Verhandlung B 4 AS 60/21 R
Grundsicherung für Arbeitsuchende - vorrangige Sozialleistung - Beantragung vorgezogene Altersrente für langjährig Versicherte - unbillige Härte - Bundesfreiwilligendienst
Verhandlungstermin
22.09.2022 13:30 Uhr
Terminvorschau
S.B. ./. Jobcenter Barnim
Die 1952 geborene, alleinstehende Klägerin bezog 2016 von dem Beklagten Arbeitslosengeld II. In der Zeit vom 1.3.2016 bis zum 28.2.2017 leistete sie für ein monatliches Taschengeld iHv 200 Euro einen Bundesfreiwilligendienst (BFD) im Umfang von 21,5 Stunden in der Woche; hierfür wurden von der Einsatzstelle Sozialversicherungsbeiträge abgeführt. Weil die Klägerin seinerzeit bereits die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen einer vorgezogenen Altersrente für langjährig Versicherte erfüllte, hatte der Beklagte sie im Februar 2016 aufgefordert, bei dem für sie zuständigen Rentenversicherungsträger eine "geminderte Altersrente" zu beantragen. Nach Ablauf der dafür gesetzten Frist stellte der Beklagte den Rentenantrag für die Klägerin selbst und meldete einen Erstattungsanspruch an.
Widerspruch, Klage und Berufung gegen die Aufforderung, eine vorzeitige Altersrente zu beantragen, sind ohne Erfolg geblieben. Durch die Inanspruchnahme dieser vorrangigen Sozialleistung könne die Klägerin ihre Hilfebedürftigkeit nach dem SGB II vermeiden. Dies sei auch nicht unbillig, weil weder ein Arbeitslosengeldanspruch bestanden noch das Erreichen der Regelaltersgrenze bevorgestanden habe. Die Klägerin sei auch nicht erwerbstätig gewesen; das ihr im BFD gezahlte Taschengeld sei nicht als Erwerbseinkommen anzusehen und habe die Geringfügigkeitsgrenze deutlich unterschritten. Schließlich handele es sich nicht um einen atypischen Fall, sodass der Beklagte keinen Ermessensspielraum gehabt habe, von der Aufforderung abzusehen.
Mit ihrer vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung von § 5 und § 12a SGB II iVm § 4 der Unbilligkeitsverordnung sowie von Art 14 Abs 1 GG. Sie macht geltend, ihre Tätigkeit im BFD sei als sozialversicherungspflichtige Beschäftigung anzusehen und habe den überwiegenden Teil ihrer Arbeitskraft in Anspruch genommen. Zumindest sei der Beklagte verpflichtet gewesen, Ermessen auszuüben und dabei zu berücksichtigen, dass sie von der Versicherungspflicht des BFD nicht mehr profitieren könne, wenn der vom Beklagten im Februar 2016 gestellte Rentenantrag wirksam sei.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Frankfurt/Oder - S 33 AS 774/16, 24.05.2018
Landessozialgericht Berlin-Brandenburg - L 25 AS 590/20 WA, 06.08.2021
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 34/22.
Terminbericht
Der Senat hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Der angefochtene Bescheid ist rechtmäßig; die Aufforderung der Klägerin zur Rentenantragstellung ist insbesondere nicht als unbillig anzusehen. Eine Unbilligkeit ergibt sich nicht aus § 2 UnbilligkeitsV, denn die Rentenantragstellung würde nicht zum Verlust eines Anspruchs auf Arbeitslosengeld führen. Der Klägerin stand 2016 kein Arbeitslosengeldanspruch zu und der bloße Erwerb einer dementsprechenden Anwartschaft (hier aufgrund der Aufnahme des BFD zum 1.3.2016) unterfällt nicht dem Schutz der Ausnahmevorschrift. Die Klägerin wäre auch nicht in nächster Zukunft berechtigt gewesen, die Altersrente abschlagsfrei in Anspruch zu nehmen, wie es § 3 UnbilligkeitsV voraussetzt, sondern erst mehr als ein Jahr später.
Für den Ausnahmetatbestand des § 4 Satz 1 UnbilligkeitsV - sozialversicherungspflichtige Beschäftigung oder aus sonstiger Erwerbstätigkeit entsprechend hohes Einkommen - fehlt es schon an der Voraussetzung einer Erwerbstätigkeit. Freiwillige im BFD leisten ihren Dienst ohne Erwerbsabsicht. Dieser ähnelt eher einem Ehrenamt. Zudem setzt § 4 Satz 1 UnbilligkeitsV einen Mindestverdienst voraus, den die Klägerin nicht erzielt hat. Die Vorschrift knüpft an die Geringfügigkeitsgrenze des § 8 Abs 1 Nr 1 SGB IV an. Statt durch Altersrente soll dem Nachrang der Grundsicherung für Arbeitsuchende durch die Berücksichtigung monatlicher Einkünfte, die 450 Euro übersteigen, Rechnung getragen werden. Es liegen schließlich keine außergewöhnlichen Umstände vor, die sich wegen ihres Ausnahmecharakters einer generellen Erfassung als Unbilligkeitstatbestände durch den Verordnungsgeber entziehen. Ein Absehen von der Aufforderung war daher auch im Ermessenswege nicht veranlasst.
Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 34/22.