Verhandlung B 3 KR 1/22 R
Krankenversicherung - häusliche Krankenpflege - Vergütung - Schiedsverfahren - Schiedsspruch
Verhandlungstermin
14.07.2022 13:00 Uhr
Terminvorschau
Barmer ./. Pflegezentrum K. GmbH
Gegenstand des Streits ist der Schiedsspruch, auf den die Zahlungsklage im Verfahren unter 2) gestützt ist.
Das SG hat auf die Klage der Krankenkasse die Unwirksamkeit des Schiedsspruchs festgestellt, das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Der Schiedsspruch sei unwirksam, weil die Feststellung einer Zahlungspflicht ohne zugrundeliegenden Vertrag keinen zulässigen Regelungsinhalt eines Schiedsspruchs bilden könne.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts wie unter 2). Die der angegriffenen Entscheidung zugrunde liegende Feststellungsklage sei schon unzulässig. Jedenfalls sei sie unbegründet, weil ein umfangreiches Vertragswerk für eine in der Vergangenheit bereits erbrachte Leistung nicht mehr habe geschaffen werden müssen. Der Schiedsspruch sei auch weder unbillig noch habe die Schiedsperson ihren Entscheidungsspielraum überschritten. Zutreffend habe sie eine leistungsgerechte Vergütung rückblickend für einen Einzelfall festgesetzt.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Stuttgart - S 18 KR 4297/16, 02.06.2020
Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 5 KR 2097/20, 18.08.2021
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 28/22.
Terminbericht
Die Revision der Beklagten war im Wesentlichen erfolgreich. Dass die Schiedsperson den mit dem Pflegesatz für stationäre Pflegeleistungen nicht abgedeckten Zusatzaufwand für eine 24-Stunden-Beatmung im streitbefangenen Zeitraum auf 78,75 Euro täglich bemessen hat, lässt eine Unbilligkeit zu Lasten der Klägerin nicht erkennen. Soweit sie darüber hinaus auch den für die Versorgung der Versicherten der Klägerin zu zahlenden Gesamtbetrag bestimmt hat, berührt das die Wirksamkeit des Schiedsspruchs nicht.
Kommen zwischen Leistungserbringern und Krankenkassen Verträge über die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege, über die Preise und deren Abrechnung und die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Fortbildung nicht zustande, wird "der Vertragsinhalt durch eine von den Vertragspartnern zu bestimmende unabhängige Schiedsperson innerhalb von drei Monaten festgelegt" (§ 132a Abs 2 Satz 6 SGB V in der bei Erlass des Schiedsspruchs maßgeblichen Fassung des Gesetzes vom 21.12.2015, BGBl I 2408). Die Vorschrift ist Ausgleich dafür, dass die Erbringer von Leistungen der häuslichen Krankenpflege die Preise für von Versicherten beauftragte Leistungen nicht einseitig bestimmen können, und gewährt ihnen deshalb das gesetzliche Recht zur Herbeiführung des Schiedsspruchs (vgl BSG vom 29.6.2017 - B 3 KR 31/15 R - BSGE 123, 254 = SozR 4-2500 § 132a Nr 11, RdNr 35, 37, 43).
Das kann bei verfassungskonformer Auslegung entsprechend für Versorgungen mit häuslicher Krankenpflege gelten, denen im Zeitpunkt der Leistungserbringung noch kein (zuvor geschlossener) Vertrag über deren Einzelheiten, über die Preise und deren Abrechnung nach § 132a SGB V zugrunde lag. Erbringen die Krankenkassen - wie regelmäßig - solche Leistungen nicht durch eigene Kräfte (vgl § 37 Abs 4 SGB V), erhalten die Versicherten sie abweichend von den allgemeinen Vorschriften nicht als Sachleistung, sondern durch Kostenerstattung nach § 37 Abs 4 SGB V. Diese Ausgestaltung rechtfertigt ständiger Rechtsprechung zufolge anders als im Sachleistungssystem die Inanspruchnahme von (geeigneten) Leistungserbringern auch dann, wenn sie im Zeitpunkt der Leistungserbringung noch nicht mit der leistungsverpflichteten Krankenkasse nach § 132a SGB V vertraglich verbunden waren (vgl zuletzt nur BSG vom 29.6.2017 - B 3 KR 31/15 R - BSGE 123, 254 = SozR 4-2500 § 132a Nr 11, RdNr 42 mwN). Entsprechend hat der Senat wegen des insoweit ebenfalls uneingeschränkt geltenden Vorbehalts der Preisfindung im Vereinbarungswege nach § 132a Abs 2 SGB V die rückwirkende Festsetzung mit Blick auf das Schutzinteresse des Leistungserbringers als geboten angesehen, wenn er nach den Umständen des Einzelfalls einen Vergütungsanspruch dem Grunde nach erworben haben konnte (vgl zuletzt nur BSG aaO, RdNr 54).
