Verhandlung B 7/14 AS 91/20 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Leistungsausschluss - EU-Ausländer - Elternzeit - Erwerbstätigenstatus
Verhandlungstermin
09.03.2022 11:30 Uhr
Terminvorschau
1. S.S., 2. N.S. ./. Jobcenter Bitburg-Prüm, beigeladene: Eifelkreis Bitburg-Prüm
Die Klägerinnen (Klägerin zu 1 - Mutter / Klägerin zu 2 - deren im März 2018 geborene Tochter) ‑ luxemburgische Staatsangehörige - begehren Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts für Januar bis Mai 2019.
Die Klägerin zu 1 lebt seit Mitte Mai 2012 - mit einer Unterbrechung in den Jahren 2013/2014 - in Deutschland. Hier war sie ab Juli 2014 in unterschiedlichen Arbeitsverhältnissen sozialversicherungspflichtig beschäftigt, seit März 2017 ungekündigt. Die Mutterschutzfrist vor und nach der Geburt der Klägerin zu 2 begann am 26. Januar und endete am 4. Mai 2018; die zunächst bis 20. April 2019 befristete Elternzeit - mit Elterngeldbezug bis März 2019 - verlängerte die Klägerin zu 1 in diesem Monat bis März 2021. Das Beschäftigungsverhältnis ruhte während ihrer Elternzeit.
Den Antrag auf Bewilligung von Alg II und Sozialgeld für den eingangs benannten Zeitraum lehnte der Beklagte ab. Der Bewilligung stehe ein Leistungsausschluss entgegen. Die Klägerin zu 1 habe sich während ihrer Elternzeit ausschließlich zum Zweck der Arbeitsuche in Deutschland aufgehalten. Die ruhende Beschäftigung sei nach Ende der Mutterschutzfrist nicht wieder aufgenommen worden, so dass nicht vom Fortbestehen des Arbeitnehmerstatus ausgegangen werden könne.
Klage und Berufung sind ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt, die Klägerin sei nicht im unionsrechtlichen Sinne Arbeitnehmerin, denn sie habe aufgrund des ruhenden Beschäftigungsverhältnisses während der Elternzeit keine tatsächliche und echte Tätigkeit ausgeübt. Der Erwerbstätigenstatus habe auch nicht fortbestanden, weil sie nicht unfreiwillig arbeitslos sei, sich nicht dem deutschen Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt und ihre Tätigkeit nicht binnen einer angemessenen Frist wieder aufgenommen habe. Diese Frist sei nicht um die Elternzeit zu verlängern. Der Leistungsausschluss erstrecke sich auch auf die Klägerin zu 2. Die Klägerinnen seien von Leistungen der Sozialhilfe nach § 23 Abs 3 Satz 1 Nr 2 SGB XII ebenfalls ausgeschlossen.
Mit ihren vom LSG zugelassenen Revisionen rügen die Klägerinnen die Verletzung des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II, des Art 45 AEUV und des Art 7 Abs 2 VO 492/2011.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Trier - S 6 AS 75/19, 02.04.2020
Landessozialgericht Rheinland-Pfalz - L 3 AS 108/20, 22.09.2020
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Terminbericht
Die Revisionen der Klägerinnen sind im Sinne der Aufhebung des Urteils des LSG und der Zurückverweisung der Sache an dieses Gericht begründet. Der Senat vermochte wegen fehlender Feststellungen des LSG zur Hilfebedürftigkeit der Klägerinnen im streitigen Zeitraum nicht abschließend über ihren Anspruch auf Alg II/Sozialgeld entscheiden. Den geltend gemachten Ansprüchen steht aber jedenfalls kein Leistungsausschluss nach § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II entgegen. Die Klägerin zu 1 ist als Arbeitnehmerin freizügigkeitsberechtigt - auch während der Elternzeit.
Der Begriff des Arbeitnehmers im EU-Freizügigkeitsrecht ist als autonomer Begriff des Gemeinschaftsrechts unionsrechtlich zu bestimmen. Ein wesentliches Merkmal besteht nach der Rechtsprechung des EuGH darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Der EuGH hat in seiner Rechtsprechung jedoch auch Sachverhaltskonstellationen ausgemacht, in denen - bei einem fortbestehenden Arbeitsverhältnis - das Erfordernis der tatsächlichen Tätigkeit für die Erfüllung der Arbeitnehmereigenschaft ausnahmsweise entfallen kann. So liegt der Fall bei Erziehenden in Elternzeit/Elternurlaub, deren Arbeitsverhältnis nach nationalem Recht ruht. Sie bleiben in dieser Zeit Arbeitnehmer iS des Unionsrechts.
Dies entspricht auch der Rechtslage nach der RL 2019/1158/EU vom 20.6.2019 zur Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben für Eltern und pflegende Angehörige und zur Aufhebung der RL 2010/18/EU des Rates, der Deutschland am 6.2.2019 zugestimmt hat und deren Umsetzung in nationales Recht bis Anfang August 2022 zu erfolgen hat. Bereits die RL 2010/18/EU hatte der deutsche Gesetzgeber ua durch das BEEG umgesetzt. Nach § 18 Abs 1 Satz 1 und 3 BEEG darf der Arbeitgeber das Arbeitsverhältnis ab dem Zeitpunkt, von dem an Elternzeit verlangt worden ist und während der Elternzeit grundsätzlich nicht kündigen. Während der Elternzeit ruht das Arbeitsverhältnis kraft Gesetzes.
Auch vermag der Senat - im Gegensatz zum LSG - in der Rechtsprechung des EuGH keine Beschränkung der Aufrechterhaltung des Arbeitnehmerstatus auf die Mutterschutzfristen oder für die in der Richtlinie vorgesehenen Mindestzeiträume des Elternurlaubs von vier Monaten zu erkennen. Soweit die bundesdeutschen Schutzvorschriften des BEEG über die der Richtlinie hinausgehen, bedeutet dies nicht, dass eine Freizügigkeitsberechtigung nur innerhalb der “Mindestfristen“ der Richtlinie eingeräumt wird. Die Mitgliedstaaten sind durch das Primärrecht berechtigt, über die Mindeststandards der europäischen Regelungen hinaus zu gehen. Wandernde Arbeitnehmer sind alsdann innerhalb der nationalen Regelungen mit Inländern gleich zu behandeln.
Die vom LSG herangezogene Entscheidung “Saint Prix“ (EuGH vom 19.6.2014 - C 507/12) trifft für den vorliegenden Fall keine Aussage. Der Entscheidung des EuGH lag ein Sachverhalt zugrunde, nach dem das Arbeitsverhältnis tatsächlich beendet war.
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