Verhandlung B 3 KR 15/20 R
Krankenversicherung - häusliche Krankenpflege - Arbeitgebermodell - stationärer Krankenhausaufenthalt
Verhandlungstermin
10.11.2022 12:45 Uhr
Terminvorschau
S. M. ./. BARMER
Im Streit stehen die Kosten einer vom Kläger im sogenannten Arbeitgebermodell organisierten häuslichen Krankenpflege während eines stationären Krankenhausaufenthalts im Mai und Juni 2013.
Der 1965 geborene, bei der Beklagten krankenversicherte Kläger leidet seit 2008 unter amyotropher Lateralsklerose (ALS). Er kann sich weder bewegen noch sprechen, liegt in einem Krankenpflegebett und kommuniziert mittels eines Augencomputers unter Einsatz einer ABC-Tafel. Die erforderliche 24-Stunden-Betreuung organisiert er seit November 2012 in Absprache mit der Beklagten im sogenannten Arbeitgebermodell selbst. Im Mai und Juni 2013 waren demgemäß fünf Assistenzkräfte bei ihm angestellt, deren Kosten in Höhe von 28,50 Euro/Stunde für 20,2 Stunden häusliche Krankenpflege am Tag von der Beklagten grundsätzlich zu erstatten waren.
Vom 11.5. bis 24.6.2013 war der Kläger nach einem Atemnotstand vollstationär in einem Krankenhaus aufgenommen. Seine angestellten Assistenzkräfte betreuten ihn währenddessen zunächst in geringem Umfang - insbesondere für die Dauer eines künstlichen Komas - und übernahmen ab 7.6.2013 seine 24-Stunden-Betreuung vollständig. Die Erstattung der während der Krankenhausbehandlung angefallenen Assistenzpflegekosten lehnte die Beklagte ab. In der gesetzlichen Krankenversicherung seien die Kosten einer häuslichen Krankenpflege auch beim Arbeitgebermodell während eines Krankenhausaufenthalts nicht erstattungsfähig.
Das SG hat die Beklagte - nachdem der Kläger im einstweiligen Rechtsschutzverfahren obsiegt hatte - unter Aufhebung der angefochtenen Bescheide verurteilt, die Kosten für die Assistenzpflege vom 11.5. bis 24.6.2013 in Höhe von 20 285,86 Euro endgültig zu übernehmen. Das LSG hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen: Der Gesetzgeber habe mit dem Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs im Krankenhaus vom 30.7.2009 eine unbeabsichtigte Regelungslücke hinsichtlich der Personengruppe geschaffen, die Leistungen der häuslichen Krankenpflege nach § 37 SGB V erhalte. Sie werde durch § 11 Abs 3 SGB V ungleich gegenüber der Personengruppe behandelt, die ihre Pflege im Arbeitgebermodell nach dem SGB XII organisiert habe. Zudem ergebe sich der Anspruch unmittelbar aus § 37 Abs 4 SGB V, denn die Krankenkasse habe bei einem einvernehmlich mit ihr durchgeführten Arbeitgebermodell auch unvermeidliche Lohnansprüche während eines Krankenhausaufenthalts zu erstatten.
Mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 11 Abs 3 und § 37 Abs 2 und 4 SGB V sowie von § 30 Abs 1 SGB IV und § 31 SGB I. Ein Sachleistungsanspruch auf häusliche Krankenpflege bestehe während eines Krankenhausaufenthalts nicht, weshalb auch ein entsprechender Kostenerstattungsanspruch ausscheide. Anderes habe der Gesetzgeber weder in § 11 Abs 3 SGB V noch andernorts geregelt. Eine analoge Anwendung von Regelungen nach dem SGB XII auf angestellte Assistenzkräfte für häusliche Krankenpflege sei nicht überzeugend; es fehle an einer planwidrigen Regelungslücke, nachdem diese Konstellation Gegenstand der Erörterungen im Gesetzgebungsverfahren gewesen sei, aber nicht zu einer entsprechenden Gesetzesänderung geführt habe.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Kiel - S 3 KR 98/14, 13.05.2016
Schleswig-Holsteinisches Landessozialgericht - L 5 KR 140/16, 22.08.2019
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 41/22.
Terminbericht
Die Revision der Beklagten war unbegründet. Zutreffend haben die Vorinstanzen entschieden, dass die Beklagte für die streitbefangenen Kosten der vom Kläger zulässig im Arbeitgebermodell organisierten häuslichen Krankenpflege auch für die Zeit seines Krankenhausaufenthalts aufzukommen hat.