So liegt es auch hier. Nach den mit Verfahrensrügen nicht angegriffenen und deshalb bindenden Feststellungen des LSG (§ 163 SGG) war die Versicherte im Streitzeitraum vollstationär in der Pflegeeinrichtung der Beklagten versorgt (§ 71 Abs 2 SGB XI) und erhielt dort ärztlich verordnet seit dem auf die Aufnahme folgenden Tag bis zu ihrem Versterben eine 24-stündige Dauerbeatmung, ohne dass förmliche Entscheidungen der Klägerin hierzu ergingen. Hiernach hatte die Beklagte gemäß der Zuständigkeitsabgrenzung zwischen gesetzlicher Kranken- und sozialer Pflegeversicherung nur die medizinischen Behandlungspflegeleistungen als Teil der dem SGB XI zuzurechnenden Versorgung zu Lasten des (gedeckelten) Anteils der Pflegekasse bzw des von der Versicherten selbst oder ggfs vom Sozialhilfeträger zu tragenden Anteils zu erbringen, die nicht vom Anspruch auf Krankenpflege nach § 37 SGB V umfasst waren (vgl § 82 Abs 1 Satz 3 SGB XI in der im Versorgungszeitraum geltenden Fassung des GKV-WSG vom 26.3.2007, BGBl I 378, iVm § 43 Abs 2 Satz 1 SGB XI idF des PflegeWEG vom 28.5.2008, BGBl I 874).
Angesichts des bei Aufnahme der Versicherten voraussichtlich auf Dauer, in jedenfalls nicht auszuschließender Weise für einen Zeitraum von sechs Monaten bestehenden Bedarfs einer Rund-um-die-Uhr-Beatmung, und damit einem sowohl nach der Regelungsintention des Gesetzgebers (vgl BT-Drucks 16/3100 S 105) als auch der Häuslichen Krankenpflege-Richtlinie (HKP-RL) des Gemeinsamen Bundesausschusses (vgl § 1 Abs 7 Satz 3 Alt 2 HKP-RL idF der Änderung vom 21.10.2010, BAnz 2011 S 140: "Bedienung und Überwachung eines Beatmungsgerätes […] am Tag und in der Nacht erforderlich") Fall eines besonders hohen Bedarfs an medizinischer Behandlungspflege (§ 37 Abs 2 Satz 3 SGB V idF des GKV-WSG) war die Beklagte demzufolge nicht darauf verwiesen, den zusätzlichen Bedienungs- und Überwachungsaufwand für die Beatmung aus der Vergütung für die allgemeinen Pflegeleistungen zu bestreiten (§ 82 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB XI). Vielmehr hat sie insoweit vom Tag nach Aufnahme der Versicherten an dem Grunde nach zusätzliche Vergütungsansprüche erworben, von denen die Versicherte freizustellen war (§ 37 Abs 4 SGB V) und die mangels förmlicher Entscheidung über die bei ihr eingereichten ärztlichen Verordnungen nach Maßgabe der Vertrauensschutzregelung des § 6 Abs 6 Satz 1 HKP-RL iVm einem (noch zu schließenden) Vertrag nach § 132a SGB V von der Klägerin zu übernehmen sind (dazu vgl BSG vom 20.4.2016 ‑ B 3 KR 17/15 R – BSGE 121, 119 = SozR 4-2500 § 37 Nr 14, RdNr 14 ff, 22 ff).
