Bundessozialgericht

Verhandlung B 7/14 AS 27/21 R

Grundsicherung für Arbeitsuchende - Sozialhilfe - Leistungsausschluss - EU-Ausländer 

Verhandlungstermin 18.05.2022 11:15 Uhr

Terminvorschau

L. und J.K. ./. Jobcenter Berlin-Reinickendorf, beigeladen: Land Berlin
Die Klägerinnen (Klägerin zu 1 - Mutter / Klägerin zu 2 - deren Tochter) ‑ estnische Staatsangehörige - begehren im “Zugunstenverfahren“ Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für August 2012 bis Oktober 2012. 

Sie reisten im Januar 2012 ins Bundesgebiet ein und leben zwischenzeitlich wieder in Estland. Die Klägerin zu 1 meldete zum 19.1.2012 ein Gewerbe "Küchenhilfe, Reinigungskraft, Aushilfe im Hotel" an, erzielte jedoch keine Einnahmen hieraus. Die Klägerin zu 2 besuchte ab August 2012 eine Grundschule. Das beklagte Jobcenter lehnte die Fortzahlung der zunächst vorläufig bewilligten Leistungen durch Bescheid vom 23.7.2012 ab, da die Klägerin zu 1 lediglich ein Aufenthaltsrecht zur Arbeitsuche habe. Im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs aus 2018 verpflichtete sich der Beklagte zu einer Überprüfung der Entscheidung vom 23.7.2012 auf einen Antrag der Klägerinnen vom 12.8.2013. Er lehnte eine Änderung seiner getroffenen Entscheidung jedoch ab.

Vor dem SG sind die Klägerinnen mit ihren Klagen hiergegen, ebenso wie mit dem hilfsweisen Begehren der Erbringung von Sozialhilfeleistungen durch das beigeladene Land, erfolglos geblieben. Die Berufungen der Klägerinnen hat das LSG zurückgewiesen. Die Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X lägen nicht vor, der Bescheid vom 23.7.2012 sei rechtmäßig. Es greife der Leistungsausschluss des § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF. Der Hilfsantrag auf Verurteilung des beigeladenen Sozialhilfeträgers sei unzulässig. Eine Verurteilung nach § 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG setze voraus, dass sich der mit der Klage geltend gemachte Anspruch und der Anspruch gegen den Sozialhilfeträger nach Rechtsgrund und Rechtsfolgen nicht wesentlich unterschieden. Hier werde jedoch ein anders gearteter Anspruch aus § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X geltend gemacht.

Mit ihren Revisionen rügen die Klägerinnen eine Verletzung des § 7 Abs 1 Satz 2 SGB II in der bis zum 28.12.2016 geltenden Fassung. Selbst wenn kein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II bestanden habe, liege unter Anwendung des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) ein Anspruch auf Leistungen nach dem SGB XII vor, zumindest aber ein Anspruch nach der Ermessensnorm des § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF. Der Überprüfungsantrag gegen den Ablehnungsbescheid ändere nichts an der Rechtslage. Es gehe bei den Leistungsansprüchen nach dem SGB II und dem SGB XII um grundsätzlich gleiche Ansprüche.

Vorinstanzen:
Sozialgericht Düsseldorf - S 40 AS 1540/19, 19.11.2019
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 19 AS 2043/19, 11.03.2021

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Terminbericht

Die Revisionen der Klägerinnen sind im Sinne der Zurückverweisung der Sache an das LSG wegen Leistungsansprüchen nach dem SGB XII begründet. Der Beklagte ist nicht verpflichtet, seinen Bescheid über die Ablehnung von Leistungen nach dem SGB II im Zeitraum von August bis Oktober 2012 zurückzunehmen. Er hat die Überprüfung seiner Entscheidung nach § 44 SGB X zu Recht abgelehnt.

Zwar haben die Klägerinnen innerhalb der einjährigen "Verfallfrist" des § 40 Abs 1 Satz 2 SGB II iVm § 44 Abs 4 SGB X die Rücknahme des sie belastenden Verwaltungsakts beantragt. Der Beklagte hat bei Erlass des die Leistungen ablehnenden Bescheides jedoch das Recht nicht unrichtig angewandt.

Die Klägerinnen waren im streitigen Zeitraum nach § 7 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB II aF von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts ausgeschlossen. Die Klägerin zu 1 hielt sich allenfalls zur Arbeitsuche in Deutschland auf. Über ein darüber hinausgehendes Freizügigkeitsrecht nach dem FreizügG/EU verfügte sie im streitigen Zeitraum nicht. Weder war sie freizügigkeitsberechtigt als Arbeitnehmerin nach § 2 Abs 2 Nr 1 FreizügG/EU, noch als Selbstständige nach dessen § 2 Abs 2 Nr 2. Ein von der Tochter abgeleitetes Aufenthaltsrecht der Klägerin zu 1 nach Art 10 VO (EU) 492/2011 scheidet trotz des Schulbesuchs der Klägerin zu 2 ab August 2012 aus. Ein Anspruch auf Leistungen unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgebots des Europäischen Fürsorgeabkommens (EFA) kommt - wegen des von der Bundesregierung erklärten Vorbehalts für Leistungen nach dem SGB II - ebenfalls nicht in Betracht.

Im Hinblick auf das Vorbringen des beigeladenen Sozialhilfeträgers, seine Verurteilung zur Gewährung von Leistungen nach dem SGB XII komme bereits deswegen nicht in Betracht, weil es sich vorliegend um ein Zugunstenverfahren nach § 44 SGB X gegenüber dem Jobcenter  handele, verweist der erkennende Senat auf die Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 29.3.2022 (B 4 AS 2/21 R). Er schließt sich dieser insoweit an. Auch in einer solchen Konstellation ist dem prozessökonomischen Zweck der sogenannten unechten notwendigen Beiladung iS des § 75 Abs 2 Alt 2, Abs 5 SGG Rechnung zu tragen.

Zwar hatten auch nach dem im streitigen Zeitraum geltenden § 23 Abs 3 Satz 1 SGB XII ua Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus dem Zweck der Arbeitsuche ergibt, sowie ihre Familienangehörigen keinen Anspruch auf Sozialhilfe. Dies galt allerdings nicht, wenn sie dem Gleichbehandlungsgebot des EFA unterfielen. Für eine Beurteilung dessen mangelt es an Feststellungen des LSG. Soweit das EFA den Klägerinnen keinen Leistungsanspruch nach dem SGB XII eröffnen sollte, ist ein Anspruch gegen den Beigeladenen nach § 23 Abs 1 Satz 3 SGB XII aF in Betracht zu ziehen. Der Senat verweist insoweit auf die ständige Rechtsprechung des BSG. Ob und inwieweit die Voraussetzungen für die "Ermessensleistungen" gegeben sind, vermag der Senat aufgrund der Feststellungen des LSG ebenfalls nicht zu beurteilen.

Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 17/22.

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