Verhandlung B 7/14 AS 52/21 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - Darlehensgewährung - Mietschulden
Verhandlungstermin
13.07.2022 10:00 Uhr
Terminvorschau
M. G. ./. Jobcenter Bremen
Im Streit steht die Gewährung eines Darlehens wegen Mietschulden.
Die alleinstehende Klägerin erhielt bis Januar 2015 Alg II. Die Miete wurde vom beklagten Jobcenter direkt an den Vermieter der von der Klägerin bewohnten Wohnung überwiesen. Für die Zeit ab Februar 2015 beantragte die Klägerin zunächst keine Leistungen. Auf einen Antrag aus Juni 2015 bewilligte der Beklagte der Klägerin am 22.9.2015 rückwirkend Alg II ab Juni 2015 und nahm anschließend die Direktüberweisung der Miete an den Vermieter (rückwirkend ab Juni 2015) wieder auf. Schon zuvor - am 19.8.2015 - hatte der Vermieter schriftlich mit der Kündigung der Wohnung gedroht und die Klägerin hatte zeitgleich gegenüber dem Beklagten Mietschulden und eine drohende Wohnungslosigkeit angezeigt. Die ebenfalls von ihr beantragte Zahlung von Alg II ab Februar 2015 lehnte der Beklagte ab.
Ende September 2015 beantragte die Klägerin ausdrücklich ein Darlehen für die in der Zeit von Februar bis Mai 2015 zu zahlenden Kosten der Unterkunft und Heizung. Auf Nachfrage des Beklagten legte die Klägerin am 9.10.2015 die fristlose Kündigung ihres Vermieters vom 5.10.2015 vor, die wegen Mietrückständen von Januar bis Oktober 2015 ausgesprochen worden war. Nachdem der Beklagte Zahlungen für die Zeit ab Juni 2015 erbracht und die Klägerin weitere 1055 Euro an den Vermieter geleistet hatte, sah der Vermieter von der Kündigung ab. Die Klägerin gab an, ein Darlehen über vier Monatsmieten bei Frau T aufgenommen zu haben, um die verbliebenen Mietschulden tilgen zu können. Sie halte daher ihren Darlehensantrag beim Beklagten aufrecht.
Der Beklagte beschied die Klägerin insoweit negativ. Der Vermieter habe die Kündigung zurückgenommen. Damit sei kein Bedarf mehr zu decken. Die möglichen Schulden der Klägerin gegenüber Dritten seien insoweit unerheblich.
Das SG hat die hiergegen gerichtete Klage abgewiesen und das LSG hat die Berufung zurückgewiesen. Einen Anspruch auf das begehrte Darlehen hat es ebenfalls mit Hinweis auf die nicht mehr drohende Wohnungslosigkeit verneint. Die Aufnahme eines Darlehens bei Frau T führt nach Ansicht des LSG nicht zu einer anderen Bewertung der Sach- und Rechtslage. Es könne nicht festgestellt werden, dass die darlehensweise Beschaffung des Geldes wegen einer Untätigkeit des Beklagten erfolgt sei. Der Beklagte sei mehrfach durch Mitwirkungsaufforderungen tätig geworden. Denen sei die Klägerin zum Teil nicht nachgekommen. Die zeitliche Verzögerung in der Bearbeitung des Darlehensantrags könne daher nicht dem Beklagten zugerechnet werden.
Die Klägerin rügt mit der vom Senat zugelassenen Revision die Verletzung von § 22 Abs 8 SGB II.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Bremen - S 22 AS 1156/16, 21.08.2017
Landessozialgericht Niedersachsen Bremen - L 15 AS 220/17, 10.09.2020
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Terminbericht
Der Senat konnte nicht abschließend darüber befinden, ob die Klägerin mit ihrem Begehren auf darlehensweise Übernahme von Schulden - im Ausgangspunkt Mietschulden - durch den Beklagten durchdringen kann.
Ob Schulden iS des § 22 Abs 8 SGB II oder Aufwendungen für Unterkunft und Heizung iS des § 22 Abs 1 SGB II vorliegen, richtet sich - unabhängig von deren zivilrechtlicher Einordnung - im Grundsatz danach, ob eine den Bedarfen für Unterkunft und Heizung zuzuordnende Forderung einem während der Hilfebedürftigkeit des SGB II-Leistungsberechtigten eingetretenen und bisher noch nicht gedeckten Bedarf zuzuordnen ist. Welcher Teil der in der Kündigung des Vermieters der Klägerin mitgeteilten Zahlungsrückstände sich auf Aufwendungen iS des § 22 Abs 1 SGB II bezieht und welcher Teil Schulden iS des § 22 Abs 8 SGB II sein kann, ist anhand der bisherigen Feststellungen des LSG nicht zu beurteilen.