Zu Recht hat deshalb die Beklagte von der Klägerin zunächst die Aufnahme von Verhandlungen über eine die Höhe ihres Vergütungsanspruchs regelnde Vereinbarung nach § 132a Abs 2 SGB V verlangt und nach deren Scheitern die Einleitung des Schiedsverfahrens betrieben. Dass sich dieses Interesse nicht auf alle nach § 132a Abs 2 SGB V grundsätzlich vorgegebenen Vertragsbestandteile richtete, steht dem hier nicht entgegen. Grundsätzlich allerdings zielt das Regelungsmodell des § 132a SGB V auf die Begründung dauerhafter Rechtsbeziehungen und demgemäß auf den (vorherigen) Abschluss von Verträgen mit allen in § 132a SGB V insoweit vorgesehenen Regelungsbestandteilen. Erbringt ein mit einer Krankenkasse vertraglich nach § 132a SGB V nicht verbundener und nicht ersichtlich ungeeigneter Leistungserbringer ärztlich verordnete, der Krankenkasse im Verfahren nach der HKP-RL rechtzeitig zur Genehmigung vorgelegte und vergütungsfähige Leistungen der häuslichen Krankenpflege - wie nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen hier - und erwirbt dadurch im Wege des Vertrauensschutzes einen entsprechenden Vergütungsanspruch dem Grunde nach, darf die Krankenkasse den Abschluss einer nur die Parameter der Vergütung betreffenden Vereinbarung nicht verweigern, soweit nicht damit zu rechnen ist, dass der Leistungserbringer alsbald weitere Versicherte versorgen und entsprechende Vergütungsansprüche geltend machen wird; verlangen, für jeden Versorgungsfall gesonderte Verträge nach § 132a SGB V zu schließen, kann ein Leistungserbringer nicht. Liegt es dagegen - wie nach dem übereinstimmenden Vorbringen hier - nicht so, hat der Leistungserbringer vielmehr zum Ausgleich des durch § 132a Abs 2 SGB V bewirkten Eingriffs in seine verfassungsrechtlich geschützte Preisbildungsfreiheit einen korrespondierenden und in seiner kompensatorischen Wirkung ebenfalls durch Art 12 Abs 1 GG geschützten verfahrensrechtlichen Anspruch auf Abschluss einer allein die preisbestimmenden Parameter seiner Vergütung regelnden Vereinbarung nach § 132a SGB V, weil anders sein in der Vergangenheit dem Grunde nach entstandener Vergütungsanspruch nicht durchsetzbar ist (vgl zur prozessualen Seite BSG vom 29.6.2017 - B 3 KR 31/15 R - BSGE 123, 254 = SozR 4-2500 § 132a Nr 11, RdNr 24 ff).
In diesem Gefüge steht der Wirksamkeit des Schiedsspruchs nicht entgegen, dass die Schiedsperson über die preisbestimmenden Elemente hinaus den ihrer Überzeugung nach von der Klägerin für die Versorgung der Versicherten zu entrichtenden Gesamtbetrag festgesetzt hat. Dazu ermächtigt die Kompetenz nach § 132a SGB V zwar nicht. Vielmehr ist die Schiedsperson zur zwangsweisen Festsetzung nur derjenigen Versorgungs- und Vergütungsmodalitäten berechtigt, die die Vertragspartner als zur Abwicklung zukünftiger Versorgung erforderliche Verständigung über "die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege, über die Preise und deren Abrechnung und die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Fortbildung" ansehen dürfen. Darunter fällt die Bestimmung der Vergütung einzelner in der Vergangenheit bereits abgewickelter Leistungsvorgänge schon deshalb nicht, weil im Streitfall die (staatlichen) Gerichte und nicht eine Schiedsperson nach § 132a SGB V darüber zu entscheiden haben, ob und ggfs in welcher Höhe eine von einem Leistungserbringer in der Vergangenheit erbrachte Leistung nach Maßgabe der rechtlichen Vorgaben vergütungsfähig ist oder nicht. Das berührt die Wirksamkeit des Schiedsspruchs indessen nicht, weil er mit der Bestimmung der in den Gesamtzahlbetrag eingegangenen maßgebenden preisbildenden Faktoren den verfahrensrechtlichen Anspruch der Beklagten auf eine "zügige Preisfestlegung im Streitfall" (vgl BSG vom 29.6.2017 - B 3 KR 31/15 R - BSGE 123, 254 = SozR 4-2500 § 132a Nr 11, RdNr 47) einlöst und auch damit Bestand hat. Insoweit gebietet der verfahrensrechtliche Anspruch der Beklagten auf Durchführung eines Schiedsverfahrens als Voraussetzung für die Durchsetzung des dem Grunde nach bestehenden Vergütungsanspruchs, die Geltung des Schiedsspruchs ungeachtet des überschießenden Teils auf die nach § 132a Abs 2 SGB V zulässige Bestimmung zu reduzieren, das sind hier die maßgebenden preisbildenden Faktoren einerseits des Zeitaufwands für die zusätzliche Versorgung Rund-um-die-Uhr beatmungspflichtiger Pflegebedürftiger und andererseits des Stundensatzes.