Nach § 37 Abs 4 SGB V haben Versicherte Anspruch auf Erstattung der Kosten für eine selbstbeschaffte häusliche Krankenpflege in angemessener Höhe, wenn die Krankenkasse eine Kraft nicht selbst stellen kann oder Grund besteht, davon abzusehen. Grundsätzlich sind Versicherte dabei auf die Inanspruchnahme von Pflegediensten beschränkt, die mit der Krankenkasse Verträge nach § 132a Abs 4 SGB V über die Einzelheiten der Versorgung mit häuslicher Krankenpflege, über die Preise und deren Abrechnung und die Verpflichtung der Leistungserbringer zur Fortbildung geschlossen haben (vgl letztens dazu BSG vom 14.7.2022 - B 1 KR 1/22 R - RdNr 11 ff und - B 1 KR 2/22 R - RdNr 13 ff). Das schließt die Organisation der häuslichen Krankenpflege durch die Versicherten mit von ihnen selbst beschäftigten besonderen Pflegekräften (Arbeitgebermodell) jedoch jedenfalls dann nicht aus, wenn die im Einzelfall erforderliche häusliche Krankenpflege anders nicht sicherzustellen ist.
Dass das im SGB V im Unterschied zum SGB XII und zum SGB XIV nicht ausdrücklich verankert ist, steht dem nicht entgegen. Daraus ist nicht abzuleiten, dass in der gesetzlichen Krankenversicherung jedwede im Arbeitgebermodell organisierte häusliche Krankenpflege generell ausgeschlossen ist. Soweit die Krankenkassen nach § 11 Abs 3 Satz 1 Alt--Alternative 2 SGB V bei stationärer Behandlung in einem Krankenhaus ua auch für die Kosten der Mitaufnahme von Pflegekräften aufzukommen haben, die von Versicherten zur Sicherstellung ihrer Pflege nach § 63b Abs 6 Satz 1 SGB XII beschäftigt werden, ist der Bedarf nach solcher Versorgung vielmehr auch für die gesetzliche Krankenversicherung anerkannt. Die Regelung soll Versicherten die Mitaufnahme von von ihnen selbst beschäftigten besonderen Pflegekräfte ins Krankenhaus ermöglichen, soweit behinderungsbedingt - insbesondere schwerster Art - während einer stationären Krankenhausversorgung eine besondere pflegerische und persönliche Betreuung/Hilfe/Assistenz notwendig ist, die über die Krankenpflege bei stationärer Versorgung hinausgeht (vgl BT-Drucks 16/12855 S 6). Ist damit auch im Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung in Einzelfällen ein besonderer behinderungsbedingter Betreuungsbedarf schon bei stationärer Versorgung anerkannt, muss das für vergleichbare Bedarfslagen bei ambulanter Krankenpflege ebenso gelten. Soweit der Gesetzgeber hierfür anders als im SGB XII mit dessen § 63b Abs 6 Satz 1 und künftig in § 76 Abs 1 Satz 1 SGB XIV für die ambulante häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V besondere Regelungen nicht begründet hat, kann das in diesem Regelungsgefüge deshalb nicht so verstanden werden, dass die (Selbst-)Organisation der häuslichen Krankenpflege im Arbeitgebermodell im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung generell ausgeschlossen ist. Vielmehr muss in der Gesamtschau auch ohne ausdrückliche Regelung davon ausgegangen werden, dass die Erstattungsregelung des § 37 Abs 4 SGB V abweichend von der Grundnorm des § 132a Abs 4 SGB V in Ausnahmefällen auch die Kosten für die von einem Versicherten im Arbeitgebermodell selbst beschäftigten besonderen Pflegekräfte in angemessener Höhe umfasst, sofern hierfür ein entsprechender Bedarf besteht und zwischen den Beteiligten - anstelle der Vereinbarung nach § 132a Abs 4 SGB V - hierüber Einvernehmen erzielt worden ist; davon ist zutreffend auch die Beklagte ausgegangen.
Kann die häusliche Krankenpflege anders als durch die von einem Versicherten im Arbeitgebermodell selbst beschäftigten besonderen Pflegekräfte nicht bedarfsdeckend organisiert werden - wovon nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG im Fall hier auszugehen ist -, hat die Krankenkasse alle nach Lage des Einzelfalls auch während eines Krankenhausaufenthalts zur Aufrechterhaltung der häuslichen Krankenpflege erforderlichen Kosten in angemessener Höhe zu tragen. Mit der Organisation der häuslichen Krankenpflege im Arbeitgebermodell verliert die Krankenkasse nicht die Verantwortung für deren Erbringung. Auch wenn die häusliche Krankenpflege abweichend von dem Grundsatz des § 2 Abs 2 Satz 1 SGB V nicht als Sachleistung abgegeben wird, macht schon § 37 Abs 4 SGB V mit dem Regel-Ausnahme-Verhältnis („Kann die Krankenkasse keine Kraft für die häusliche Krankenpflege stellen oder besteht Grund, davon abzusehen, sind den Versicherten die Kosten für eine selbstbeschaffte Kraft in angemessener Höhe zu erstatten.“) deutlich, dass die Krankenkassen für die ausreichende Versorgung mit häuslicher Krankenpflege auch dann verantwortlich bleiben, wenn die Versicherten sich diese selbst beschaffen. Das belegen auch die umfangreichen Vorgaben für die Erbringung der häuslichen Krankenpflege in leistungserbringungsrechtlicher Hinsicht nach § 132a SGB V.
