Verhandlung B 7/14 AS 79/20 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungssausschluss - EU-Ausländer - Fortwirkung - Erwerbstätigenstatus
Verhandlungstermin
09.03.2022 12:30 Uhr
Terminvorschau
M. V. ./. MainArbeit Kommunales Jobcenter Offenbach
Im Streit stehen (noch) Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für den Kläger - rumänischer Staatsangehöriger - im Monat Januar 2014.
Der Kläger reiste im Januar 2012 ins Bundesgebiet ein. Zwischen dem 1. März 2012 und dem 28. Februar 2013 übte er eine befristete sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aus. Anschließend bezog der Kläger Alg nach dem SGB III sowie ergänzendes Alg II. Nach seinem Umzug in den Zuständigkeitsbereich des beklagten Jobcenters lehnte dieses die Fortzahlung der Leistung ab, weil der Kläger - als EU-Ausländer - sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhaltend, von Leistungen nach dem SGB II ausgeschlossen sei. Der Arbeitnehmerstatus wirke nur für 6 Monate fort, die inzwischen verstrichen seien. Das SG beschied den Antrag des Klägers auf Erlass einer einstweiligen Anordnung positiv und verpflichtete den Beklagten von November 2013 bis März 2014 vorläufig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren.
Im Hauptsacheverfahren hat das SG den Beklagten verurteilt, dem Kläger ua für Januar 2014 endgültig Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts zu gewähren. Das von dem Beklagten angerufene LSG ist dem - unter Bezugnahme auf die Begründung des SG - gefolgt und hat die Berufung des Beklagten zurückgewiesen. Ergänzend hat es ausgeführt, auf Grundlage der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Neculai Tarola (Urteil vom 11.4.2019 ‑ C‑483/17) und des europarechtlichen Gebots des effet utile sei davon auszugehen, dass eine genau einjährige Beschäftigung - wie hier - dem Tatbestand des § 2 Abs 3 Satz 1 Nr 2 FreizügG/EU ("nach mehr als einem Jahr Tätigkeit") unterfalle.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte sinngemäß die Verletzung von § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung und Art 7 Abs 3 Buchst b RL 2004/38/EG.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Darmstadt - S 21 AS 499/16, 17.01.2018
Hessisches Landessozialgericht - L 6 AS 126/18, 09.09.2020
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Terminbericht
Die Revision des Beklagten ist unbegründet. Der Kläger hat im noch streitbefangenen Monat Januar 2014 einen Anspruch auf Alg II. Er erfüllt alle Leistungsvoraussetzungen des § 7 Abs 1 Satz 1 SGB II aF. Ein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II aF liegt entgegen der Auffassung des Beklagten nicht vor.
Nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF sind von Leistungen nach dem SGB II "ausgenommen" Ausländer ohne Aufenthaltsrecht, sowie Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt, und ihre Familienangehörigen. Dies gilt nicht, wenn sich der Ausländer auf ein (anderes) Aufenthaltsrecht berufen kann, etwa auf ein nachwirkendes als Arbeitnehmer. Ein solches bleibt ohne zeitliche Begrenzung nach § 2 Abs 3 Satz 1 Nr 2 FreizügG/EU bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach mehr als einem Jahr Tätigkeit erhalten. Bei unfreiwilliger durch die zuständige Agentur für Arbeit bestätigter Arbeitslosigkeit nach weniger als einem Jahr Beschäftigung bleibt die Freizügigkeitsberechtigung nach § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU während der Dauer von sechs Monaten unberührt.
Der Kläger war vom 1. März 2012 bis 28. Februar 2013 als Arbeitnehmer beschäftigt. Hieraus folgt freizügigkeitsrechtlich, dass sein Aufenthaltsrecht auch über Februar 2013 hinaus und ohne die in § 2 Abs 3 Satz 2 FreizügG/EU vorgesehene zeitliche Begrenzung auf 6 Monate aufrechterhalten bleibt. Denn die zeitlich unbegrenzte Fortwirkung des Arbeitnehmerstatus knüpft auch an ein genau ein Jahr bestehendes Beschäftigungsverhältnis an.
Dies folgt aus der Auslegung des § 2 Abs 3 FreizügG/EU. Zwar werden von seinem Wortlaut Fälle der genau ein Jahr dauernden Beschäftigung nicht erfasst. Beide Regelungen beziehen sich auf Zeiträume einer Erwerbstätigkeit von länger oder kürzer als ein Jahr. Aus der Gesetzesbegründung selbst ergeben sich insoweit auch keine Hinweise. Allerdings ist systematisch und entstehungsgeschichtlich zu berücksichtigen, dass das FreizügG/EU auf der aus dem Auftrag des Art 288 AEUV folgenden Umsetzung der sogenannten “Freizügigkeitsrichtlinie“ RL 2004/38/EG gründet. Hieraus folgt das Erfordernis einer richtlinienkonformen Auslegung der nationalen Vorschrift und diese stützt das gefundene Ergebnis.
Zwar differenziert Art 7 Abs 3 der RL 2004/38/EG nach seinem Wortlaut ebenfalls nur zwischen ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach mehr als einjähriger Beschäftigung (Abs 3 Buchst b) bzw ordnungsgemäß bestätigter unfreiwilliger Arbeitslosigkeit nach Ablauf seines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags (Buchst c). Ein Umsetzungsdefizit der nationalen Regelung ist daher nicht festzustellen. Allerdings wurde zunächst in den Vorschlägen von Europäischer Kommission und Parlament nur zwischen dem Ausscheiden aus der abhängigen Beschäftigung bei Erfüllung der weiteren formalen Voraussetzungen und einem solchen nach Ablauf eines auf weniger als ein Jahr befristeten Arbeitsvertrags unterschieden. Nur in letzterem Fall sollte die Freizügigkeitsberechtigung auf 6 Monate beschränkt bleiben. Im Verlaufe des Gesetzgebungsprozesses hat es insoweit - ausdrücklich bekundet - keine inhaltliche Änderung gegeben. Lediglich die normative Verortung der Regelung wurde neu bestimmt. Erst im Gemeinsamen Standpunkt EG Nr 6/2004 des Rats der Europäischen Union von Dezember 2003 erhielten Art 7 Abs 3 Buchst b und c RL 2004/38/EG den aktuellen Wortlaut. Allerdings wurde insoweit zur Begründung erneut angeführt, die Neufassung sei nicht mit einer textlichen Abänderung verbunden, sondern bringe lediglich eine Neuplatzierung innerhalb des Normgefüges mit sich, was in den Gemeinsamen Standpunkt übernommen worden sei. Die Beschränkung auf 6 Monate sei vom Rat in den Text aufgenommen worden, um zu präzisieren, dass in diesem besonderen Fall die Erwerbstätigeneigenschaft mindestens während dieser Zeit aufrecht erhalten bleibe.
Unter Berücksichtigung der vom LSG festgestellten Umstände des vorliegenden Falls ist auch davon auszugehen, dass die Arbeitsagentur mit der Bewilligung des Alg nach dem SGB III die Unfreiwilligkeit der Arbeitslosigkeit bestätigt hat.
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