Verhandlung B 2 U 17/20 R
Unfallversicherungsträger - Zuständigkeit - Unternehmensumgestaltung - Tierkörperbeseitigung / Tierkörperverwertung
Verhandlungstermin
08.12.2022 12:00 Uhr
Terminvorschau
S. GmbH ./. BG Rohstoffe und chemische Industrie, beigeladen: BG Verkehr
Die Klägerin betreibt ein Tierkörperbeseitigungsunternehmen mit neun Logistikstandorten und vier Beseitigungsanlagen. Die BG der chemischen Industrie nahm sie zum 1.1.1991 in ihr Unter-nehmerverzeichnis auf. Als deren Rechtsnachfolgerin ist die Beklagte ua für Unternehmen zuständig, die Tierkörper und tierische Abfälle verwerten, Stoffe aus tierischen Abfallprodukten extrahieren und besondere Abfälle in Anlagen entsorgen. Die Beigeladene ist zuständig für Unternehmen des gesamten straßengebundenen Verkehrsgewerbes mit seinen Einrichtungen, wozu in der Entsorgungswirtschaft ua die Abfall- und Reststoffbeförderung, die Müllabfuhr sowie die Verwertung von Alt-, Abfall- und Wertstoffen gehören.
1991 beschäftigte die Klägerin 130 Mitarbeiter und verwertete in erster Linie Tierkörper, die sie daneben auch mit eigener Logistik einsammelte. Daraus stellte sie mit 100 Produktionsmitarbeitern (77 % der Gesamtbelegschaft) gewinnbringend Tiermehl als Futtermittel für die Landwirtschaft her. Aufgrund der BSE-Krise (Rinderwahn) darf Tiermehl seit 1994 nicht an Wiederkäuer und ab 2001 auch mehr nicht an andere Nutztiere verfüttert werden. Seitdem verbrennt die Klägerin das Tiermehl in ihren vier Beseitigungsanlagen. Nur ausnahmsweise ist dies noch für die Biodieselproduktion verwendbar. Deshalb und aufgrund verschärfter seuchenhygienischer Regelungen wurde das professionelle Abholen, Sammeln und Befördern von Tierkörpern mit Spezialfahrzeugen bedeutsamer. Deshalb hat die Klägerin ihren Fuhrpark nach eigenen Angaben bis zum Jahr 2010 schrittweise auf 160 von insgesamt 306 Mitarbeitern erweitert.
Im Februar 2011 beantragte die Klägerin erfolglos die Überweisung ihres Unternehmens an die Beigeladene. Das SG hat die Klage trotz weiteren Anstiegs der Fuhrparkmitarbeiter auf 174 im Jahr 2016 (56 % der Gesamtbelegschaft und der Lohnsumme) abgewiesen. Das LSG hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Weder die Struktur noch das Gepräge des Unternehmens seien grundlegend und wesentlich umgestaltet worden. Das in erster Linie betriebene Geschäft der Tierkörperbeseitigung und -verwertung sei im Kern unverändert geblieben.
Mit der Revision rügt die Klägerin Verletzungen materiellen Rechts (§ 136 Abs 1 und 2 SGB VII, Art 2 Abs 1 GG und Art 56, 57 AEUV). Für eine grundlegende Umgestaltung innerhalb eines Gesamtunternehmens genüge eine Schwerpunktverlagerung der Geschäftstätigkeit, die nach Mitarbeiterzahl und Lohnsummen zu bemessen sei.
Vorinstanzen:
Sozialgericht Dortmund - S 18 U 886/12, 07.10.2016
Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen - L 4 U 751/16, 05.06.2020
Sämtliche Vorschauen zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in der Terminvorschau 47/22.
Terminbericht
Die Revision der Klägerin war erfolglos. Die ursprünglich richtig festgestellte Zuständigkeit hat sich nachträglich nicht wesentlich geändert.
Die Beklagte ist seit jeher für die Unternehmen der Tierkörperverwertung und -beseitigung und die Beigeladene für gewerbsmäßige Fuhrwerksbetriebe zuständig. Von der Verordnungsermächtigung zur Neuregelung der sachlichen Zuständigkeit hat das BMAS keinen Gebrauch gemacht. Die Sonderzuständigkeit der Beklagten für Betriebe der Tierkörperbeseitigungsbranche verdrängt die allgemeine Zuständigkeit der Beigeladenen für Unternehmen des gesamten straßengebundenen Verkehrsgewerbes. Zwar befördert die Klägerin mit ihrem Fuhrpark auch tierische Abfälle und Tierkörper. Diese muss sie aber im Verbund mit der Tierkörperbeseitigung anbieten (§ 3 Abs 3 Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetz), so dass die Entsorgungssparte prägend bleibt.
Es fehlt auch an einer grundlegenden Umgestaltung des Unternehmens (§ 136 Abs 2 Satz 2 SGB VII). Nur solche Betriebsveränderungen können zu einer Überweisung führen, die das Gepräge des Unternehmens (seine Struktur) grundlegend umgestaltet haben mit der Folge, dass das Unternehmen mit seiner Tätigkeit nicht mehr in die bisherige Gefahrengemeinschaft passt. Ein bloßes Überwiegen des neuen Schwerpunktes - wie hier - genügt nicht.
Die fortbestehende Pflichtmitgliedschaft bei der Beklagten und die strengen Überweisungsvorschriften greifen zwar in die allgemeine Handlungsfreiheit der Klägerin ein (Art 2 Abs 1 Halbsatz 1 GG) und können auch den freien Dienstleistungsverkehr beschränken (Art 56, 57 AEUV). Sie sind aber durch die mit der gesetzlichen Unfallversicherung angestrebte Haftungsbegrenzung und Pflichtenübertragung auf leistungsfähige Unfallversicherungsträger gerechtfertigt, mit denen das finanzielle Gleichgewicht dieses Zweigs der sozialen Sicherheit in Deutschland gewährleistet wird.
Sämtliche Berichte zu den Verhandlungsterminen des Senats an diesem Sitzungstag finden Sie auch in dem Terminbericht 47/22.