Bundessozialgericht

Verhandlung B 6 KA 12/21 R

Vertragsarztrecht - vertragsärztliche Versorgung - ausgelagerte Praxisräume - zytologische Laborleistungen - räumliche Nähe - Vertragsarztsitz

Verhandlungstermin 06.04.2022 10:00 Uhr

Terminvorschau

ÜBAG für L. GbR ./. Kassenärztliche Vereinigung Nordrhein
Die Klägerin, eine überörtliche Berufsausübungsgemeinschaft (üBAG), betreibt an Standorten in D und P medizinische Versorgungszentren (MVZ). Sie erbringt zytologische Laborleistungen für niedergelassene Gynäkologen. Im Juni 2017 zeigte sie der beklagten Kassenärztlichen Vereinigung (KÄV) an, dass sie ausgelagerte Praxisräume an einem neuen Standort in K für die Nutzung von Büro- und Laborflächen (ca 1000 qm) anmieten wolle, da vorhandene Praxiskapazitäten erschöpft seien. Die Beklagte teilte am 11.7.2017 mit, dass die neuen Praxisräume zu weit entfernt vom MVZ in P gelegen seien (9 km bzw 17 bis 19 Minuten Fahrtzeit) und dass daher dort keine Leistungen erbracht werden könnten. Die dagegen gerichtete Klage war erfolgreich. Das SG hat festgestellt, dass die Klägerin die neue Praxisstätte betreiben dürfe und dass dort zusätzlich zu den weiteren Standorten der Klägerin sämtliche geplanten Laborleistungen erbracht und abgerechnet werden dürften. Auf die Berufung der Beklagten hat das LSG das Urteil des SG geändert und die Klage abgewiesen. Das LSG ist von einer zulässigen Fortsetzungsfeststellungsklage ausgegangen. Durch die geänderte Neuplanung der Praxisräume in einer jetzt zu Eigentum erworbenen Immobilie in derselben Straße in K habe sich der Verwaltungsakt vom 11.7.2017 erledigt. Ein Widerspruchsverfahren sei nicht nachzuholen. Das fortbestehende Feststellungsinteresse bestehe in der Klärung der Meinungsverschiedenheit über das Erfordernis der räumlichen Nähe zum Vertragsarztsitz. In der Sache sei die Klage aber unbegründet. Zwar sei es nach § 24 Abs 5 der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte (Ärzte-ZV) zulässig, dass der Vertragsarzt spezielle Untersuchungs- und Behandlungsleistungen an weiteren Orten erbringe. Es mangele jedoch an der notwendigen räumlichen Nähe zum Vertragsarztsitz in P. Die Entfernung nach K betrage 9 km; die Fahrtzeit mit dem Kfz betrage 17 Minuten in verkehrsschwachen und 19 Minuten in verkehrsstarken Zeiten. Dass solche Entfernungen nicht mehr zum räumlichen Nahbereich zählten, folge aus der Auslegung von § 24 Ärzte-ZV und der berufsrechtlichen Vorgängerregelung (§ 18 Abs 2 Satz 1 <Muster>Berufsordnung der Ärztinnen und Ärzte aF). Danach seien ausgelagerte Praxisräume eine organisatorische Einheit mit der Praxis. Die Grundsätze der - abgeschafften - Residenzpflicht des Arztes, die eine Fahrtzeit zwischen Vertragsarztsitz und Wohnort des Arztes von maximal 30 Minuten erforderten, seien nicht heranzuziehen.

Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 24 Abs 5 Ärzte-ZV). Das LSG habe das Erfordernis räumlicher Nähe der auszulagernden Praxisstätte überspannt. Entscheidend sei auch, dass Versicherte zu keiner Zeit in den neuen Räumlichkeiten anwesend seien, da dort lediglich Laborleistungen erbracht werden sollten.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Düsseldorf - S 2 KA 188/17, 23.05.2018
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 11 KA 50/18, 11.03.2021 

Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 13/22.

Terminbericht

Die Revision der Klägerin war im Sinne der Zurückverweisung an das LSG erfolgreich. Der Senat kann nach den Feststellungen des LSG nicht abschließend beurteilen, ob die Klägerin berechtigt ist, in der R-Straße in K eine ausgelagerte Praxisstätte für die Erbringung und Abrechnung von zytologischen Laborleistungen zu betreiben.

