Bundessozialgericht

Verhandlung B 3 P 6/20 R

Pflegeversicherung - Pflegegeld - Pflegebedürftigkeit - Leistungsantrag - altes Recht - neues Recht

Verhandlungstermin 17.02.2022 12:15 Uhr

Terminvorschau

W. ./. DAK-Gesundheit-Pflegekasse
Im Streit steht auf einen 2015 gestellten Antrag noch ein Anspruch auf Pflegegeld für Oktober 2017 bis März 2019.   

Die 1936 geborene Klägerin beantragte im Oktober 2015 bei der beklagten Pflegekasse erfolglos Pflegegeld, da ihr Hilfebedarf von insgesamt 112 Minuten täglich nur zu 35 Minuten auf die Grundpflege entfalle (Bescheid vom 6.4.2016; Widerspruchsbescheid vom 20.10.2016). Im Klageverfahren kam der vom SG bestellte Gutachter im Dezember 2017 zu der Einschätzung, dass nach einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands der Klägerin seit Oktober 2017 von einem täglichen Grundpflegebedarf von 91 Minuten und einem hauswirtschaftlichen Hilfebedarf von 60 Minuten auszugehen sei. Darauf gestützt verurteilte das SG die Beklagte nach Rücknahme der Klage im Übrigen, der Klägerin seit dem 10.10.2017 Pflegegeld nach Pflegegrad 2 zu gewähren. Seither bestehe erhebliche Pflegebedürftigkeit nach dem wegen der Antragstellung vor dem 31.12.2016 für die Begutachtung insoweit noch maßgebenden alten Recht, was in entsprechender Anwendung von § 140 Abs 2 SGB XI einen Anspruch auf Pflegegeld nach Pflegegrad 2 neuen Rechts begründe. Das LSG hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Dem SG sei zwar zu folgen, soweit die Voraussetzungen der Pflegestufe I alten Rechts erst ab dem 10.10.2017 bejaht werden könnten. Die von ihm herangezogene Überleitungsbestimmung gelte jedoch nur, soweit Pflegebedürftigkeit nach altem Recht spätestens Ende 2016 vorgelegen habe. Andernfalls erlaube ein zuvor gestellter Antrag keine Entscheidung über Ansprüche nach neuem Recht, weil er sich mit Außerkrafttreten des alten Rechts wegen der vollständig neu gefassten Anspruchsvoraussetzungen erledigt habe; insoweit habe das SG über einen Streitgegenstand entschieden, den die Klägerin nicht habe geltend machen können. Ein Herstellungsbegehren greife nicht, da die Klägerin trotz eines von der Beklagten im Januar 2018 erteilten Hinweises auf das vom SG eingeholte Gutachten erst im März 2019 erneut einen Leistungsantrag gestellt habe, was schließlich zur Zuerkennung von Leistungen nach dem Pflegegrad 3 ab diesem Zeitpunkt geführt habe .  

Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung von § 140 SGB XI. Dass danach die Beurteilung eines bis zum 31.12.2016 gestellten Leistungsantrags auf der Grundlage des zum Zeitpunkt der Antragstellung geltenden Rechts erfolge, gelte sowohl für die Pflegebedürftigkeit als auch die weiteren Voraussetzungen. 

Vorinstanzen:
Sozialgericht Darmstadt - S 31 P 103/16, 08.03.2019
Hessisches Landessozialgericht - L 6 P 18/19, 24.06.2020

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 6/22.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin war im Sinne der Aufhebung des Berufungsurteils und der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Zutreffend macht die Klägerin geltend, dass Pflegeleistungen auf eine beim Übergang zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff noch anhängige Klage auch ohne erneuten Leistungsantrag zuzuerkennen sein können, wenn die dazu berechtigende Pflegebedürftigkeit erst nach Inkrafttreten des neuen Rechts eingetreten ist. Ob ihr danach Pflegegeld bereits ab Oktober 2017 zusteht, kann der Senat mangels näherer Feststellungen des LSG - nach seiner Rechtsauffassung zu Recht - zu den gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbständigkeit oder Fähigkeiten der Klägerin nach den neuen Pflegekriterien zu diesem Zeitpunkt nicht abschließend beurteilen.

Auf das Übergangsrecht des § 140 SGB XI kann sich dieser Anspruch allerdings nicht stützen; davon ist das LSG zutreffend ausgegangen. Zwar war das Leistungsbegehren der Klägerin auf den Antrag vom Oktober 2015 danach zunächst ausschließlich nach der zu diesem Zeitpunkt geltenden Rechtslage zu beurteilen (§ 140 Abs 1 Satz 1 SGB XI). Rechtsfolgen für die Zeit nach dem 1.1.2017 konnte das allerdings nur haben, soweit spätestens am 31.12.2016 alle Voraussetzungen für einen Anspruch auf eine regelmäßig wiederkehrende Leistung der Pflegeversicherung vorlagen (§ 140 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 1 Nr 2 SGB XI). Nur dann waren zum 31.12.2016 vorliegende Pflegestufen ab dem 1.1.2017 ohne erneute Antragstellung und ohne erneute Begutachtung in einen der Pflegegrade nach neuem Recht überzuleiten (§ 140 Abs 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB XI). Auch den Gesetzesmaterialien zufolge diente das neben der Entlastung von Verwaltung und begutachtenden Stellen ausschließlich dem Schutz solcher Pflegebedürftiger, die “zum Umstellungsstichtag“ (BT-Drucks 18/5926 S 140) am 31.12.2016 anspruchsberechtigt waren. Ergibt die Begutachtung auf einen zuvor gestellten Antrag hingegen, dass eine nach den bei Antragstellung geltenden Maßstäben anspruchsberechtigende Pflegebedürftigkeit - wie hier unangegriffen festgestellt - erst später eingetreten ist, gehen die Feststellungen insoweit ins Leere.

