hat bereits mit Urteil vom 12.12.2018 (B 6 KA 41/17 R) ausgeschlossen, dass die psychotherapeutischen Ausbildungsinstitute, die regelmäßig mehr Leistungen erbringen, als dem vollen Versorgungsauftrag eines zugelassenen Psychotherapeuten entspricht, in wörtlicher Anwendung der Regelungen des Beschlusses vom 22.9.2015 eine höhere Kompensation als die (in der Kalkulation der psychotherapeutischen GOP nicht mehr enthaltenen) "fiktiven" Personalkosten erhalten. Die vom BewA mit Beschluss vom 11.3.2016 eingeführte Begrenzung des Strukturzuschlages sollte eine Überkompensation bezogen auf die zu berücksichtigenden fiktiven Personalkosten bei zugelassenen Psychotherapeuten verhindern, die ihren vollen oder anteiligen Versorgungsauftrag übererfüllen. Mangels eines zugewiesenen Versorgungsauftrages ist diese Regelung nicht auf Ausbildungsinstitute übertragbar. Die aus dem Senatsurteil vom 12.12.2018 folgende Beschränkung des Strukturzuschlags auf den Berechnungsfaktor 0,5 für Ausbildungsinstitute gilt bei der gebotenen entsprechenden Anwendung des EBM-Ä auch ab dem Quartal 2/2016 weiter.

In Übereinstimmung mit dem LSG geht der Senat davon aus, dass § 7 Nr 5 der Vergütungsvereinbarung der Geltendmachung der Nachvergütungsansprüche nicht entgegensteht. Diese Ansprüche sind auch nicht verwirkt. Der vom LSG befürworteten Übertragung der Rechtsprechung des 1. Senats des BSG zur Verwirkung von Ansprüchen auf Vergütung stationärer Krankenhausbehandlung nach Erteilung einer vorbehaltlosen Schlussrechnung ist für die vorliegende Konstellation nicht zu folgen. Es fehlt an der Schaffung eines Vertrauenstatbestandes durch den Kläger. Zum Zeitpunkt der Abrechnung, die der Kläger innerhalb der vier auf das Leistungsquartal folgenden Quartale vorzunehmen hatte, war ihm nicht bekannt, ob überhaupt, ggf in welcher Höhe und nach welchen Kriterien die Vergütung rückwirkend erhöht werden würde. Eine erste Ankündigung des Erweiterten Bewertungsausschusses datiert aus Dezember 2013 und auch dieser war nur ganz allgemein zu entnehmen, dass die seit 2009 gültige Bewertung ambulanter psychotherapeutischer Leistungen einer Überprüfung unterzogen werde. Insofern hatte der Kläger - wie auch der Beklagten bewusst war - keine Möglichkeit, die Klageforderung bereits im Rahmen der ersten Abrechnung geltend zu machen. Auch der Umstand, dass niedergelassene Psychotherapeuten in der Regel nur dann einen Anspruch auf Nachvergütung haben, wenn sie den Eintritt der Bestandskraft des Honorarbescheides durch die Einlegung von Rechtsbehelfen verhindert haben, steht dem nicht entgegen, weil hier im Verhältnis Krankenkasse Ausbildungsstätte keine Honorarbescheide ergehen.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 1/22.

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