Die Klägerin kann den geltend gemachten Anspruch im Wege der Feststellungsklage nach § 55 Abs 1 Nr 1 SGG verfolgen. Entgegen der Rechtsansicht des LSG handelt es sich nicht um eine Fortsetzungsfeststellungsklage, da die Beklagte keinen Verwaltungsakt erlassen, sondern ihre Rechtsansicht mitgeteilt hat. Auch liegt darin nicht die Ablehnung eines Verwaltungsakts, weil die Auslagerung von Praxisräumen nicht genehmigungs- sondern nur anzeigepflichtig ist. Das Feststellungsinteresse ist zu bejahen, da ohne gerichtliche Klärung die Gefahr einer Untersagung des - ausgelagerten - Praxisbetriebes oder von Honorarkürzungen besteht.

Dem Erfordernis der “räumlichen Nähe“ zum Vertragsarztsitz in § 24 Abs 5 Ärzte-ZV steht nicht entgegen, dass sich die Praxisräume für Laboruntersuchungen 9 km entfernt vom Vertragsarztsitz in P befinden und von dort aus innerhalb von 19 Minuten in verkehrsstarken Zeiten zu erreichen sind. Bei der Auslagerung von Praxisräumen sieht der Senat die zeitliche Erreichbarkeit am Vertragsarztsitz innerhalb von maximal 30 Minuten generell als geeignetes Kriterium zur Bestimmung der räumlichen Nähe an. Es stellt sicher, dass der Vertragsarzt zur Durchführung seiner Sprechstunden und auch bei Notfällen am Vertragsarztsitz persönlich zur Leistungserbringung in angemessener Zeit zur Verfügung steht. Es trägt unterschiedlichen Anforderungen an ländlich strukturierte Gebiete wie auch an dicht besiedelte Großstadtgebiete hinreichend Rechnung. An der zur überholten berufsrechtlichen Vorgängerregelung vertretenen Ansicht, dass “in den Augen des Publikums“ eine organisatorisch einheitliche Praxis auch bei Auslagerung einer Praxisstätte vorliegen muss, hält der Senat nicht fest. Engere Organisationsstrukturen sind durch Digitalisierungen möglich geworden. Der Senat kann offen lassen, ob möglicherweise bei reinen Laboruntersuchungen, die ohne Arzt-Patienten-Kontakt in ausgelagerten Praxisräumen durchgeführt werden, im Einzelfall auch längere Wegezeiten als 30 Minuten in Betracht kommen. Darauf kommt es hier nicht an, weil bereits die Grenze von 30 Minuten nicht erreicht wird.

Im wiedereröffneten Berufungsverfahren wird das LSG auch angesichts der Größe der angezeigten Praxisstätte bewerten müssen, ob die Tätigkeit am Sitz des MVZ die Tätigkeit an weiteren Orten zeitlich insgesamt überwiegt, wie es § 17 Abs 1a Satz 5 BMV-Ä vorsieht. Seit den Änderungen der Muster-Berufsordnung ab 2003 und von § 24 Ärzte-ZV ab 2007 gilt zwar nicht mehr, dass in ausgelagerten Praxisstätten keine Leistungen erbracht werden dürfen, die auch am Hauptsitz erbracht werden. Es gilt aber weiterhin, dass sich diese von Zweigpraxen dadurch unterscheiden, dass in ausgelagerten Praxisstätten nur spezielle Untersuchungs- und Behandlungsleistungen erbracht werden dürfen. Dabei ist der Begriff der speziellen Leistungen nach Auffassung des Senats nicht allein auf das von der jeweiligen Arztgruppe erbrachte Leistungsspektrum zu beziehen, sondern auf die vom einzelnen Arzt bzw MVZ an der Hauptbetriebsstätte erbrachten Leistungen. Deshalb kann ein Arzt nicht mit Erfolg geltend machen, dass er ganz überwiegend spezielle Leistungen erbringe und deshalb berechtigt sei, in einer ausgelagerten Praxisstätte im Wesentlichen die gleichen Leistungen wie am Hauptsitz der Praxis anzubieten.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 13/22.

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