Verhandlung B 2 U 5/20 R
Unfallversicherung - Schüler - Abschlussfeier - Nahrungsaufnahme - Behinderung
Verhandlungstermin
31.03.2022 12:00 Uhr
Terminvorschau
M.S. ./. Unfallkasse Hessen, beigeladen: A. gGmbH
Der 1990 geborene Kläger leidet seit seiner Kindheit an einer Cerebralparese mit spastischer Lähmung aller Gliedmaßen und ist auf einen Rollstuhl angewiesen. Aufgrund einer Kehlkopfdeformität drangen häufig Speisen und Getränke in die Atemwege ein, sodass mitunter Nahrungsmittel aus der Luftröhre entfernt werden mussten und Lungengewebsentzündungen (Aspirationspneumonien) auftraten.
Von 2007 bis 2009 besuchte der Kläger eine Schule für körperbehinderte Menschen mit angeschlossenem Internat, deren Träger die Beigeladene ist. Dort absolvierte er eine zweijährige Berufsvorbereitung und erwarb den Hauptschulabschluss. Dabei erledigte er seine schulischen Belange, gestaltete seine Freizeit und organisierte seine Heimfahrten selbstständig. In der Einrichtung durfte er uneingeschränkt alles essen und trinken. In der Gruppe und in der Schule wurde ihm das Essen zerkleinert von Mitarbeitern oder auch von Mitschülern oder Mitbewohnern gereicht.
Am Abend des 8.7.2009 nahm er an einer von der Schulleitung genehmigten Abschlussfeier teil. Dort stand für die Teilnehmer ein Buffet zur Verfügung. Der Kläger ließ sich selbst ausgewählte Speisen bringen. Eine sozialpädagogische Fachkraft schnitt das Essen klein und reichte es ihm nach seinen Vorgaben. Beim Essen eines kleingeschnittenen Mozzarellastücks traten Schluckprobleme auf, die durch Klopfen auf den Rücken und Ausräumen des Mundes nicht behoben werden konnten. Es kam zu einem Atemwegsverschluss mit Herzatemstillstand und daraus resultierendem Hirnschaden und apallischem Syndrom im Sinne eines Wachkomas.
Die Beklagte lehnte einen Versicherungsfall in der Schülerunfallversicherung ab. Das SG hat die Klage abgewiesen, ohne dass der Zugang der Terminsladung an die abwesende Beigeladene nachweisbar war. Das LSG hat die Berufungen des Klägers und der Beigeladenen zurückgewiesen. Das Essen während der schulischen Veranstaltung stehe mit der versicherten Tätigkeit als Schüler in keinem sachlichen Zusammenhang. Die Nahrungsaufnahme sei grundsätzlich dem privaten, unversicherten Lebensbereich zuzurechnen. Schulische Umstände, die die Einnahme des Essens wesentlich mitbestimmt hätten, seien nicht gegeben.
Mit ihren Revisionen rügen der Kläger und die Beilgeladene Verletzungen materiellen Rechts (§ 7, § 8 Abs 1, § 2 Abs 1 Nr 8 Buchst b SGB VII). Als (Förder )Schule für Menschen mit Beeinträchtigungen habe die Schule die versicherte Nahrungsaufnahme während der schulischen Abschlussfeier beaufsichtigen und für den Notfall eine Absaugpumpe griffbereit halten müssen. Die Beigeladene rügt zudem die Verletzung formellen Rechts (Art 103 Abs 1 GG) durch das SG.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Lüneburg - S 3 U 88/15, 15.03.2016
Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen - L 16 U 79/16, 17.12.2019
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Terminbericht
Die Revisionen des Klägers und der Beigeladenen hatten keinen Erfolg. Die Beklagte ist nicht verpflichtet, die Nahrungsaspiration und den daraus resultierenden Atemwegsverschluss des Klägers während der Schulabschlussfeier am 8.7.2009 als Arbeitsunfall festzustellen. Der Kläger hat keinen Arbeitsunfall iS des § 8 Abs 1 SGB VII erlitten. Es fehlt an einer Verrichtung des grundsätzlich versicherten Klägers zurzeit des Unfalls, die der versicherten Tätigkeit sachlich zuzurechnen ist.
Als Schüler einer Schule mit allgemeinem und berufsorientiertem Lernbereich gehörte der Kläger zwar zum versicherten Personenkreis (§ 2 Abs 1 Nr 8 Buchst b Alt 1 SGB VII). Die von der Schulleitung genehmigte und beaufsichtigte Schulabschlussfeier war auch eine Veranstaltung im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule.
Das Verschlucken steht mit der versicherten Schülertätigkeit indes in keinem sachlichen Zusammenhang. Der Senat kann offenlassen, ob der versicherten Schülertätigkeit die Verrichtung "Essen" stets zuzurechnen ist, weil die Wertungsgesichtspunkte und Grundsätze, die der Senat zur Nahrungsaufnahme Beschäftigter entwickelt hat, nicht ohne Weiteres auf die Schülerunfallversicherung übertragbar sind. Anders als in der Beschäftigtenversicherung (§ 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII), in der die Nahrungsaufnahme nur ausnahmsweise der versicherten Tätigkeit zugerechnet werden kann, kommt es im Rahmen von Schulunfällen nicht auf die objektivierte Handlungstendenz an, sondern vornehmlich auf den Schutzzweck der Norm.
Aber auch wenn der Schutzzweck der Schülerunfallversicherung Essen und Trinken im organisatorischen Verantwortungsbereich der Schule umfasst, bestand die unfallbringende Verrichtung nicht in der Teilnahme am gemeinsamen Essen und auch nicht in der Entgegennahme des nach den Vorstellungen des Klägers mundgerecht geschnittenen Mozzarellastücks, sondern nach den unangegriffenen Feststellungen der Vorinstanz im anschließenden Schluckvorgang (im Sinne eines Verschluckens). Der Schluckakt beruht allerdings auf einem unwillkürlichen Reflex und kann deshalb der versicherten Tätigkeit als Schüler auch bei weiter Betrachtungsweise grundsätzlich nicht mehr zugerechnet werden, solange Anhaltspunkte für eine Fehlauslösung durch besondere, im sachlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehende Einwirkungen von außen nicht vorhanden sind.
Eine Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das vor- oder erstinstanzliche Gericht entfällt. Die Sache ist entscheidungsreif, die Verletzung rechtlichen Gehörs geheilt worden.
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