Verhandlung B 11 AL 30/21 R
Schwerbehindertenrecht - Beschäftigungspflicht der Arbeitgeber - Pflichtarbeitsplatz - Anrechnung - Teilzeitbeschäftigung
Verhandlungstermin
29.03.2022 11:30 Uhr
Terminvorschau
I. GmbH ./. Bundesagentur für Arbeit
Die Klägerin beschäftigte 2013 jahresdurchschnittlich monatlich 22 Arbeitnehmer. Im März 2014 zeigte sie der Agentur für Arbeit die Daten zur Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht behinderter Menschen für das Kalenderjahr 2013 an und machte geltend, die Teilzeitbeschäftigung einer schwerbehinderten Arbeitnehmerin mit einem Beschäftigungsumfang von weniger als 18 Wochenstunden sei wegen Art und Schwere der Behinderung notwendig. Im Mai 2014 beantragte sie die Anrechnung des Pflichtarbeitsplatzes für die Arbeitnehmerin als schwerbehinderter Mensch auch für das Kalenderjahr 2013. Die Beklagte ließ die Anrechnung erst für die Zeit ab Antragstellung zu.
Das SG hat der Klage auf Anrechnung bereits ab dem 01.01.2013 stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG nur hinsichtlich des Verurteilungszeitraums von Januar bis April 2014 das Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Im Übrigen hat es die Berufung zurückgewiesen: Die Zulassung der Anrechnung sei nicht an eine förmliche Antragstellung gebunden und könne auch rückwirkend für das Kalenderjahr 2013 erfolgen. Dies ergebe sich aus dem in § 80 Abs 1 bis 3 SGB IX aF geregelten Verfahren. Darin habe der Gesetzgeber erkennbar die Entscheidung über in der Vergangenheit liegende abgeschlossene Sachverhalte vorgesehen.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 75 Abs 2 Satz 3 und § 80 Abs 2 SGB IX aF. Die Zulassung der Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz durch Verwaltungsakt sei zwingende Voraussetzung für die Eintragung in das Verzeichnis nach § 80 Abs 1 SGB IX aF. Eine rückwirkende Zulassung der Anrechnung sei nicht vorgesehen.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Gotha - S 9 AL 1346/15, 18.04.2017
Thüringer Landessozialgericht - L 10 AL 648/17, 30.09.2020
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Terminbericht
Der Senat hat die Revision der Beklagten zurückgewiesen. Die Klägerin hat für 2013 und damit rückwirkend einen Anspruch auf Zulassung der Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz durch Verwaltungsakt. Dies folgt aus dem systematischen Zusammenspiel der §§ 75 und 80 SGB IX aF. Nach § 80 Abs 2 SGB IX aF hat ein Arbeitgeber der für seinen Sitz zuständigen Agentur für Arbeit für das vorangegangene Kalenderjahr durch ein Verzeichnis die Daten anzuzeigen, die zur Berechnung des Umfangs der Beschäftigungspflicht notwendig sind. Dazu gehören auch teilzeitbeschäftigte schwerbehinderte Menschen iS des § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF. Die Agentur für Arbeit hat die Daten nicht nur in tatsächlicher, sondern auch in rechtlicher Hinsicht von Amts wegen auf ihre Vollständigkeit und Richtigkeit zu überprüfen.
Ein obligatorisches Antragserfordernis auf Durchführung des Zulassungsverfahrens ist nicht normiert. Die grundsätzliche Rückwirkung der Zulassung der Anrechnung, jedenfalls auf den Beginn des der Anzeige vorausgegangenen Kalenderjahrs, entspricht dem Sinn und Zweck der Beschäftigungspflicht des Arbeitgebers und der Ausgleichsabgabe. Beschäftigt ein Arbeitgeber tatsächlich einen schwerbehinderten Menschen, der auf einen Pflichtarbeitsplatz nach § 71 Abs 1 SGB IX aF anzurechnen wäre, genügt er insoweit der Regelungsintention der Pflichtarbeitsplatzquote (Antriebsfunktion) und der der Ausgleichsabgabe immanenten Ausgleichsfunktion. Dies gilt auch dann, wenn - wie hier - in der Person des schwerbehinderten Arbeitnehmers die materiell-rechtlichen Zulassungsvoraussetzungen des § 75 Abs 2 Satz 3 SGB IX aF vorliegen, die Agentur für Arbeit jedoch die Anrechnung auf einen Pflichtarbeitsplatz formell (noch) nicht zugelassen hat.
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