Soweit sich ein Zahlungsverzug für Februar bis Mai 2015 feststellen lässt, handelt es sich bei den gegenüber dem Vermieter bestehenden Verbindlichkeiten der Klägerin um Mietschulden iS des § 22 Abs 8 SGB II. Den Bedarf zur Deckung dieser hat sie rechtzeitig nach der Androhung der Kündigung am 19.8.2015 noch im August 2015 gegenüber dem Beklagten geltend gemacht.
Eines gesonderten Antrags iS von § 37 Abs 1 SGB II bedarf es für das Begehren auf Übernahme von Mietschulden iS des § 22 Abs 8 SGB II nicht.
Die Übernahme von Schulden bei Dritten setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der Aufnahme des Darlehens Mietschulden vom Jobcenter zu übernehmen gewesen wären. Gemäß § 22 Abs 8 Satz 1 SGB II steht die Übernahme der Schulden im Ermessen des Grundsicherungsträgers. Dieses Ermessen ist nach Satz 2 eingeschränkt, wenn die Übernahme der Schulden gerechtfertigt und notwendig ist und sonst Wohnungslosigkeit einzutreten droht. In diesem Fall sollen die Schulden übernommen werden. Wohnungslosigkeit droht einzutreten, wenn bei Verlust der bewohnten, kostenangemessenen Wohnung keine konkrete Möglichkeit besteht, ebenfalls angemessenen Ersatzwohnraum zu erhalten. Zur Beurteilung dessen fehlt es an Feststellungen des LSG.
Sollte das LSG in dem wiedereröffneten Berufungsverfahren zu dem Schluss gelangen, dass die Voraussetzungen des § 22 Abs 8 Satz 2 SGB II nicht vorliegen, ist die Verpflichtung des Beklagten zur Entscheidung über den Darlehensantrag im Ermessensweg (§ 22 Abs 8 Satz 1 SGB II) zu prüfen.
Der Übernahme der Schulden steht grundsätzlich nicht entgegen, wenn ein Leistungsberechtigter nach der Anzeige seines Bedarfs gegenüber dem Jobcenter mit Hilfe eines anderweitig beschafften Darlehens die Unterkunft durch Begleichung der Mietschulden an den Vermieter gesichert hat. Auch Schulden gegenüber Dritten, die Leistungsberechtigte nach dieser “Bedarfsanzeige“ beim Jobcenter eingegangen sind, um drohende Wohnungslosigkeit abzuwenden, können Schulden iS des § 22 Abs 8 SGB II sein. Entgegen der Auffassung des LSG kommt es für die Übernahme von Schulden Leistungsberechtigter bei Dritten im Rahmen des § 22 Abs 8 SGB II im Ausgangspunkt nicht darauf an, ob das Jobcenter oder der Leistungsberechtigte den Zeitablauf zwischen der Geltendmachung des Darlehensbedarfs und dem Erlass des Ablehnungsbescheids zu vertreten hat. Maßgeblich ist im Falle der Mietschuldenübernahme nach § 22 Abs 8 SGB II, ob das Jobcenter bis zur Selbsthilfe des Leistungsberechtigten durch Aufnahme eines Privatdarlehens die Gelegenheit zur Entscheidung gehabt hätte. Erst bei der Übernahme der Schulden als Zuschuss im atypischen Fall kommt es darauf an, ob die Schulden auf Umstände aus der Sphäre des Leistungsberechtigten oder des Jobcenters zurückzuführen sind und wie das zu bewerten ist.
In welcher Höhe ggf Mietschulden im konkreten Fall als Darlehen vom Beklagten zu übernehmen sind richtet sich zum einen danach, ob die Klägerin bei Frau T überhaupt ein Darlehen aufgenommen hat, in welcher Höhe dieses ggf zur Tilgung der Mietschulden verwendet worden ist und inwieweit die Klägerin auf die Selbsthilfeobliegenheit iS des § 22 Abs 8 Satz 3 SGB II verwiesen werden kann. Auch hierzu wird das LSG ggf Feststellungen zu treffen haben.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 27/22.