Das schließt allerdings nicht aus, dass auf eine bei der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff noch anhängige Klage Ansprüche für die Zeit nach der Umstellung zuzuerkennen sein können. Streitgegenstand der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG) auf die - wie hier - vollständige Ablehnung eines Leistungsantrags ist zeitlich die gesamte Spanne zwischen der erstmaligen Geltendmachung des Anspruchs bis zur letzten mündlichen Verhandlung, soweit nicht zwischenzeitlich ein neuer Leistungsantrag gestellt und der Streitzeitraum durch seine Bescheidung begrenzt wird; hier also nach der Teilrücknahme der Klage und dem am 12.3.2019 gestellten Folgeantrag vom 10.10.2017 bis zum 11.3.2019. Ob die für diese Zeit geltend gemachten Ansprüche bestehen, beurteilt sich nach den allgemeinen Grundsätzen nach der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung, soweit nicht das materielle Recht etwas anderes bestimmt. Eine solche Bestimmung kann der Senat den Änderungen zum 1.1.2017 allerdings nicht entnehmen.

Insbesondere haben sich mit der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff die Zuständigkeiten und Rechtsbeziehungen unter den Beteiligten nicht derart geändert, wie das BSG jüngst für die Neuausrichtung der Eingliederungshilfe entschieden hat (BSG vom 28.1.2021 - B 8 SO 9/19 R - SozR 4-3500 § 57 Nr 1, auch vorgesehen für BSGE, RdNr 19). Zwar hat sich der Kreis der Anspruchsberechtigten erheblich erweitert und sind hierzu die Zugangsvoraussetzungen erheblich umgestaltet und die Leistungen bei vorwiegend somatisch und bei dementiell oder durch ähnliche Einschränkungen bedingter Pflegebedürftigkeit zusammengeführt worden (vgl nur Meßling in jurisPK-SGB XI, 3. Aufl 2021, § 14 RdNr 3 ff; Udsching in Udsching/Schütze, SGB XI, 5. Aufl 2018, Einleitung RdNr 30 f). Das hat auch Niederschlag gefunden in einer Ausweitung des Leistungsspektrums bei der Inanspruchnahme von Pflegegeld (vgl nur Wahl in Udsching/Schütze, SGB XI aaO, § 37 RdNr 7 unter Verweis auf § 36 RdNr 7 ff). Ansonsten haben sich aber weder der Zweck der Leistung - Organisation der notwendigen Hilfeleistungen durch selbst beschaffte Pflegekräfte - noch ihre weiteren Voraussetzungen - Sicherstellung der erforderlichen Pflege und Einholung von Beratung - geändert. Schon materiell rechtfertigt das nicht, noch nicht bestandskräftig beschiedene Anträge auf Pflegegeld nach früherem Recht als auf eine im Verhältnis zur neuen Rechtslage andere Leistung (“aliud“) gerichtet und deshalb als verbraucht zu werten, wenn sie sich bei rückschauender Betrachtung nicht bis spätestens zum Umstellungsstichtag als begründet erweisen.

Das ist auch dem Überleitungsrecht zum neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nicht zu entnehmen. Nach Regelungssystematik und -motiven war es darauf angelegt, insbesondere die Bestandsleistungsbezieher ohne weitere Begutachtung in eine ihrem vorherigen Leistungsbezug entsprechende Rechtsstellung einweisen (“überleiten“) zu können, ihnen also den Status zu erhalten, den sie vor der Rechtsänderung inne hatten (vgl nur Meßling in jurisPK-SGB XI, 3. Aufl 2021, § 140 RdNr 15 f, 23 ff). Soweit das regelungstechnisch so umgesetzt ist, dass Ansprüche nach neuem Recht nur begründet werden, soweit spätestens zum Umstellungszeitpunkt am 31.12.2016 Ansprüche nach altem Recht bestanden haben, rechtfertigt das nicht den Schluss, dass im Übrigen Ansprüche nach neuem Recht ohne neuen Antrag nach § 33 Abs 1 Satz 1 SGB XI in noch offenen (Alt-)Klageverfahren nicht zuerkannt werden können. Dafür geben weder die Umstellungsregelungen selbst Anlass noch ist dafür nach der Regelungssystematik Raum. Steht auf eine vor der Umstellung erhobene Klage noch nicht fest, ob ein Anspruch auf Pflegeleistungen zum Umstellungsstichtag bereits bestanden hat, ist eine Anspruchsüberleitung auf das neue Recht nicht ausgeschlossen und Rechtsschutzsuchenden daher nicht zuzumuten, auf diese ihnen günstige Möglichkeit über einen neuen Leistungsantrag und die bei seiner Bescheidung den Streitgegenstand des anhängigen Rechtsstreits begrenzenden Wirkung zu verzichten. Wird dagegen später aufgrund Begutachtung nach neuem Recht festgestellt, dass Leistungsansprüche erst nach der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff entstanden sind, ist weder ein Anlass noch eine Rechtfertigung dafür zu erkennen, einer solchen Änderung im Prozess nicht Rechnung zu tragen. Wie der Senat mehrfach entschieden hat, wirkt der einmal gestellte Antrag auf Pflegeleistungen wegen ihres Dauerleistungscharakters auch nach Ablehnung der Leistung fort, sofern er rechtzeitig angefochten ist und der Rechtsstreit hierüber noch anhängig ist (vgl nur BSG vom 17.12.2009 - B 3 P 5/08 R - SozR 4-3300 § 37 Nr 3 RdNr 14 mwN). Insoweit gilt wegen der Umstellung auf den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff nichts anderes.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 6/22.

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