Zu den von den Krankenkassen bei einer im Arbeitgebermodell organisierten häuslichen Krankenpflege zu erstattenden Kosten rechnen deshalb zunächst - angelehnt an den Rechts-gedanken des § 63b Abs 4 SGB XII und künftig auch des § 76 Abs 2 SGB XIV - jedenfalls die Aufwendungen, die Versicherte vertretbar zu tragen haben, um nach der Rückkehr aus dem Krankenhaus ihre ambulante Krankenpflege aufrechterhalten zu können, wenn diese anders als im Arbeitgebermodell nicht sicherzustellen ist; liegt das so, hat die Krankenkasse die Kosten der im Arbeitgebermodell organisierten Krankenpflege auch dann zu tragen, wenn ein Versicherter davon wegen einer im Krankenhaus erforderlichen Akutversorgung vorübergehend keinen (unmittelbaren) Nutzen haben sollte (vgl insoweit näher zu § 63b Abs 4 Satz 1 SGB XII Meßling in jurisPK-SGB XII, 3. Aufl, § 63b SGB XII RdNr 49 ff, Stand 25.1.2021).
Reicht allerdings der Krankenpflegebedarf des Versicherten behinderungsbedingt nach Art und Umfang - wie in § 11 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB V vorausgesetzt - über die für die stationäre Behandlung einer Krankheit erforderliche Krankenpflege hinaus, kann hinsichtlich dieses zusätzlichen Krankenpflegebedarfs abweichend von der Abgrenzung sonst auch ein Krankenhaus ein geeigneter Ort für die Erbringung von Leistungen der häuslichen Krankenpflege als Behandlungspflege nach § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V sein. Auch wenn § 11 Abs 3 Satz 1 Alt 2 SGB V seinem unmittelbaren Regelungsgegenstand nach nur die Kosten für die Mitaufnahme einer Pflegekraft betrifft, ist damit zugleich anerkannt, dass in einer besonderen Krankenpflegesituation - die sich der Sache nach als außerklinische Intensivpflege darstellt (vgl nunmehr § 37c SGB V) - behinderungsbedingt ein zusätzlicher Krankenpflegebedarf besteht, der die Einbeziehung von weiterem Pflegepersonal erfordern und die Übernahme der im Arbeitgebermodell anfallenden Kosten auch während eines vorübergehenden Aufenthalts in einem Krankenhaus rechtfertigen kann (vgl § 63b Abs 4 Satz 1 SGB XII). Hieran hat sich auch das Verständnis des - vom Gesetzgeber bewusst als unbestimmter Rechtsbegriff gefassten - Tatbestandsmerkmals des geeigneten Orts im Sinne von § 37 Abs 2 Satz 1 SGB V auszurichten, ohne dass es insoweit des Rückgriffs auf Art 3 Abs 1 GG bedürfte.
Dass dem Kläger hieran gemessen im einstweiligen Rechtsschutzverfahren vorläufig ein höherer Betrag als der nach § 37 Abs 4 SGB V zu beanspruchende zugesprochen worden ist, vermag der Senat nicht zu erkennen. Dafür geben die Feststellungen der Vorinstanzen nach ihrem Gesamtzusammenhang keinen Anhalt. Offen bleiben kann deshalb, inwiefern eine Krankenkasse unter Berücksichtigung ihrer allgemeinen Unterstützungspflichten im Rahmen des Versorgungsmanagements (vgl § 11 Abs 4 Satz 3 SGB V) und ihrer fortbestehenden Verantwortung für die im Einvernehmen mit ihr im Arbeitgebermodell organisierte häusliche Krankenpflege bereits während des Krankenhausaufenthalts eines Versicherten auf die Absenkung aus ihrer Sicht unangemessener Kosten hinzuwirken hat und wie sich ggfs das Risiko einer - bei objektiver Betrachtung im Nachhinein - unangemessen hohen Betreuung im Verhältnis zwischen Versicherten und Krankenkasse verteilt.
Die Berichte zu dem Verhandlungstermin des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 41/22.