Verhandlung B 5 R 26/21 R
Rentenversicherung - Witwerrente - Einkommensanrechnung - Aufhebungs- und Erstattungsbescheid - Rücknahme - Zugunstenverfahren - Vertrauensschutz
Verhandlungstermin
03.02.2022 10:30 Uhr
Terminvorschau
B. L. ./. Deutsche Rentenversicherung Bund
Die Beteiligten streiten darüber, ob ein Verstoß gegen die Vertrauen schützenden Regelungen in den §§ 45, 48 SGB X im Rahmen eines Zugunstenverfahrens nach § 44 SGB X beachtlich ist.
Die Klägerin führt einen Rechtsstreit ihres Vaters weiter, der seit 1999 eine Witwerrente von der Beklagten bezog. Bei der Einkommensanrechnung berücksichtigte die Beklagte einen erhöhten Freibetrag (§ 97 Abs 2 Satz 2 SGB VI), weil die seinerzeit studierende Klägerin eine Halbwaisenrente bezog. Die Klägerin beendete ihr Studium 2001, was sie der Beklagten mitteilte und was zur Einstellung der Halbwaisenrente führte. Bei Festsetzung des Zahlbetrags der Witwerrente des Vaters berücksichtigte die Beklagte weiterhin den im Hinblick auf die Waisenrente erhöhten Freibetrag. Als sie dies 2014 bemerkte, hob sie die der Witwerrente zugrunde liegenden Bescheide teilweise auf und forderte vom Vater die Erstattung von 4.452,33 Euro. Das entsprach etwa der Hälfte des überzahlten Betrags. Eine Rücknahme des bestandskräftig gewordenen Aufhebungs- und Erstattungsbescheids im Zugunstenverfahren lehnte sie ab.
Das SG hat auf die Klage des Vaters die Beklagte zur Rücknahme des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids verpflichtet. Auf die dagegen von der Beklagten eingelegte Berufung hat das LSG das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Es könne dahinstehen, ob der Vater bei einer fristgerechten Anfechtung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheids mit seinem Vorbringen durchgedrungen wäre, unter Vertrauensschutzgesichtspunkten seien ihm die materiell-rechtlich nicht zustehenden Leistungen vollständig zu belassen. Im Zugunstenverfahren könne er damit nicht mehr gehört werden.
Der Vater ist während des von ihm angestrengten Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde verstorben. Die Klägerin hat das Verfahren fortgesetzt und rügt mit ihrer vom BSG zugelassenen Revision ua eine Verletzung von § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X. Das LSG hätte prüfen müssen, ob in der Person ihres Vaters die subjektiven Tatbestandsmerkmale für eine rückwirkende Aufhebung der Rentenbescheide vorgelegen hätten.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Hannover - S 1 R 945/15, 19.04.2018
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 2 R 375/18, 27.03.2019
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Terminbericht
Der Senat hat auf die Revision der Klägerin das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zurückverwiesen. Ein Verstoß gegen die vertrauensschützenden Regelungen in §§ 45, 48 SGB X ist im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X beachtlich. Ob die teilweise Rücknahme der Rentenbescheide gegenüber dem Vater der Klägerin unter Verstoß gegen vertrauensschützende Regelungen erfolgte, hat das LSG ausgehend von seiner Rechtsauffassung nicht geprüft. Die erforderlichen Feststellungen dazu werden im wiedereröffneten Berufungsverfahren nachzuholen sein.
Als Rechtsgrundlage für die begehrte Aufhebung des bestandskräftigen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides kommt nur § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X in Betracht. Das LSG ist zu Recht davon ausgegangen, dass der Vater der Klägerin ab dem 1.4.2001 keinen Anspruch auf Witwerrente unter Berücksichtigung eines erhöhten Freibetrages mehr hatte. Insofern lagen die Voraussetzungen für eine teilweise Aufhebung der die Witwerrente bewilligenden Bescheide nach § 45 und § 48 SGB X und eine Rückforderung der überzahlten Rente vor. Im Zugunstenverfahren sind indes auch die in den Aufhebungsvorschriften genannten Vertrauensschutzgesichtspunkte zu prüfen. Das BSG hat bereits entschieden, dass das Recht auch dann iS des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X unrichtig angewandt wurde, wenn gegen die auch Vertrauen schützenden Fristenregelungen des § 45 Abs 3 SGB X verstoßen oder das Rücknahmeermessen nach § 45 Abs 1 SGB X nicht ausgeübt wurde. Zur richtigen Rechtsanwendung gehört auch, ob die besonderen Voraussetzungen für eine Aufhebung für die Vergangenheit nach § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X oder § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X vorliegen. Die Rechtmäßigkeit einer Aufhebung beurteilt sich nicht nur danach, ob eine Leistung zu Unrecht gewährt wurde, sondern auch nach den weiteren in den Aufhebungsvorschriften festgelegten Kriterien. Der Gesetzgeber hat damit festgelegt, wann eine zu Unrecht erfolgte Leistungsbewilligung korrigiert werden soll und in welchen Fällen dem Begünstigten die Sozialleistung ungeachtet des Widerspruchs zur materiellen Rechtslage zu belassen ist. Die Regelungen sind das Ergebnis einer gesetzgeberischen Abwägung von Gesichtspunkten materieller Gerechtigkeit, des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit. Soweit der Gesetzgeber in bestimmten Konstellationen dem Vertrauensschutz Vorrang eingeräumt hat, sodass der Begünstigte eine zu Unrecht bezogene Leistung letztlich behalten darf, ist dies auch im Zugunstenverfahren zu beachten.
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