Verhandlung B 2 U 6/22 R
Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau - Sozialwahl 2017 - Unfallversicherung - Vertreterversammlung - Gültigkeit
Verhandlungstermin
13.10.2022 12:00 Uhr
Terminvorschau
H.E. ./. SVLFG
Die Beteiligten streiten auch hier darüber, ob die Sozialwahl 2017 zur Vertreterversammlung der Beklagten in der Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte fehlerhaft ausschließlich im Zweig der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt wurde und wiederholt werden muss.
Der Kläger war Eigentümer land- und forstwirtschaftlicher Flächen und als Selbständiger ohne fremde Arbeitskräfte bei der Beklagten versichert. Er reichte als Listenvertreter die "Freie Liste E., H., Sch., B., M." zur Sozialwahl 2017 in der Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte ein. Anders als der Wahlausschuss ließ der Bundeswahlausschuss die Vorschlagsliste zu. Bei der Wahl in der Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte erhielt die Liste ein Mandat.
Anders als das SG hat das LSG festgestellt, dass die im Jahr 2017 in der Gruppe der Selbständigen ohne fremde Arbeitskräfte durchgeführte Wahl zur Vertreterversammlung der Beklagten ungültig ist und wiederholt werden muss. Zur Begründung hat es ua ausgeführt, mit der auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung beschränkten Durchführung der Wahl liege ein mandatsrelevanter Wahlfehler vor. Durch die fehlende Durchführung in den anderen Zweigen der landwirtschaftlichen Sozialversicherung seien die dort versicherten Alters- und Erwerbsminderungsrentner von ihrem aktiven und passiven Wahlrecht ausgeschlossen worden. Zwar seien ursprünglich die Vertreterversammlungen der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften zugleich die Vertreterversammlungen der anderen Zweige der landwirtschaftlichen Sozialversicherung gewesen (sog Organleihe), so dass die Sozialwahlen in der Vergangenheit lediglich in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt worden seien. Mit der Neuorganisation eines bundeseinheitlichen Sozialversicherungsträgers für alle vier Zweige der landwirtschaftlichen Unfall-, Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung zum 1.1.2013 finde eine Beschränkung des Wahlrechts auf die landwirtschaftliche Unfallversicherung im Gesetz aber keine Stütze mehr. Der Fehler wiege schwer und sei mandatsrelevant.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV. Die Sozialwahl sei auch bei den Wahlen 2017 allein im Zweig der gesetzlichen Unfallversicherung durchzuführen gewesen. Der Gesetzgeber habe das Wahlrecht weder mit der Neuorganisation der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zum 1.1.2013 noch späterhin geändert.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Kassel - S 11 R 246/17, 09.08.2018
Hessisches Landessozialgericht - L 9 U 173/18, 28.01.2022
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Terminbericht
Die Revision der Beklagten war auch hier erfolgreich. Die Wahlanfechtungsklage ist unbegründet. Die Sozialwahlen zur Vertreterversammlung in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung im Jahr 2017 in der Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte ist frei von Wahlfehlern nur in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung durchgeführt worden.
Die Vertreterversammlung der Sozialversicherung für Landwirtschaft, Forsten und Gartenbau setzt sich zusammen zu je einem Drittel aus Vertretern der versicherten Arbeitnehmer, der Arbeitgeber und der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte (sog Drittelparität). Diese Versicherten wählen die Vertreter ihrer Gruppen in die Vertreterversammlung getrennt auf Grund von Vorschlagslisten. Zur Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte zählen neben den versicherten Selbstständigen und ihren Ehegatten die Rentenbezieher, die dem vorgenannten Personenkreis unmittelbar vor dem Ausscheiden aus der “versicherten Tätigkeit“ angehört haben (§ 47 Abs 3 Nr 2 SGB IV). In Betracht kommen wegen der Bezugnahme auf die in § 8 Abs 1 Satz 1 SGB VII legal definierte “versicherte Tätigkeit“ allein Bezieher einer Rente aus eigener Versicherung (§ 47 Abs 5 SGB IV) in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Die Fusionierung der landwirtschaftlichen Sozialversicherung zu einem bundeseinheitlichen Verbundträger zum 1.1.2013 hat zwar die Organleihe der landwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften an die landwirtschaftlichen Alters- und Krankenkassen (§ 32 SGB IV aF) obsolet werden lassen, nicht aber den Sachgrund für die Beschränkung auf Wahlen in der landwirtschaftlichen Unfallversicherung. Die Beschränkung auf in der Landwirtschaft aktiv Erwerbstätige dient unverändert dem Ziel, die Partizipation der sachnah Betroffenen in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung als einer im Kern geschlossenen berufsständischen Solidargemeinschaft sicherzustellen. Diese schließt bei typisierender Betrachtung die Verletztenrentner mit ein, während die Alters- und Erwerbsminderungsrentner typischerweise ihre Erwerbsbiographien beendet haben.
Der Senat hält die Beschränkung der Wahl auf den Zweig der landwirtschaftlichen Unfallversicherung und den damit einhergehenden Ausschluss der Alters- und Erwerbminderungsrentner von der Wahl nicht für verfassungswidrig. Der Ausschluss ist an dem für Wahlen zur Selbstverwaltung heranzuziehenden Prüfmaßstab der Wahlgleichheit im Arbeits- und Sozialwesen zu messen (Art 3 Abs 1 GG). Danach sind Einschränkungen der Wahlgleichheit möglich, soweit diese durch die spezifischen Sachaufgaben der Sozialversicherungsträger geboten sind. Denn trotz autonomer Selbstverwaltung besteht die Hauptaufgabe der Sozialversicherungsträger in dem Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung (BVerfGE 39, 302). Die auf die Gruppe der Selbstständigen ohne fremde Arbeitskräfte erweiterte Gruppenwahl in der landwirtschaftlichen Sozialversicherung ist indes dem Umstand geschuldet, dass den spezifisch berufsständischen Interessen der Solo-Selbstständigen unter den Landwirten Rechnung getragen werden soll. Damit ist eine Zusammensetzung der Vertreterversammlung nicht vereinbar, in der sich die besondere Wirtschaftsstruktur in der Landwirtschaft nicht mehr widerspiegelt, wenn zusätzlich sachfernen Personengruppen ein Wahlrecht zur Vertreterversammlung eingeräumt wird. Angesichts der ausgeprägten Verrechtlichung der Selbstverwaltung und der staatlichen Aufsicht (§ 87 SGB IV) einerseits sowie dem Bestandschutz der Renten auch nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (<ALG>, BVerfGE 149, 86) und der Garantie der Leistungsfähigkeit dieses Alterssicherungssystems durch den Bund (§ 78 ALG) andererseits ist dem Ausschluss des Wahlrechts kein besonders starkes Gewicht beizumessen. Alters- und Erwerbsminderungsrentnern ist es (nach Abschaffung der Hofabgabeklausel sogar ohne Flächenlimitierung) unbenommen, durch den Rückbehalt von Flächen die Unfallversicherungspflicht aufrechtzuerhalten und auf diese Weise losgelöst vom Rentenalter als Erwerbstätige wahlberechtigt zu bleiben (§ 2 Abs 1 Nr 5a SGB VII). Angesichts der überwiegend steuerfinanzierten Teilrenten der landwirtschaftlichen Alterssicherung (Lagebericht der BReg 2017: 79%, 2021: 81 %) sieht der Senat auch keine Notwendigkeit zu einer Gleichstellung mit den Vollrentnern der allgemeinen Rentenversicherung (§ 47 Abs 1 Nr 3 SGB IV).
Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 37/22.