Bundessozialgericht

Verhandlung B 10 ÜG 2/20 R

Entschädigung - überlange Verfahrensdauer - Vorbereitungs- und Bedenkzeit - Erkrankung - Richter

Verhandlungstermin 24.03.2022 14:15 Uhr

Terminvorschau

S. N. ./.  Land Berlin
Der Kläger begehrt eine höhere Geldentschädigung für immaterielle Nachteile wegen überlanger Dauer eines vor dem SG Berlin über viereinhalb Jahre geführten Klageverfahrens gegen die Bundesagentur für Arbeit über den Erlass einer Darlehensschuld. Die lange Verfahrensdauer beruhte ua auf erheblichen Krankheitszeiten des zunächst zuständigen Kammervorsitzenden.

Der Beklagte hat dem Kläger für die Überlänge vorprozessual 1200 Euro Entschädigung zugestanden und gezahlt. Das Entschädigungsgericht hat den Beklagten zur Zahlung weiterer 1300 Euro Entschädigung verurteilt. Dabei hat es ua drei Monate der gerichtlichen Untätigkeit im Ausgangsverfahren pauschal als nicht entschädigungspflichtig angesehen, weil die Erkrankung des zuständigen Kammervorsitzenden insoweit einen Fall höherer Gewalt darstelle.

Mit seiner Revision begehrt der Kläger eine höhere Entschädigung. Er rügt eine Verletzung von § 198 GVG. Das Entschädigungsgericht habe dem Ausgangsgericht zu Unrecht eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von zwölf Monaten eingeräumt. Denn das Klageverfahren sei bereits nach acht Monaten entscheidungsreif gewesen. Zudem dürften sich Erkrankungen von Richtern nicht zulasten der Beteiligten auswirken. Für die dadurch verursachten Verzögerungen müsse vollständig der Staat haften.

Vorinstanz:
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 37 SF 276/19 EK AL, 06.11.2020

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Terminbericht

Die Revision des Klägers war teilweise begründet. Dem Kläger stehen gegen den Beklagten weitere 300 Euro Geldentschädigung für immaterielle Nachteile wegen der überlangen Dauer des Ausgangsverfahrens zu.

Zu Recht hat das Entschädigungsgericht dem Ausgangsgericht eine zwölfmonatige Vorbereitungs- und Bedenkzeit zugebilligt. Der Senat hält an seiner in der Praxis von den Entschädigungsgerichten und ‑behörden akzeptierten sowie eine einheitliche Rechtsanwendung gewährleistenden ständigen Rechtsprechung fest, dass eine Verfahrensdauer von regelmäßig bis zu zwölf Monaten je Instanz als angemessen anzusehen ist, selbst wenn sie nicht durch konkrete Schritte der Verfahrensförderung begründet und gerechtfertigt werden kann.

Allerdings hat das Entschädigungsgericht zu Unrecht drei Monate fehlender Verfahrensförderung wegen Krankheit des Kammervorsitzenden des Ausgangsgerichts pauschal als Fall höherer Gewalt angesehen und als nicht entschädigungspflichtige Zeit bewertet. In der Regel fällt auch eine solche Zeit in den Verantwortungsbereich des Gerichts und damit des Staates. Der Staat schuldet den Rechtsuchenden die Bereitstellung einer ausreichenden personellen und sachlichen Ausstattung der Justiz. Dazu gehören auch wirksame personelle Vorkehrungen für Erkrankungen des richterlichen Personals und für andere übliche Ausfallzeiten. Erkrankt ein Richter, ist der durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts zur Vertretung bestimmte Richter für die Förderung des Verfahrens zuständig. Im Übrigen sind trotz oder wegen der Vertretung entstehende Verzögerungen ebenso wie andere Ausfallzeiten von Richtern grundsätzlich mit der vom Senat angenommenen zwölfmonatigen Vorbereitungs- und Bedenkzeit abgegolten. Erzwingt eine längere Erkrankung die Umverteilung der Geschäfte durch das Präsidium, fallen dadurch entstehende Verzögerungen ebenfalls regelmäßig in den Verantwortungsbereich des Gerichts. Rechtsuchende brauchen sie schon wegen der gebotenen verfahrensfördernden Vertretung nicht entschädigungslos hinzunehmen.

Etwas anderes kann aber dann gelten, wenn wegen der Erkrankung des zuständigen Richters zB ein bereits anberaumter Termin kurzfristig verschoben werden muss. Die staatliche Verantwortung für die dadurch eintretende Verzögerung mag anders zu bewerten sein, wenn sich der geschäftsplanmäßige Vertreter in der Kürze der verbleibenden Vorbereitungszeit nicht in die Sache einarbeiten kann und deshalb als verhindert anzusehen ist. Bei einer solchen kurzfristigen Terminverschiebung handelt es sich nicht um eine Verzögerung, die auf einer unzureichenden Ausstattung der Justiz im Allgemeinen beruht. Vielmehr verlängert sich in dieser Konstellation die Verfahrenslaufzeit durch eine unvermeidbare Störung des Verfahrensablaufs, was keine Entschädigungspflicht zu begründen vermag. Ein solcher Fall lag hier jedoch nicht vor.

Ausgehend von den vorgenannten Maßstäben hätte das Entschädigungsgericht drei weitere Monate als entschädigungspflichtig bewerten müssen. Dem Kläger waren daher mit der Revision zu den vom Entschädigungsgericht bereits ausgeurteilten 1300 Euro weitere 300 Euro Entschädigung zuzusprechen.

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