Dass der Schiedsspruch zu Lasten der Klägerin unbillig wäre, ist ebenfalls nicht zu erkennen. Wie der Senat bereits entschieden hat, sind auf Einzelverträge zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern zur Vergütung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege die Grundsätze für die Vergütung von Pflegeeinrichtungen zu übertragen, die er aus den entsprechenden Vergütungsbestimmungen des SGB XI abgeleitet hat (BSG vom 23.6.2016 - B 3 KR 26/15 R - BSGE 121, 243 = SozR 4-2500 § 132a Nr 10, RdNr 40). Im Rahmen der in diesem Aushandlungsprozess bestehenden Darlegungslasten obliegt es demgemäß der jeweiligen Krankenkasse, substantiiert auf Unschlüssigkeiten im Vorbringen der Einrichtung hinzuweisen oder durch geeignete Unterlagen anderer Einrichtungen mit Verweis auf deren Kostenstruktur konkret darzulegen, dass die geltend gemachten Gestehungskosten nicht plausibel und/oder im Kostenvergleich mit vergleichbaren Einrichtungen nicht gerechtfertigt erscheinen (vgl grundlegend BSG vom 29.1.2009 - B 3 P 7/08 R - BSGE 102, 227 = SozR 4-3300 § 85 Nr 1, RdNr 39 f). Dass die Schiedsperson solches Vorbringen der Klägerin in einer grundsätzliche verfahrensrechtliche Garantien verletzenden oder von ihrem Beurteilungsspielraum nicht gedeckten Weise (zu den Maßstäben insoweit nur letztens BSG vom 23.6.2016 - B 3 KR 26/15 R - BSGE 121, 243 = SozR 4-2500 § 132a Nr 10, RdNr 31 f) übergangen haben könnte, vermag der Senat nicht zu erkennen.
Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, in Pflegeeinrichtungen lebenden Versicherten mit einem besonders hohen Bedarf an medizinischer Behandlungspflege einen eigenständigen krankenversicherungsrechtlichen Anspruch auf Beteiligung an den Behandlungspflegekosten einzuräumen, schließt regelmäßig den Einwand einer Krankenkasse aus, solche Kosten würden in der jeweiligen Einrichtung voraussichtlich überhaupt nicht entstehen oder - wie ausnahmsweise in der Rückschau hier - hätten nicht entstehen können. Im Rahmen ihrer Darlegungsobliegenheiten muss die Krankenkasse vielmehr bereits im Schiedsverfahren unter Verweis auf die von der Einrichtung vorgelegten Unterlagen einerseits und den Zeitaufwand und die Vergütung in vergleichbaren weiteren Einrichtungen andererseits substantiiert aufzeigen, in welcher Höhe ihrer Auffassung nach ein Zusatzaufwand nur entstehen kann bzw konnte. Hinweise darauf, dass die Schiedsperson solchen Vortrag rechtsfehlerhaft übergangen haben könnte, sind dem Vortrag der Klägerin im Klageverfahren nicht zu entnehmen. Soweit sie bis zuletzt auf ihr Bestreben hingewiesen hat, dass die Beklagte eine eigenständige Beatmungsstation mit dauerhaft vorzuhaltenden Plätzen einrichtet, steht das dem streitbefangenen Vergütungsanspruch aus Rechtsgründen nicht entgegen.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 28/22.